KD

3
Dez

3.12.2002

Warum blieben mir von meiner Kindheit nur so wenige, und so vage, wie hinter einer Glaswand, in dem sich etwas spiegelt, das auch nicht zusammen zu bringen ist, und die die Gestalten und Räume, die hinter ihr schemenhaft existieren, erst recht verunklart, liegende Erinnerungen? Ist es doch bedauerlich, und mehr als das: traurig – wenn man vom Heute aus das Kind, das gewesen zu sein man der Unwahrscheinlichkeit, die man dabei empfindet, wenn man daran denkt, nicht ganz abstreiten kann, nicht betrachten kann. Ich wüßte doch gern, wie ich ausgesehen und wie ich bestimmte Wörter und Sätze ausgesprochen hatte, und die wenigen Fotografien, dich ich von mir im Kindesalter, also von einem Alter unter zehn Jahren, denn nur diese Lebensjahre gehören in meiner Vorstellung zur „richtigen“ Kindheit, besitze, vermitteln mir überhaupt gar keine Einsicht in mein kindliches Benehmen und Wesen und Empfinden und Sehen und Denken; irgendetwas muß ich doch schon in solchem Alter gedacht haben, und warum bleiben uns solche Kindheitsgedanken nicht erhalten, mit Ausnahme freilich einiger weniger. Andere Leute mögen aber einen größeren Erinnerungsschatz aufbewahrt haben; Sätze, in denen sich ein paar Gedanken in außerordentlichen Situationen oder Plötzlichkeiten geformt hatten und die schließlich in den Jahren des Älterwerdens sich nicht hatten von den Myriaden von Gedanken, von denen die überwältigende Mehrzahl sowieso nichts taugte (ich spreche nur von mir), die seither durch das Hirn schwebten, überlagern lassen. Aber auch diese prägnanten, vielleicht sogar prägenden Gedanken stehen mir zumindest gar keine zur Verfügung, jedenfalls nicht so unmittelbar abrufbar, und wenn sie das nicht sind, dann gehören sie vermutlich nicht zu dieser besseren Sorte von Gehirntätigkeit. Mir bleiben aus der Kindheit eher einige Bilder und Szenen, wie ich eine ja zu Beginn dieses Jahrs der Aufzeichnungen geschildert habe, vor dem inneren Auge. (Wieso schreibt man eigentlich nicht: Augen?) Und im Erinnerungsempfinden oder in den erinnerten Gefühlen, wobei en passant die Frage nach den Unterschieden zwischen Empfindung und Gefühl aufkommt, die man sich besser in Musils großem Buch annähernd beantworten läßt. Blieben also die visuellen Eindrücke besser als die sie doch wohl begleitenden und einordnenden Gedankenfetzen, -sätzen in meiner Innenwelt haften? So hängen die Gemälde der Alten Meister im Zwinger zu Dresden noch immer groß und prächtig in meinem Gedächtnisraum (auch ich hatte sie damals nur einmal, an einem Nachmittag in den frühen sechziger Jahren, betrachtet), aber das, was die Erläuterungen der Museumsführerin dazu an „Denkerischem“ in mir hervorgerufen hatten, ist mir gänzlich entflohen. Ich dachte – diese Möglichkeit sollte nicht ganz ausgeschlossen werden – wahrscheinlich gar nichts; oder nicht so viel, und von dem nichts, was der Aufbewahrung wert gewesen wäre? Aber das waren ja zwei Stunden einer, meiner, Zeit, die am Ende der eigentlichen Kindheit stattfanden und gehört demzufolge nicht mehr hierher. Eine Szene in den fünfziger Jahren ist sehr deutlich geblieben: meine Großmutter, meine Mutter und ich sitzen in einer Hochsommernacht am Küchentisch und meine Großmutter murmelt Gebete, während vor dem mit einer Gardine verdunkelten Fenster ein heftiges Unwetter donnert und blitzt und kracht und kaum enden will. Für mich war diese Naturentladung das Urgewitter, der Prototyp eines Gewitters gleichsam, meines Lebens, und sie hatte eine kräftige Impression in mein kindliches Gemüt geblitzt, und für Kinderjahre danach hatte ich immer ein etwas mulmiges Gefühl – oder „nur“ eine Empfindung? – , wenn diese sommerliche Erscheinung über die düstere Hemisphäre zuckte und – ein Phänomen, das mich faszinierte – zeitverzögert dann der Donner hin- und herrollte, von einer Ecke des Firmaments in die andere. So denkt und fühlt man sich in einem beginnenden Winter in glückliche Sommer zurück; die auch ihre Schatten hatten.
- Ein scheinbar immerwährendes Grau liegt auf diesen Tagen.
3.12.2002

2
Dez

2.12.2002

Aus der „Sternchen-Post“ Nr.143 vom 25.11.1983 entnehme ich das Filmprogramm der FTB Kutter, das für die erste Dezemberwoche galt:
„Under Fire“ von Roger Spottiswood gezeigt, im „Filmtheater“ lief der Disney-Klassiker „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, im „Stardust“ „Herkules“, in der „Sternchen“-Abendvorstellung um 20.15 Uhr „Ediths Tagebuch“ von Hans W. Geissendörfer nach einem Roman von Patricia Highsmith (am 2. Dezember in Anwesenheit des Regisseurs im „Urania“), in der 18.30 Uhr-Abendvorstellung und in der Spätvorstellung um 22.30 Uhr „Ach Egon!“ mit Heinz Erhardt. Am Samstag, 3.12., führte ich im „Urania“ ab 23 Uhr in der 10. Langen Kinonacht zunächst „MASH“ von Robert Altmann vor und nach der Pause, die gegen ein Uhr entstand, in der die Nachtfilmbesucher im Foyer Bier- und Limonadenflaschen leerten und rauchten (wurden nicht auch heiße Würstchen verkauft?), Ridley Scotts „Alien“ zum wiederholten Male, so wie auch Altmanns Film schon mehrere Aufführungen seit 1978, seit es das „Sternchen“ gab, gehabt hatte. Diese Filme zogen damals immer noch und wieder das zumeist junge Publikum in die Kinos. Die Kinowoche von Freitag, 2.12., bis Donnerstag, 8.12. 1983, lag in einer Periode meiner Vorführerzeit, in der ich ab nachmittags drei Vorstellungen im „Filmtheater“ absolvierte und anschließend noch im „Sternchen“ Dienst schob, im Kabuff während der Abspielzeit die „Zeit“ las oder die „Süddeutsche Zeitung“, denn den Nachtfilm, in dieser Woche war es der Erhardt-Film (eine kurzfristig aufgeflackerte Programmmode, wie ich im Berliner „Tip-Magazin“ sehen konnte, die auch in größeren Städten Zuschauer in die Cineastenkinos gehen ließ), hatte ich schon zwei- und dreimal angeguckt, und der Pointen müde verzog ich mich immer in den Vorführraum, in dem zu dieser Stunde die großen Bauer-Projektoren schwiegen und nur noch die „Phillips“-Maschine vor sich hinschnatterte und -ratterte, mit einem feineren, leiseren Geräusch als die großen Dinger. Ab und zu sah ich auf die Uhr; schließlich lief der Abspann des Films, ich stand neben dem Projektor und drückte den Knopf, der nach den letzten Titeln die Maschine abstellte. Alle drei oder vier Wochen, meistens einmal im Monat oder zu seinem Beginn, kam der Donnerstag – in späterer Zeit, als der Anfang der Kinowoche auf den Donnerstag vorgelegt wurde – , in dem, vor allem gegen Abend, die „Sternchen-Post“ vom Drucker angeliefert wurde; dann hieß es falten, falten, falten, und einposten ... Das taten die Kassiererin und die Platzanweiserin des „Filmtheaters“, mal diese Damen, mal jene, und ich und der Kinomann und oft auch seine junge Frau; standen zu viert oder fünft um einen Bistrotisch im Foyer herum und nahmen von den frisch gedruckten Exemplaren des vierseitigen Din-A-4-Programmblatts, falteten sie für die Briefumschläge zurecht, und zwei der Beteiligten kümmerten sich nur um das Einposten und Frankieren. Das dauerte eine halbe Stunde oder länger, die Kartons, in denen die versandfertigen Umschläge vom Kinobesitzer dann zur Post gefahren wurden, füllten sich; alles wurde in Eile erledigt, denn diese Post mußte noch am selben Abend in alle Himmelsrichtungen abgehen. Zwischendurch ging die Kassiererin ans Telefon und die Platzanweiserin in den Saal hinein, zur Kontrolle, ob dort alles in Ordnung sei oder sich jemand daneben benähme oder um die Lautstärke zu justieren, wenn der „Chef“ monierte, sie sei zu leise eingestellt. Er rügte das sehr oft. Ich konnte, ich mußte bei dieser kleinen Sträflingsarbeit mitfalten, weil ja die Filme automatisch durchliefen; diese Finger- und Handbewegungen spüre ich jetzt wieder, so muß ich den „Stabilo“-Stift aus den Fingern legen.
- Kein Sonnenstrahl drang durch die Wolkendecke.
2.12.2002

30
Nov

30.11.2002

In einer der ersten Nächte im Mai 1982 kam ich vom Kino in die Wohnung in der Hermann-Volz-Straße, betrat mein Zimmer (Kater Panama hatte mich im Flur oder in der Küche, wo seine Näpfe standen, schon lebhaft begrüßt), schaltete Licht ein, griff wahrscheinlich zur Rotweinflasche und goß mir in das Glas aus der Küche, in der ich bestimmt auch für kurze Minuten gewesen war, vielleicht hatte ich noch ein Hungergefühl gehabt, etwas vom roten Getränk ein, trank ein paar Schlucke, trat dann vor die neben meinem Zimmer zum Schlafzimmer meiner Mutter Zugang gebende Tür, öffnete leise – eine meiner Angewohnheiten war es seit langer Zeit, einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer zu werfen, sofern ich nachts in diese Wohnung kam – ob meine Mutter schlief oder wach liege und „grübelte“, was häufig so war. Oder ich bemerkte in meinem Zimmer, daß sie unruhig, aber langsam durch die Wohnung schritt, im Morgenmantel, weil sie nicht schlafen konnte und ihre Erinnerungen sie quälten. In jener Nacht leuchtete noch die Nachttischlampe neben ihrem Bett. Etwas am Schlaf meiner Mutter erschien mir eigenartig zu sein, ich trat näher heran und erkannte sofort, das etwas nicht in Ordnung war. Sie schlief sehr, sehr fest. Unnatürlich fest, denn als ich sie behutsam an der Schulter faßte und etwas bewegte und sie ansprach, rührte sie sich nicht. „Schlafen, ich will nur noch schlafen“, hatte sie schon früher in den siebziger Jahren öfters matt gesagt. Ihre ständige Erschöpfung war ein Symptom ihrer Depression, ihres tiefen Leidens an der Welt, an ihrer Lebenssituation, aus der auch ihr Gott sie nicht herauszuführen gedachte. Ich kann nicht beurteilen, wie es in den späten siebziger und beginnenden achtziger Jahren um ihren Gottesglauben stand. Wir sprachen schon lange nicht mehr über dieses Thema, nur in einem nächtlichen Wortwechsel, in ihrem und meinem in schmerzlicher Verzweiflung leisen Reden, eines Nachts am Ende des Novembers im Jahr 1983, kam es noch ein letztes Mal in unseren in jenen Jahren immer seltener geführten Gesprächen vor. Ich schöpfte in der Mainacht des Jahres 82 sofort Verdacht. Meine Mutter war nicht aufzuwecken. In Panik verließ ich die Wohnung, rannte zur Telefonzelle vorn an der Einmündung der Amriswilstraße in die dort zum Mittelberg verlaufende Querstraße; die dreihundert Meter oder mehr wurden mir lang, sehr lang; ich stürzte in die gelbe Zelle hinein, steckte – plötzlich ganz ruhig – die während des Rennens und raschen Gehens aus der Geldbörse hervorgeholten Münzen in den Schlitz, wählte die Notrufnummer der Polizei. Eine Stimme meldete sich, hastig sprach ich meinen Verdacht, daß meine Mutter eine Überdosis ihrer Schlaftabletten genommen habe, in die schwarze Halbkugel des klobigen Telefonapparathörers und bat, sofort den Notarztwagen zu schicken. Ich gab den Namen und die Adresse an. Rannte zurück. Zeit verstrich. Wann endlich kam das Arztauto?! Ich versuchte, meine tief, tief schlafende Mutter aufzuwecken; vergeblich. Der Notarzt kam, zwei Sanitäter trugen die Trage in die Wohnung. Zwei Polizisten folgten ihnen, standen etwas abseits im Flur. Kater Panama hatte ich in die Küche eingesperrt. Die Sanitäter trugen meine Mutter die Treppe hinab; wir wohnten ja im ersten Stock. Der Krankenwagen fuhr in gespenstiger Langsamkeit ab, ohne Blaulicht und Sirene, es war tiefe Nacht, gegen zwei Uhr. (Nicht einmal ein Telefon hatten wir in der Wohnung.) Die Polizisten nahmen zur Protokoll, was ich zu sagen hatte. Im Polizeiauto gelangte ich zum Krankenhaus, ich stieg aus, sie kehrten zu ihrer Dienststelle um. In einem Gang wartete ich, bis ein Arzt mir etwas sagte. Was sagte er? Wie kam ich wieder in die Wohnung auf dem Hühnerfeld? Mit dem Taxi? (Wie gut, wie ahnend, daß ich nicht in meiner Kinokammer unter dem Dach des „Urania“ geblieben war!) Ich war dann wieder in der Wohnung (ging ich zu Fuß zur Wohnung?), redete noch etwas zum Kater, trank Wein, legte mich, mit einem Mal sehr müde geworden, hin. Am nächsten Mittag, es war ein heller sonniger Tag, fuhr ich mit dem Bus zum Krankenhaus. Wartete auf den Arzt. Der kam, sagte, sie hätten meiner Mutter eben noch rechtzeitig den Magen ausgepumpt. Ob so etwas schon einmal vorgekommen sei? Ich verneinte. „Wir behalten sie erst einmal für zwei oder drei Tage hier, dann sollte man sich etwas überlegen.“ Ich wußte, was er meinte: Therapie in einer psychiatrischen Klinik, gegen die endogene Depression. Davon hatte der Arzt schon aus einem Telefongespräch mit dem Hausarzt – oder praktizierte noch Frau Dr. F.-T. zu jener Zeit? – erfahren. „Das kann wieder passieren“, sagte der Arzt. Mir war das doch seit vielen Jahren klar! Ich hatte ja auch beobachtet, in welchen Zustand meine unglückliche Mutter seit Ende der siebziger Jahre geraten war. Aber was konnte ich tun? Einmal war ich nahe daran gewesen, ihr die Tabletten wegzunehmen und sie in eine Klinik einliefern zu lassen. „Bitte nicht ins Krankenhaus, lieber Klaus, bitte nicht“, hatte sie auf meinen Vorschlag geflüstert. Ich hatte daraufhin nichts unternommen, ihr nur ernsthaft gesagt, so ginge es einfach nicht mehr weiter. Dann hatte ich wieder mit meinen eigenen Verstimmungen zu tun. Die Hilflosigkeit, in der ich mich sah, erbitterte mich zusätzlich. Gespräche mit Mama, die ich gelegentlich anzufangen versuchte, endeten fast immer in ihren Tränenausbrüchen und waren danach unmöglich. Wahrscheinlich dachte meine Mutter, diese Erbitterung, die sich mit der über meinen Stillstand und mit der Unzufriedenheit, diesen Kinojob machen zu müssen, verband, mit der Perspektive, in diesem Provinznest versauern zu sollen, richte sich böswillig gegen sie. Und es gab Tage, in denen ich nichts mehr wünschte, als der ganzen mißratenen Gesamtlage entfliehen zu können. Deshalb hatte ich auch das Angebot des Filmtheaterbesitzers, die Dachkammer für meine Zwecke benützen zu können, dankbar angenommen, denn ständig konfrontiert mit der Atmosphäre von Niedergeschlagenheit und körperlicher Krankheit in der Wohnung, war es mir fast unmöglich geworden, auf der IBM noch etwas zu Papier zu bringen. Auch benahm ich mich in manchen Stunden meiner Mutter gegenüber unmöglich, ruppig, und das tat zur Depression, unter der meine arme Mutter ja am meisten litt, das seine dazu. Meine Seelenmittel blieben Wein und Whisky, die ich mit dem nun erst recht möglichen „Recht auf Selbstmedikation“, wie ich das nannte, zu mir nahm. Meine Mutter ging für fast zwei Monate in eine Klinik im Süden Oberschwabens; zunächst in diese, dann in die andere, die näher lag. Ich besuchte sie einmal in zwei Wochen an meinen freien Montagen. Es schien ihr besser zu gehen, ihr Verhalten wurde wieder lebendiger. Ich hoffte inständig, es bliebe so, malochte im Kino, ging spätabends oft noch aus, fand nicht, was ich suchte.
- Keine wesentliche Veränderung der Witterungsverhältnisse.
30.11.2002

28
Nov

28.11.2002

Im Frühjahr und Sommer 1996 drehten acht Amateurgruppen in Biberach an der Riß Videofilme über Themen, die mit ihrem Leben in der Großen Kreisstadt zu tun hatten. Einer dieser Filme schilderte auf eindringliche Weise das Leben Obdachloser, die es auch in dieser Stadt gab und gibt, ein anderer die Hiphop-Szene, ein dritter, den der Philosoph Kraft und sein kleines Team herstellten, beschäftigte sich mit dem Wirken Hugo Härings, dem bedeutenden Architekten und Architekturtheoretiker der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. (Der, als er mitten im Krieg nach Biberach, seiner Heimatstadt, zurückgekommen war, enttäuscht von seiner Erfolglosigkeit, in die er in den Jahren der Nazi-Diktatur hineingeraten war, eine Sammlung von Gemälden des Suprematisten Kasimir Malewitsch, die der Künstler, als er überhastet in die Sowjetunion abgereist war, ihm in Berlin zur Aufbewahrung nach einer Ausstellung übergeben hatte, nach Biberach mitgebracht und, wie die Legende sagt, unter seinem Bett in der Ehinger Straße versteckt hatte. Später hatte Häring die Bilder für eine Jahresrente von DM 10 000 an das Stedelijk-Museum in die Niederlande verkauft. Er hatte von dieser Vereinbarung jedoch nichts gehabt, denn ein Jahr danach war er gestorben.) Diese acht Filme stellten das Ergebnis eines Medienprojektes dar, das der Kulturdezernent der Stadt, Dr. Biege, angeregt hatte und das mit der Landesbildstelle und der Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt wurde. Vierzehn Gruppen waren es zu Beginn gewesen, acht erreichten das Ziel. Ihre unterschiedlich langen Videos waren ein Programmteil des ersten Abends der Filmtage jenes Jahres. Alle wurden hintereinander im „Urania“-Kino gezeigt. „Lost in Illusions“, die Ausgestaltung der Idee, die mir in den Kopf gekommen war (und das der jungen Regisseurin L. und unseres nie ermüdenden vielköpfigen Teams) war in dieser Reihe der letzte Film des Abends. Bevor ich ins Kino zur donnerstäglichen Arbeit gegangen war, hatte ich einen schönen Strauß Blumen gekauft; zur Premiere unseres „Strauß“-Films. Den hatte ich in ein Gefäß, das ich mir im „Sternchen“ ausgeliehen hatte, gestellt, deponierte ihn im Treppenhaus. Jenes Filmfest begann wegen der Biberacher Filme sofort mit vielen Besuchern. Die Filmteams durften unentgeltlich ins Kino. Unsere Namensliste war wohl die umfangreichste. Ich machte meine Arbeit, während die Filme der anderen Gruppen mit einem Videobeamer auf die Leinwand geworfen wurden. Als dann mein Film – „mein Film“, durfte ich an diesem Abend sagen, sagte aber lieber „unser Film“ – an der Reihe war, sagte ich A.K., daß ich mir natürlich meinen Film im Saal ansehen werde. Er sah mich mißbilligend an; wer, bitte, sollte denn die Arbeit in dieser Stunde und danach tun? Er sprach es nicht aus, ich wußte freilich, was er dachte. War mir wurscht. Ich stellte mich hinten an der rechten Eingangstür in den Saal. Ich war im Kino, ich war im Film. Der Streifen gefiel mir nicht übel. Zweiundvierzig Minuten lang konnte ich den selbstquälerischen Spaziergängen des Schriftstellers Lost aus Berlin durch Biberach und seinen Albträumen zusehen. Als das Licht im Saal langsam anstieg, gab ich den Blumenstrauß, den ich zwischendurch aus dem Treppenhaus geholt hatte, unserem Mann für die Continuity und die Klappe, Raphael S.; wir hatten uns abgesprochen, daß er die Blumen unserer Regisseurin überreichen solle. Der hübsche große blonde Raphael ging nach vorn und überreichte den geschmackvollen Blumenstrauß. Applaus. Ich stellte mich vorn neben die Regisseurin und Kamerafrau. Wir sagten ein paar Sätze zur Idee und Herstellung des Films. Nach einer Viertelstunde verließ das Publikum den Saal. Ich widmete mich wieder der Arbeit. Der junge Sohn des ehemaligen Oberbürgermeisters H. sprach mich im Foyer, wo ich Plakate auswechselte, an, beglückwünschte mich zu „meinem“ Film. Nach einer Weile hatte ich aber doch das Bedürfnis, noch ein paar Äußerungen dazu zu hören, beendete die Arbeit und betrat das vierkantige Zelt, das – eine Errungenschaft der Mittneunzigerjahre erst – im Hof aufgestellt worden war, in dem das Kinovölkchen sich verköstigte und seine Meinungen austauschte. Bald stand ich, umgeben von Leuten, die mich kannten, an einem der „Bistrotische“ und berichtete Amüsantes von den Dreharbeiten. Denn das hatten wir auch gehabt, nicht nur Ärger. Ich unterhielt mich dann mit Raphael. Er fuhr mich im BMW seines Vaters in die Amriswilstraße, später. Am Tag danach beklagte sich A.K., er habe, bei allem, was um ihn herum sei, auch noch bis spät meine Arbeit tun müssen. Vielleicht hatte es ihm auch nicht behagt, daß sein Filmvorführer plötzlich, in fortgeschrittenem Alter, nach so vielen Jahren treuer Dienste, noch eigene Ambitionen zeigte. Am 2. Dezember 96 kündigte ich mündlich meinen Job, schriftlich einige Zeit danach.
- Novemberstimmung, grau in grau.
28.11.2002

26
Nov

26.11.2002

Der Spätherbst 1988 war kalt. Als gegen Ende des Novembers die alljährlichen Filmfestspiele begannen, hatte es schon geschneit, der Schnee, oder das, was von ihm übrig geblieben war, verkrustet, verharscht, die Nächte waren frostig. Der Filmtheaterbesitzer und ich dekorierten am Vorabend des Trubels die großen Schaukästen im „Urania“-Foyer mit Plakaten und Filmbildern der zu zeigenden neuen Produktionen, so wir wir es in den Jahren davor getan hatten und auch in denen danach, und an manchen Filmfesttagen, die an den Totensonntagen endeten, in fast jedem Jahr an diesem Wochenende ausliefen, ohne abendliche große Feier wie seit der Mitte der neunziger Jahre, auf der nun diverse seltsame Preise vergeben werden, klebten wir mit Tesafilm auch die großen Foyerfenster zur Straße hin mit Plakaten zu, und diese Fenster waren in jenen Abenden im Jahr 1988 zur Hälfte mit einer feinen Eisschicht überzogen, so daß von außen die an den Innenseiten der Fenster hängenden Plakate, die ich in ruhigeren Minuten ab und zu mit frischen Tesafilmstreifen zwei- und dreimal wieder richtig befestigte, wenn ihre Ecken heruntergefallen waren, nur als bunte Flecken zu sehen waren, denn im Foyer herrschten, auch wegen des ständigen Türauf-Türzu, kühle Temperaturen, die oberen großen Scheiben wurden nicht stark genug erwärmt, um den Frostbelag abschmelzen zu lassen, wie es der Leuchtröhrenwärme in den unteren, auf Augenhöhe eines draußen stehenden Filmplakatbetrachters liegenden Fenstern gelang. Welche neuen deutschen Filme dieses Filmfest – zu den „Biberacher Filmfestspielen“ reisen übrigens bis heute keine Kritiker überregionaler Zeitungen an, „die Mafia“, wie professionelle Kritikaster im Hause K. gern genannt werden, sind nicht erwünscht, nur unmittelbar an den Filmen beteiligte Personen, und ein paar auch nicht mehr ganz junge Filmbeurteiler aus verschiedenen europäischen Ländern, und natürlich auswärtiges Publikum, haben Zutritt – im Jahr 88 zeigte, ließe sich herausfinden, interessiert mich jetzt jedoch nicht, nur daß in der Filmfestspielwoche auch in einer für spätnachts angesetzten Vorstellung, nach den Festivalfilmen, Martin Scorceses Film „die letzte Versuchung Christi“ gespielt wurde; in der ersten regulären Einsatzwoche dieses Films, ist nun relevant. Schon bevor er anlief, hatten auch in der BRD, wie im Sommer in den USA, katholisch-sektiererische Organisationen heftig gegen ihn protestiert, wg. Blasphemie etc., und wütend-fanatische Reaktionen gab es nun in Biberach. Die Filmtage begannen, Filmleute aus der Republik trafen ein, die ersten Vorstellungen fanden statt – vor dem Kino, in der Saudengasse, auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße, sammelten sich Leute an; die aber keine Filmfans waren, sondern Mitglieder der Medjugorje-Sekte, eine von der römisch-katholischen Kirche geduldete Vereinigung zur Verehrung der in Medjugorje (Bosnien-Herzegowina) am 2. August 1987 dortselbst erschienenen Mutter des Heilands, und diese Religiösen, angeführt von einem jungen Grafen aus einem Schloß in Mittelbiberach, einer unmittelbar westlich der Stadt angrenzenden ländlichen Gemeinde, hatten sich zusammengefunden, um betend und knieend gegen den lästerlichen Film des amerikanischen Regisseurs vorzugehen; einen langweiligen, ästhetisch unbefriedigenden Film by the way, aber das konnten sie nicht wissen, weil sie ihn nicht anschauen durften und ohnehin sah diese Gemeinschaft grau und schwarz vermummter Gestalten, die stundenlang, bis zum Ende der nächtlichen Vorstellungen, verharrte, nicht aus, als hätte sie kinobegeisterte Mitbürger in sich gehabt. Mancher Filmmensch, Macher oder nur Gucker, stand vor den halbdurchlässigen Foyerfenstern, und am Fenster oben vor dem Eingang zum „Sternchen“, und blickte fasziniert-befremdet auf diese murmelnden, sich kaum bewegenden Gestalten hinunter, die sich wie Wesen aus einer anderen Welt, aus einem anderen Film herausgetreten vielleicht, auf dem gegenüberliegenden Gehweg verkörpert hatten, stehend, knieend; lange mit Kerzen, die in kleinen Gefäßen flackerten, in den Händen auf dem von Eisresten, über die hin und wieder Polarschneeflocken aus der Nacht schwebten, umrandeten Asphalt knieten, sich erhoben, wieder niederknieten. Der Filmfestveranstalter, von seinen Freunden aus den großen Städten und nördlicheren Gegenden auf dieses seltsame Schauspiel angesprochen, lächelte gequält ironisch; Morddrohungen habe er erhalten. Nach drei Nächten, oder vier, der Film lief noch zwei Wochen nach dem Filmfest, war der graue Spuk verschwunden. Dann wurden Wände und Fenster mit nicht weniger eigenartigen Zeichen beschmiert; waren es Wände in Biberach oder in Babylon? Polizei durchsuchte nach Attentatsankündigungen die Kinosäle. Nichts fand sich aber. Christlich-fundamentalistischer Terror kam auch durchs Telefon. Verwünschungen drohten, Tiraden schwallten. Dunkle Worte. Es blieb kalt.
- Vormittags hell. Mittags regengraue Einfärbung.
26.11.2002

25
Nov

25.11.2002

Stand das Christkind schon halb in der Tür, stand in den sechziger Jahren, und ich denke nun an die Mitte des mit Kaltem Krieg, Rock- und Popmusik, Pop-Art, Frankfurter Schule, „sexueller Revolution“, wie sie Beate Uhse und Oswald Kolle definierten, den politischen Morden an den Kennedys und Martin Luther King, die die Welt zwar nicht sonderlich erschütterten, nur beunruhigten, Ghettokämpfen, Black Panthers, „Studentenunruhen“, Drogen, die in Mode kamen, Astronauten und Kosmonauten, Godard- und Kluge-Filmen und ausstaffierten Jahrzehnts, auch in Oberschwaben und in Biberach die „Schlesische Weihnacht“ an. Sie wurde im großen Saal des Kolpinghauses, einem der größten Veranstaltungssäle der Stadt, gefeiert. Ich erinnere mich noch an einen anderen Ort, an einen anderen Saal, in einer Gaststätte vermutlich, wo dieses Fest der Ober- und Niederschlesierinnen und -schlesier in vorweihnachtlicher, doch, wie ich wußte, nie ganz intrigenfreier Stimmung in meiner frühen Kindheit stattfand, vermag die schattenhaften wenigen Szenen, die mir zwischen den Synapsen baumeln, wenn ich sie bewußt abrufe, aber nicht an einem genau zu nennenden Platz zu lokalisieren. Drei oder vier dieser Abende – mittelalte Menschen gingen, standen, saßen in Schlesischen Trachten herum – im Kolpinghaus-Saal, in dem ein großer Tannenbaum, der mit weiß-flauschigen Hängebrücken zwischen den Zweigen und güldenen Kugeln versehen worden war, vor der Bühne an dem einen Ende des Saals stand, und Tannenzweige und Früchte lagen auf den langen, mit bunten Kerzen und Strohsternen geschmückten und mit weißen Tischdecken überspannten Tischen, ließ ich über mich ergehen; am Ende des Jahrzehnts war ich dort nicht mehr anzutreffen. Später am Abend sang dann Herr M. in der Uniform der schlesischen Bergmänner und trug so zur Unterhaltung und Erinnerungskultur bei. Meine Mutter trug in solchen Stunden ihre Oberschlesierinnentracht aus weißen Rüschengewändern und einer weißen Rüschenhaube. Diese Tracht hatte sie freilich nicht mit auf die Flucht genommen; sie wurde in Biberach oder vielleicht auch anderswo, vielleicht in Stuttgart, nach Originalschnitten angefertigt. Es war die Hochzeit der ehrenamtlichen Tätigkeit meiner Mutter, die in diesen paar Jahren auch – 1962 war sie vierzig Jahre alt geworden – ihre besten Jahre hatte, wie ich in späterer Zeit vergleichen konnte; wie ihre Seelenverfassung in ihren Mädchenjahren in Hirschrode und Neumittelwalde, der kleinen, kaum viertausend Einwohner beherbergenden Kreisstadt nahe der polnischen Grenze, in die sie häufig „mit dem Fahrrad“, wie sie mir einmal erzählt hatte, gefahren war, sich verhalten hatte, entzieht sich meines Wissens, sie sprach nie viel von den Zeiten in ihrer Heimat, nur daß sie den einen oder anderen Liebhaber, in ihrem Alter oder etwas älter, nicht aus der Tür gewiesen habe, das hörte ich hin und wieder, wenn, im Kreis der Verwandtschaft der L.s, ihrer Freundinnen, verheirateten Freunde und Bekannten, die fast alle aus den „Ostgebieten“ stammten, die sich in Biberach und Umgebung angesiedelt hatten, die Rede auf Oberschlesien, Pommern, Polen kam. Ich fragte sie nie nach diesen Vorgängern meines Erzeugers; wie viel hatten diese Techtelmechtel ihr bedeutet? Sogar zwei Fotos von diesen Freunden, die vielleicht ja nur harmlose Begleiter gewesen waren, was ich aber nicht ganz glauben wollte, obwohl mich dieses Thema gar nicht interessierte, hatte sie bewahrt. Nur sehr selten schnappte ich, diesen Gesprächen mit höflicher Gelangweiltheit halb zuhörend, und ich saß ja auch nicht immer dabei, sondern verdrückte mich dann oft in das kleine, damals als Abstellraum benützte Zimmer, eine Nebenbemerkung auf, die mir sagte, daß sie dann der Überlegung, es wäre ihr besser ergangen, hätte sie eine andere Partnerwahl getroffen, ein bißchen Raum gab, aber rasch verschwand immer dieses Nachsinnen, und diese Reminiszenzen der in der Runde sitzenden Männer und Frauen – beispielsweise am Abend der „Schlesischen Weihnacht“ – wichen allmählich dem Tratsch über die gegenwärtigen Befindlichkeiten in einer Mundart, die ich zwar verstand, die in Oberschwaben aber nur bei solchen größeren und kleineren Zusammenkünften zu hören war, und die – auch Oberschwaben auf den Straßen – ahnen ließ, daß Deutschland vor zwei Jahrzehnten noch anders ausgesehen hatte, größer gewesen war, auch vor der Tyrannei des Anstreichers aus Braunau, und in der oberschwäbischen Luft wie eine Erinnerung an ferne und sehr fremd gewordene Regionen schwang. Meine Mutter schrieb, als humorvolle Beiträge zu diesen Feiern und zu anderen in anderen Jahreszeiten, die der Faschingszeit vornehmlich, mehrstrophige Reimgedichte, in denen Personen und Ereignisse des vergehenden Jahres – oder des schon vergangenen – „auf die Schippe“, wie eine Redewendung , die ich doch nun seit vielen Jahren nicht mehr benutzt habe, lautet, genommen wurden. Mir oblag es, die zunächst handschriftlich verfaßten Texte auf der Olivetti-Reiseschreibmaschine abzutippen, und als ich, seit 68, mit allen zehn Fingern die schwarzen Tasten bedienen konnte, erst recht. Ihre Reime holperten in manchen Versen, und wenn es mir gefiel, machte ich diese flüssiger, nahm ein Wort fort oder setzte eines hinzu, oder ersetzte eines durch eines mit ähnlicher oder genauerer Bedeutung, damit alles im Rhythmus blieb. Damals las ich fast nie Gedichte, mein Interesse galt Romanen, der Prosa, auch wenn sie in manchen Elaboraten noch so beschissen war. Und diese vier letzten Wörter des letzten Satzes sind mir eben in den Sinn geraten, weil in die plötzliche Anwesenheit der Westernheftlektüre mir gleichzeitig der Spruch von „Cheyenne“, gespielt von Jason Robarts, im Sergio Leone-Epos „Spiel mir das Lied vom Tod“ eingefallen ist, an der Stelle im Film, wo er, der Banditenchef, seinen Strauchdieben befiehlt, mit den neben den Holzbohlenstapeln herumliegenden Spitzhacken einen Bahnhof zu bauen, „und wenn das Ding noch so beschissen ist“; denn mit einem Bahnhof finge alles an. Als ich die Gedichte meiner Mutter abtippte, im Zehnfingersystem, das ich 1968, als dieser Film in die Kinos gekommen war, gelernt hatte, begann auch für mich alles; jedenfalls all der Schlamassel mit meiner beschissenen Prosa.
- Wieder ein betrübter Tag.
25.11.2002

23
Nov

23.11.2002

Im Herbst von 1983 war ich mit meiner Nervenkraft so ziemlich am Ende. Till hatte sich distanziert, sein gleichgültiges Verhalten machte mich rasend; ich hatte auf den Beginn einer sogenannten Beziehung gehofft und war schwer enttäuscht, aber eine nähere Vertrautheit konnte und wollte er nicht riskieren, und ich war ja vielleicht auch gar nicht dafür geeignet. Weder er noch ich hatten Erfahrungen in guten schwulen Angelegenheiten, und meine praktischen Erkenntnisse davon waren durchweg negativ geprägt gewesen; und: „Du hast ja nie Zeit“, hatte er eines Abends im Kinofoyer, als er gekommen war, um mich zu fragen, wann endlich ich an diesem Abend mit dem Arbeiten aufhören würde, zu mir gesagt. Der Job fraß mir Lebensmöglichkeiten weg, und das für eine Geldentlohnung, die so lächerlich war, daß ich die Summe des monatlichen Salärs hier nicht angeben kann, ohne mich der endgültigen Lächerlichkeit preiszugeben.
- Novembergrau.
23.11.2002

15
Nov

15.11.2002

In den Wochen vor Dezember war Mitte der sechziger Jahre und bis zu ihrem Ende die Zeit genaht, die noch lange nicht zum Advent gehörte, in der in einem Büro in der Kolpingstraße, an einem Hof eines bekannten alteingesessenen Autohändlers, im ersten Stock, Tische, Stühle, Fußboden von Kartons voller Lebensmitteln überdeckt waren, deren Inhalt es Richtung Osten zu versenden galt. Frau M., der wir im Februar schon in diesen Episoden einmal begegnet sind, die Vorsitzende des „Bundes der Vertriebenen“ im Landkreis Biberach, hatte auch den Vorsitz des Kreisverbandes jenes Paritätischen Wohlfahrtsverband inne, und eine der Aufgaben ihres Verbands war es, nicht nur in Biberach, den „Brüdern und Schwestern in der Zone“ zu Weihnachten Gaben zukommen zu lassen. Meine Mutter hatte immer, auch bevor sie ihre Mitarbeit an diesem Verband aufgenommen hatte, zu Weihnachten Pakete in die „Ostzone“, die in den sechziger Jahren durchaus auch in offiziellen Staatsverlautbarungen oft noch so genannt wurde, statt daß dem anderen deutschen Staat seine Bezeichnung als „Deutsche Demokratische Republik“ zugestanden worden wäre, geschickt, denn wirklich hatte sie ja Schwestern dort. Rechtzeitig, denn die Erfahrung hatte gelehrt, wie lange diese Pakete nach Dresden und Fischbach, später nach Radeberg, brauchten (und man nahm an, daß die Stasi einen Blick in sie warf), bis sie ankamen, kaufte meine Mutter Kakao, Schokoladen, Kaffeepackungen – „guten Bohnenkaffee“, Seidenstrümpfe und was weiß ich nicht noch alles zusammen, für zwei Pakete, in manchen Jahren drei, und die guten Sachen „aus dem Westen“ wurden sorgfältig in buntes Geschenkpapier mit „Weihnachtsmotiven“ – gibt es ja noch immer – gewickelt und ebenso sorgsam in die Kartons hineingelegt, in fast weihevoller Handlung, so, daß kein Eckchen im Pappebehälter ungenutzt blieb. Sehr wichtig waren die vier bis fünf Zigarettenschachteln „HB“, „Peter Stuyvesant“ oder „Astor“ und „Ernte 23“, Marken, die auch ich zur Vor- und Nachbereitung des Filmgenusses mir ansteckte. Ich rauchte zu jener Zeit aber nicht viel, so waren durchaus auch nach zwei Wochen noch in einer Schachtel Zigaretten zu finden. Die Männer meiner Tanten interessierten sich nur für die Zigaretten, die über die Feiertage und danach – nun tatsächlich in zelebrierendem Gestus – genußvoll weggeraucht wurden; bekamen wir in den Dankesbriefen zu lesen. Auch mit anderen Leuten im „Osten“ führte meine Mutter Korrespondenzen. Ich interessierte mich nie dafür, was sie in ihren Briefen schrieb. Auch unter solchen Nichtverwandten – ich entsinne mich einer guten Jugendfreundin meiner Mutter, einer Frau mit starkem Gebiß, die nach der Vertreibung aus Schlesien (ich weiß nicht mit Sicherheit zu sagen, ob auch sie aus Schlesien stammte) in Erfurt wohnte, und einmal auf den „Zonenreisen“ besuchten meine Mutter und ich sie auch, die nicht weit entfernt vom Dom wohnte – gab es Empfänger solcher Pakete (oder Päckchen). Als meine Mutter für den Paritätischen Wohlfahrtsverband ehrenamtlich tätig war, hatte sie, wie die anderen Damen mittleren Alters, die als Helferinnen hier werkelten, alle aus dem Umkreis von Frau M., Anspruch auf eine gewisse Menge an den Lebens- und Genußmitteln, die in tagelangem Packen versandfertig gemacht wurden. An irgendeinem Nachmittag im Herbst fuhr ich dann in die Kolpingstraße und nahm im hell erleuchteten, deswegen aber nicht weniger tristen Büro zwei pralle Plastiktaschen mit den uns zukommenden Geschenkrationen entgegen und transportierte sie nachhause; und eine zweite Fuhre konnte schon notwendig sein. So sparte meine Mutter Geld, und die Weihnachtspakete gingen dennoch gut gefüllt ab. Es war, um mich zu wiederholen, denn die Stimmung ist mir noch sehr gegenwärtig, eine nahezu feierliche, „vorweihnachtliche“ Handlung, etliche Wochen vor dem Fest alles liebevoll mit den verschiedenfarbigen Papieren zu ummanteln und mit minimalen Hand- und Fingerbewegungen die einzelnen Stücke und Stückchen korrigierend zurechtzulegen. Zum Schluß erhielt der volle Karton, der sein Gewicht nun hatte, seine Verhüllung durch zwei Lagen starken Packpapiers – ich habe noch heute seinen Geruch in der Nase, wenn ich daran denke ... – und mit dickem Bindfaden mehrfach verschnürt. Eine Paketkarte wurde ausgefüllt. Schließlich befestigte ich den hölzernen Tragegriff an dieser Schnur; mit ihm konnte das Paket transportiert werden. War alles fertig, radelte ich am nächsten Tag, denn erst abends nach ihren Arbeitsstunden, oder auch in manchen Jahren an einem Samstag oder Sonntag, widmete sich meine Mutter dem „Packen“, mit dem klobigen Ding auf dem Fahrradrückständer zur Post in der Nähe des Bahnhofs. War das Paket so groß, daß es drohte, trotz Schnurbefestigung an Ständer und Sattel während der Fahrt hinunter zur Post, bei „Kaltenbach & Voigt“ vorbei, umzukippen oder herunterzufallen und vor einem Auto auf der Straße zu landen, blieb mir nicht anderes übrig, als das Teil zu Fuß wegzuschaffen. Ich erinnere mich der Tage, in denen ich mit zwei Paketen unter den bald schmerzenden Armen über die Gehwege schlich und die Lasten dann und wann absetzte, meine Arme wie ein Primat schlackernd schlenkerte und so in Etappen die Abgabestelle endlich erreichte. Was mir diese Wege dann erleichterte war der Gedanke, daß in der „Zone“ an solchen Tagen ebenfalls gepackt wurde und ich am Heiligen Abend zwei Bücher aus der Geschenksammlung, die im Karton ruhte, nehmen konnte. „Test“ und „Der Unbesiegbare“ von Stanislaw Lem waren wohl 1968 zwei von diesen Büchern. Hörte sich „Zone“, „Ostzone“, nicht, bei einschlägigen Kenntnissen, auch irgendwie nach Science Fiction an? Und wirklich, in der Wirklichkeit, war diese Zone ja eine Vorform, in ihrem Selbstverständnis wenigstens, einer utopischen Gesellschaft.
- Kaltes Grauen.
15.11.2002

11
Nov

11.11.2002

In den Neunzigern bildete ich die mir sehr angenehme Gewohnheit aus – am Begriff des Rituals hängt ja ein unterschwelliger unangenehmer Ton – , nach dem Beginn der Nachtvorstellung (zumindest in den ersten neunziger Jahren spielte man im „Sternchen“ noch einen Spätfilm an allen Wochentagen) das Areal der Kinos mit Einverständnis des Kinobesitzers (und das Weggehen konnte ich mir auch nur dann erlauben, wenn er im Hause war) zu verlassen und durch die dunkle Innenstadt, in der eine nächtliche Stille war und mir oft kein einziger Passant über den Weg ging, in die Justinus-Heinrich-Knecht-Straße zu streben und auf das Klingelschild mit dem darin eingeschriebenen Namen „Klaus Leupolz“ zu drücken. Im Herbst eilte ich über zertretene braune Blätter, die die Winde irgendwo aufnahmen und dann achtlos über den Straßen der Stadt fallen ließen, im Winter knirschte, wenn die Minusgrade im Gesicht zu spüren waren, der festgetretene Schnee unter meinen Stiefeln, wenn ich durch die Gassen und Gäßchen hastete, um möglichst wenig Zeit zu verlieren. Hatte ich geklingelt, dann wurde das linke der beiden obersten Fenster geöffnet und Klausens Kopf erschien im Fensterrahmen; „ich bin’s!“, rief ich hinauf, aber das konnte er vorab wissen, und er sah nur deshalb nach, auf daß sich nicht doch einmal ein unerwarteter, vermutlich eher unwillkommener Spätabendbesuch in diese Strasse, vor dieses Haus, begeben hatte, der eingelassen werden konnte – oder auch nicht. Dann summte die elektrische Türöffneranlage, ich drückte die Tür auf, betrat den schmalen Eingangsflur, der hinter einer zweiten Tür, und sie und die Haustür bildeten einen Windfang, lag, und stieg die ebenfalls nicht breite Holztreppe hinauf in den dritten Stock. Dort stand die Tür zum Wohnraum offen, ich klopfte dennoch, „come in!“ kam der Ruf von innen und ich trat ein. „Störe ich?“, fragte ich vorsichts- und auch ein bißchen schon gewohnheitshalber, doch nie störte ich. „You’re welcome“, war höchstens die freundliche Antwort. Ich nahm auf dem alten Sessel an der Wand vor dem Bücherregal Platz, Klaus auf seinem gegenüberstehenden, dazwischen stand der niedrige Tisch, auf dem – 1992 nahm ich noch Alkohol zu mir – fast immer eine Tüte mit Rotwein vom „Lidl“ darauf wartete, vor allem von mir geleert zu werden. Wir tranken oft Tütenwein, auch L. lebte in sparsamen Verhältnissen. Wir hatten uns an ihn gewöhnt. Klaus schenkte mir ein, ich stürzte das erste Glas hinunter, um das stets in mir vorhandene sehr feine Vibrieren zu mildern; ich stand immer unter Strom und brauchte Nachschub. Wir plauderten über dieses und jenes, über die neuesten privaten und politischen Vorkommnisse (und auch das Private war und ist ja immer politisch, wie nach 1968 die Erkenntnis war), ich klagte mein Leid über die in dieser Stunde zu Ende gehende Kinowoche, denn montags hatte ich ja frei, redete davon, den Job hinzuwerfen, denn er war mir in manchen Tagen unerträglich geworden. Wir besprachen, was am Montag, am nächsten Abend, geschehen könnte, wo man zusammen säße, bei ihm oder bei mir oder in einer Kneipe. Wir lachten aber auch viel, und dafür boten die Biberacher Verhältnisse reichlich Anlaß; nicht nur sie. So verging eine Stunde und ich verließ meinen alten Freund wieder, eilte durch die schlafende Stadt zurück, um den Film abzustellen, was ich nicht selten auch dann tat, wenn A.K. im Haus, in seiner Wohnung, war. Aber auch aus einem anderen Grund betrat ich noch einmal das Kino: ich hatte eineinhalb Stunden zuvor mit der „Sternchen“-Dame, die bis zum Schluß, bis zur täglichen Abrechnung, bleiben mußte, vereinbart, daß sie mich auf’s Hühnerfeld chauffierte. Ich verbrachte noch eine halbe Stunde im „Sternchen“, unterhielt mich mit der Bedienerin, die hinter dem Tresen Gläser spülte und den Thekenbereich säuberte, bis der Hausherr kam und sich für Umsatz und Gewinn interessierte. Danach Abfahrt. Als die Nachtvorstellungen im „Sternchen“ aufgegeben waren, kehrte ich natürlich nicht mehr ins Kino zurück, sondern machte mich, um ein Uhr oder später, nach der Sitzung bei Klaus L. auf meinen langen Heimweg in der finsteren Biberacher Nacht. – Heute jährt sich der Todestag meines Freundes zum ersten Mal. Ihm zum Gedenken setze ich hier den Nachruf darunter, den ich vor einem Jahr in der Biberacher Presse veröffentlichte, und das Foto, das Manfred Schmidt 1992 von Klaus Leupolz in seiner, Manfreds Wohnung, aufnahm.

Zum Tod von Klaus Leupolz

Ein Charaktermensch
BIBERACH (kd) – Klaus Leupolz, der am vergangenen Sonntag nach schwerer Krankheit im 72. Lebensjahr gestorben ist, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten des Biberacher Stadt- und Kulturlebens, gerade weil er sich nie vom offiziellen Betrieb vereinnahmen lassen wollte, nicht zu den „Etablierten“ gehörte. Ein Charaktermensch; ein schwieriger oft für manchen, der nicht zu seinen Vertrauten zählte oder gezählt werden durfte. Sein Urteil über bestimmte Vorgänge, Zustände, Menschen konnte, nicht zuletzt die Kunstangelegenheiten betreffend, apodiktisch, schroff, endgültig, manchmal auch nicht immer gerecht, sein. „Kunstschwätzer“ und Mitläufer, in welchen Dingen auch immer, waren ihm nicht genehm; gelegentlich machte er seinem Unmut über Abderitisches und offenkundige Ignoranz in pseudoidyllischen satirischen Schriften und Leserbriefen an das örtliche Blatt Luft, nicht ungern mit einem Ton gewürzt, der sich dem einen oder anderen Rezipienten leicht ätzend auf die Gehirnwindungen legte – und legen sollte. Er sagte, was er dachte.
Dabei – wenn man genau hinsah, merkte man‘s – konnte er, aus eingesessener Biberacher Familie stammend, dieser Stadt etwas abgewinnen. Stets kam er, in den Sechziger-, in den Siebzigerjahren, von manchmal mehrjährigen Globetrotterreisen in andere Hemisphären, bevorzugt war der pazifische Raum mit Australien, Neuseeland, Malaysia, Thailand (fast ein Jahr lang lebte er dort als buddhistischer Mönch), zurück ins „Städtchen“. Nur das auch für Biberach prägnante Jahr 1968 hatte er „versäumt“, wie er manchmal bedauerte; dafür war ein anderes Mitglied der Familie, neben anderen, zuständig ...
In ironischer Haltung, die zum Sarkasmus neigte, kommentierte er kopfschüttelnd, lächelnd, lachend, die Biberacher Ereignisse, wenn sie ihm gar zu verstockt-verhockt erschienen. Dann unternahm er etwas, das dann als „typisch Leupolz“ bezeichnet wurde: zog, bunt gekleidet, mit seinem mannshohen fahrbaren und gelenkigen Biber durch die Stadt, stellte ihn am Ort eines fragwürdigen Geschehens auf, mit krummer Kralle zeigte der Biber darauf; oder war engagiert bei politischen und kulturellen Initiativen dabei; auch ein erbitterter Wutausbruch, alttestamentarisch heftig, konnte schon vorkommen.
Denn: er war einer, der verändern wollte, aufmerksam machen wollte. Ein – durchaus heiterer - Provokateur (im positiven Sinn). 1971 war er maßgeblich an der alternativen „Aktion Fortschritt“ im Vorfeld der damaligen Gemeinderatswahl beteiligt; er hätte einen Sitz im Rathaus bekommen können, wenn er es denn gewollt hätte. Er zog es vor, sich nicht vereinnehmen zu lassen, unabhängig zu sein. Aus Prinzip. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Partei der Grünen in Biberach, zu den Demonstranten gegen den Flugplatzausbau Anfang der Achtzigerjahre, zeichnete in den ersten Jahren der Kutter’schen Filmfestspiele die Plakate, war Mitherausgeber der von der Stadt Biberach finanzierten Sonderbeilage der Schwäbischen Zeitung zu den Baden-Württembergischen Literaturtagen im Jahr 1992.
Gelernter Zimmermann, machte er seinen Bauingenieur in Stuttgart; auch besuchte er die legendäre Hochschule für Gestaltung in Ulm. Eine Zeitlang übte er den Ingenieursberuf aus. Nach der Ankunft von einer seiner Reisen in Biberach 1969 begann er, als Autodidakt, zu malen; farbenintensive Ölbilder, deren wiederum witzig-ironisch-skurril-verspielte Sujets vor allem die Biberacher Stadtlandschaft zum Inhalt haben, in denen die „Gollywobbles“ (bezeichnet z.B. als „Tränenklau“) ihr schelmisch-unheimliches Wesen treiben. Sein künstlerisches Werk kann im weitesten Sinn zur Phantastischen Malerei gezählt werden. Programmatisch sein „Prokrustesbett“: zurechtgeschnitten und eingepasst in einen vorgegebenen Rahmen – eben das kam für ihn nicht in Frage.
In seiner „Galerie Kuckuck“ in der Engelgasse stellte er in den Siebzigerjahren nicht nur seine Bilder, sondern auch die von anderen aus. Klaus Leupolz war damals an der Jahresschau der Biberacher Künstler im Museum beteiligt, zeigte 1979 seine „Frottagen“ vom „Biberacher Bilderbaum“, der Buche auf der Schillerhöhe, in der Galerie in der Unteren Schranne.
Er lebte materiell bescheiden. Nach einer ersten, schwierigen Operation reiste er noch einmal, allein, doch mit Rucksack, für zweieinhalb Monate durch Australien und Asien, auf alten Pfaden wandelnd. Philosophisch gebildet, ertrug er dann sein jahrelanges Leiden stoisch. Biberach ist um einen kantigen Menschen ärmer.

tagumtag_nekrolog
- Nieselregen, alles grau, naßkalt.
11.11.2002

10
Nov

10.11.2002

Ich zog einen mehrere Meter langen Filmstreifen durch die Steck- und Schaltvorrichtung, der so lang wie die Strecke war, die dieser Filmstreifen zum Projektor und zurück zum Tellerturm zurückzulegen hatte. Der Tellerturm bestand aus drei der Filmteller: unten, Mitte, oben. Auf einen der beiden freien Teller wurde der Plastikring gelegt, der zuvor die große liegende Filmspule innen, denn diese Spule hatte in ihrem Mittelpunkt ein größeres Loch, in das die beschriebene Schaltvorrichtung gesteckt wurde (in die Mitte des Tellers), zusammengehalten hat, die Mitte des Tellers umfassend; der Ring hatte ein paar Steckbolzen an seiner schmalen, kaum zwei Zentimeter breiten Unterseite, die in die Löcher, die rings um das Zentrum des Tellers in diesen eingelassen waren, eingesetzt wurden, so daß der Ring nun festsaß, sich nicht verschieben konnte. An die „Wand“ des Rings legte ich nun den herausgezogenen Anfang des Filmstreifens. Hinter ihm war er schon in den Projektor eingelegt und bewegte dabei den Teller in der Aufwickelrichtung, und dieser sekundenschnelle Vorgang straffte den Filmstreifen, der über Rollen von und zum Tellerturm geführt wurde. Der Film konnte jetzt abgespult und -gespielt werden. Das Telefon klingelte. Ich hob den alten großen Hörer ans linke Ohr. „Warte noch fünf Minuten, draußen stehen sie noch!“, gab der Kinobesitzer knapp durch. So war es ja oft: der Andrang zu den nachmittäglichen Kindervorstellungen – manchmal liefen in diesen Stunden aber auch Erwachsenenfilme, womit nicht gesagt sein soll, daß in die Kindervorstellungen keine Erwachsenen gegangen wären – war so groß, daß Kinder und Eltern noch vor der Kasse standen, wenn die Vorstellung längst hätte beginnen sollen. Ich sah auf die Armbanduhr; gab meistens noch zwei Minuten drauf, aber wenn ich dann keinen zweiten Anruf bekommen hatte, wurde der Diaprojektor eingeschaltet; wenn, wie es nicht selten vorkam, die offizielle Anfangszeit weit überschritten war, ließ ich sofort den Hauptfilm anlaufen. Ich bekam keinen zweiten Anruf, die ersten Dias der verschiedenen werbenden Firmen leuchteten auf der Bildwand im erst halb verdunkelten Saal auf. Die etwa fünfzehn oder zwanzig Dias im runden Dia-Magazin ruckelten nacheinander vor die Linse des Projektors, was nur wenige Minuten beanspruchte. Ich schaltete ab, startete die Maschine, in die das Werbevorprogramm eingelegt war. Das übermannshohe Gerät aktivierte sich mit einem vernehmlichen „Klack!“, surrend lief nun der Filmstreifen aus der oberen in die untere Trommel. Das Vorprogramm war nachmittags kürzer als abends, denn bestimmte Trailer durften den Kindern nicht zugemutet werden. Erst in der ersten Abendvorstellung wurde das Vorprogramm in voller Länge gezeigt; das konnte schon zwanzig oder mehr Minuten dauern. Während nun im „Urania“ die Vorstellung begonnen hatte, ging ich hinüber in den hinteren Teil des Vorführraums, wo, vor der Magenta-Bildwand des „Sternchens“, einer grauen Fläche, auf einem Podest, das fest eingebaut ist, alle Vorführeinrichtungen für dieses Kino stehen: Tellerturm, Projektor (ein Phillips-Gerät neuerer Bauweise) mit angeflanschtem 16-mm-Projektor, ein rechteckiger Spiegel etwas im Hintergrund der nicht breiten Bühne, auf den das vom Projektor spiegelverkehrt ausgegebene Bild fiel, und der Spiegel ist so installiert, daß das ganze Bild, nun wieder seitenrichtig, ohne Winkelverzerrungen von hinten auf die Magenta-Bildwand geworfen wird. Bevor ich die Vorstellung im unteren Kino begann, hatte ich schon, nachdem die Filme für’s große Kino betriebsbereit gewesen waren, auf dieser Bühne gestanden und die prinzipiell gleichen Hand-, Arm- und Körperbewegungen ausgeführt, die für das Einlegen des Films des „Sternchens“ notwendig gewesen waren, auch wenn hier nur mit einem Projektor vorgeführt wird, was bedeutet, daß der vorderste Teil des Filmstreifens ein Stück weit ohne Projektion durch die Maschine abgespult wird, vor der Vorstellung „vorläuft“ – der Vorprogrammsteil, dessen Einzelfilmchen das zeigen, was anwesende Kinderaugen nicht sehen sollen. Nun, da die Vorstellung im „Sternchen“ ohne Zeitverzögerung begonnen werden kann, lasse ich rasch noch die Jalousie vor dem Vorführraumfenster hinunter, trete seitlich an den Projektor heran, drücke den Startknopf, den ich mit ausgestrecktem Arm von unten erreiche; der Film läuft vom oberen Teller durch die Maschine, wiederum von an der Decke befestigten Rollen geführt, zum mittleren Teller; zwei Filmbahnen, eine oben, eine unten, queren den kleinen Raum. Ach ja: Zwischendurch, in der Zeit, die mir noch vor dem Beginn der beiden 15.30 Uhr-Vorstellungen geblieben war, war ich hinuntergegangen, hatte ich mich durch das Gedränge der Kinder und Eltern, das im Foyer geherrscht hatte, selbst gedrängt, in den Gang hinein, der zwischen den Kinos „Urania“ und „Stardust“ (dessen Einweihungstag, der 15. März 1981, auch den Beginn meiner Angestelltenzeit markiert hatte) liegt, zum Vorführraum hinter dem „Stardust“-Kino (dessen Einweihungsfilm übrigens der Woody Allen-Film „Stardust Memories“ gewesen war), wo ich die schwere Metalltür geöffnet und den Raum betreten hatte, vier kleine schmale Treppenstufen hinaufgegangen war und die wieder im Prinzip gleichen Finger-, Arm- und übrigen Körperdrehungen und -renkungen, die aber, aufgrund der verschiedenen Steh- und Bewegungsflächen, die zur Verfügung standen, in jedem Kino etwas anders ausfielen, getan hatte, um sofort wieder hinauf in den oberen Vorführraum zu eilen, um dort den vielleicht nur angefangenen Vorgang des Filmeinlegens fortzusetzen; oder ich hatte um 15.15 Uhr sogleich nach den Abspielvorbereitungen – vorausgesetzt, Kinobesucher hatten inzwischen im „Stardust“-Saal gesessen – den Projektor anlaufen lassen; in diesem Fall hatte der „Stardust“-Film also angefangen, als ich oben noch mit den Vorkehrungen für einen gelungenen Filmbetrieb beschäftigt war. Ein paar Minuten später liefen dann alle Filme, und während sich die Kinogänger an den Filmgeschichten erfreuten, hatte ich mich nun ins Foyer und in den Kassenraum zu begeben, denn der Getränkeautomat, der an einer Foyerwand stand, als auch der Bestand an den viele Sorten umfassenden Süßwaren, die die Kassiererin verkaufte, mußte aufgefüllt werden. Das Lager für das Bier und die Limonaden und die Süßwaren befand sich im Keller des „Filmtheaters“ (so dürfte es noch immer sein), und im Kassenraum dieses Kinos waren ebenfalls Süßwarenkartons aufgestapelt. Ich wuchtete die mit den leeren Flaschen, die am Abend zuvor nach der Nachtvorstellung im „Urania“ und „Stardust“ eingefüllt worden waren, inzwischen vollen Bier- und Limonadenkästen auf einen Sackkarren, den ich aus dem Anbau an der dem Hof zugewandten Seite des „Filmtheaters“ geholt hatte, und transportierte die oft drei oder vier Kästen über den Hof zwischen den Kinogebäuden und hatte auch den Zettel in der Tasche, auf den die Kassiererin die Bezeichnungen der zu besorgenden Süßwaren geschrieben hatte. Regen fiel, Schnee sank nieder, die Sonne hockte prall mit Photonen gefüllt am Himmel, oder graue Wolkenreservoire, die ihre Wasservorräte noch nicht ausgaben, zogen drohend über die Dachfirste – ich schob, Tag für Tag oder Abend für Abend, den Sackkarren über den Hof, stellte ihn vor den Türen des „Filmtheaters“ ab, hievte den obersten Kasten empor, betrat das Kinofoyer und ging nach links zur Kellertür hinter dem kurzen Tresen für den Süßwarenverkauf, öffnete diese Tür (oder sie stand schon offen), trug den Kasten die Steintreppe hinab, sortierte dort aus dem Kasten die Flaschen der jeweiligen Getränkesorten in die verschiedenen leeren Sortenkästen, die, dann gefüllt, auf den Abtransport durch den Getränkelieferanten harrten; sofern Getränkekästen harren können. Ich nahm einen vollen Kasten vom Sackkarren vor der Tür, oder, so war de facto mein Umgang mit den Kästen, ich hatte schon die leeren vom Karren genommen und im Foyer vorerst abgestellt, hatte den Karren ins Haus gezogen, alle Kästen dann hinunter getragen, ehe ich volle Kästen hinauf schleppte. Während ich leere und volle Kästen umher trug, stellten die beiden Damen, die an diesem Sonntag als Kassiererin und Platzanweiserin Dienst taten, im Kassenraum das Sortiment, das zum Verkauf in der „Urania“-Kasse, in der auch die Eintrittskarten für’s „Stardust“ und „Sternchen“ zu haben waren, benötigt wurde, in Schachteln zusammen. War dies getan, gab’s Kaffee, vor allem dann, wenn die Damen Villemain und Geister in Kasse und Kino zu tun hatten. Frau V., mittelgroß, im Jahr 1992 schon jenseits des sechzigsten Lebensjahrs, arbeitete seit dem Ende der fünfziger Jahre im Filmtheaterbetrieb K., allerdings nicht jeden Tag, eine Schwäbin, die in der Karpfengasse wohnte, auch zu der Zeit, in der die WG in der Nummer 24 existiert hatte, wir kannten uns aber in jener Zeit noch nicht; in den Wochen und Monaten, in denen das „Schützentheater“ ein neues Stück einprobierte und während und nach dem „Schützenfest“ spielte, war sie als vieljährige und langerprobte Garderobiere hinter den Kulissen tätig. Im Kino war sie als Platzanweiserin nicht wegzudenken. Frau G. hatte in der Mitte der achtziger Jahre als Kassiererin begonnen; eine krebskranke, tapfere und willensstarke Frau, immer zu einem flotten Sprüchlein aufgelegt, mittleren Alters, als sie mit dieser Arbeit begonnen hatte, die sich ohne zu klagen von Jahr zu Jahr durch’s Leben kämpfte; im Sommer dieses Jahres 2002 starb sie. Mit beiden Damen pflegte ich gutes Einvernehmen; und nicht nur sonntags gab‘s von ihnen Kaffee und Kuchen, die kleine Labsal zwischendurch. Beides verzehrte ich im Stehen in dem mit einer sehr alten Sitzgruppe, Schränken und Türmen aus Süßwarenkartons vollgestellten Kassenraum, wobei Tasse und Teller eben auf einem der niedrigeren Kartonstapel an der Wand plaziert waren. Dann dankte ich für diese Gaben und begann Kästen und Kartons, der Sackkarren stand wieder vor dem Haus, hinauszutragen und aufzuladen, bis obenhin, fast immer. Langsam schob ich den Karren jetzt in die andere Richtung. Unten vor der Treppe zum „Urania“-Foyer blieb er stehen, bis ich Kartons und Kästen hinein getragen hatte, die vollen Flaschen in den Getränkeautomat eingestapelt hatte, dann rollte ich ihn zum Abstellraum, wo er bis zum nächsten Einsatz, an manchen Tagen noch ein zweites Mal an einem Abend, stand. Nun endeten die Filmvorstellungen auch schon bald, die Filme, die Projektoren, mußten rechtzeitig abgeschaltet werden, wenn der Nachspann durchgelaufen war; oft war ich nun der Vorführer, der die Vorhänge, verbunden mit den seit-lichen Blenden, schon über die Bildwand schickte, wenn die Titel noch nicht ganz von unten nach oben verschwunden waren und der das Licht schon aufglimmen ließ. Die Prozeduren der Vorbereitungen für die nächste Vorstellung wiederholten sich, und für die letzte Vorstellung um 20.30 Uhr, wenn die Anfangszeiten wegen „Überlänge“-Filmen (aber in den Neunzigern sprach man kaum noch von „Überlänge“, ein Film dauerte eben so lange, wie er dauerte) nicht sowieso andere waren, noch einmal. Zwischendurch, während die Filme liefen, waren Schaufensterdekorationen zu erledigen, andere Filmbilder, auch -plakate, waren an den Aushangflächen, auch sonntags, anzubringen, auch das, was in den Innenschaukästen hing, mußte häufig ausgetauscht werden, und die Anfangszeiten, die der Kinobesitzer in fast jeder Woche frisch auf bunte kleinformatige Zettel schrieb – und manchmal dauerte es, bis er das tat, und dann wollte er nicht glauben, daß eben diese doch eigentlich so häufig gebrauchten steifpapierenen Anfangszeiten-Zettel, nicht vorhanden sein sollten, und warum er schon wieder neue schreiben müsse? Und nur Anfangszeichen in seiner Schrift galten, obwohl auch ich dann und wann, wenn er auf Reisen war, und das war er sehr oft, welche schrieb. Doch nur die von ihm geschriebenen Anfangszeiten-Zettel waren die einzig vorzeigbaren. Diese Anfangszeiten, ein Wort, das in fast schon absurd klingender Häufigkeit gebraucht wurde, mußten, da es ja unter der Woche keine Nachmittagsvorstellungen gab, außer in den Schulferien, unermüdlich ausgewechselt werden. Während die Filme liefen, machte ich – im Foyer fertig geworden – oben im Vorführraum einen Film spielfertig, der ein paar Tage später eingesetzt wurde. Auf dem Umroller sah ich mir den ganzen Film, Meter für Meter, nach Schäden an, die zu Vorführunterbrechungen führen konnten. Der Umroller bestand aus zwei gedrungenen Metallstäben, die auf der dunklen Platte des Holzarbeitstisches festgeschraubt waren (oder sind), auf die die Filmspulen von „hinten“ draufgesteckt wurden. Am rechten Stab hing eine Kurbel, die gedreht wurde; so wurde der Film, Akt für Akt, von der linken Spule zur rechten umgekurbelt und mit den Fingern der linken Hand fühlten die Vorführer, denn es gab außer mir noch einen Aushilfsvorführer, ob der Filmstreifen Risse und Perforationsschäden aufwies. Wie oft reparierte ich stundenlang solche Filmschäden mit dem klobigen Klebegerät! Legte ich kurze Tesafilmbahnen über die Breite des Streifens, korrigierte ich falsch zusammengeklebte Filmstreifen, die, unbehandelt, während der Vorführung den „Bildstand“ verändert hätten, die Köpfe der Schauspieler beispielsweise in irgendwelche Regionen oberhalb der Bildwand versetzt hätten, oder die, auch das kam bei falschem „Bildstand“ vor, ohne Beine gewesen wären; die dann nur als Torsi agiert hätten; und quer über die Handlung verlief dann ein Balken, das war der auf dem Filmstreifen nur sehr dünne Strich, der ein Bild vom anderen trennte; der Bildstrich. Aber freilich: manchmal übersah ich solche Fehler auf der Filmbahn (und nicht nur ich). Dann hieß es, bis zur nächsten Vorstellung möglichst nachzubessern, oder zu einer bestimmten Sekunde neben den Projektor zu stehen und mit einer schnellen Regulierung das Bild hinauf- oder hinabzuziehen, so daß das ganze Bild wieder richtig „stand“. So vergingen die Sonntage, und nicht nur sie, bis alle Vorstellungen beendet waren und die Kinos abgeschlossen wurden; auch das besorgte ich über viele Jahre hinweg, nachdem ich als letzter Kontrolletti durch die Kinosäle gewandert war, abgeschlossene Saaltüren und verlassene Toiletten nachgeprüft hatte. Die Notbeleuchtungen schaltete ich im Vorführraum aus. Die Gleichrichterelektrik auch – endlich erstarb das beständige tiefe Brummen im Vorführraum, eine etwas unwirkliche Stille breitete sich zu dieser Minute der Nacht aus, nach dem Getöse, das seit dem Nach-mittag kontinuierlich vorhanden gewesen war. Die Damen im „Sternchen“ räumten noch eine ganze Weile lang auf, rechneten ab, und war A.K. außer Haus, so wartete ich, bis auch sie fertig waren; gemeinsam verließen wir das Gebäude durch den Privateingang, auch ihn schloß ich ab. Im Hof stand dann nur noch das Auto der „Sternchen“-Dame, und wenn ich sie brav bat (sehr oft tat ich das), fuhr sie mich vor den Wohnblock am Klauflügelweg.
- Vormittags bedeckt, nachmittags sonnig, aber kalt. Schöne Westabenddämmerung über der Stadt; rote Sonne.
10.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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