30
Nov

30.11.2002

In einer der ersten Nächte im Mai 1982 kam ich vom Kino in die Wohnung in der Hermann-Volz-Straße, betrat mein Zimmer (Kater Panama hatte mich im Flur oder in der Küche, wo seine Näpfe standen, schon lebhaft begrüßt), schaltete Licht ein, griff wahrscheinlich zur Rotweinflasche und goß mir in das Glas aus der Küche, in der ich bestimmt auch für kurze Minuten gewesen war, vielleicht hatte ich noch ein Hungergefühl gehabt, etwas vom roten Getränk ein, trank ein paar Schlucke, trat dann vor die neben meinem Zimmer zum Schlafzimmer meiner Mutter Zugang gebende Tür, öffnete leise – eine meiner Angewohnheiten war es seit langer Zeit, einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer zu werfen, sofern ich nachts in diese Wohnung kam – ob meine Mutter schlief oder wach liege und „grübelte“, was häufig so war. Oder ich bemerkte in meinem Zimmer, daß sie unruhig, aber langsam durch die Wohnung schritt, im Morgenmantel, weil sie nicht schlafen konnte und ihre Erinnerungen sie quälten. In jener Nacht leuchtete noch die Nachttischlampe neben ihrem Bett. Etwas am Schlaf meiner Mutter erschien mir eigenartig zu sein, ich trat näher heran und erkannte sofort, das etwas nicht in Ordnung war. Sie schlief sehr, sehr fest. Unnatürlich fest, denn als ich sie behutsam an der Schulter faßte und etwas bewegte und sie ansprach, rührte sie sich nicht. „Schlafen, ich will nur noch schlafen“, hatte sie schon früher in den siebziger Jahren öfters matt gesagt. Ihre ständige Erschöpfung war ein Symptom ihrer Depression, ihres tiefen Leidens an der Welt, an ihrer Lebenssituation, aus der auch ihr Gott sie nicht herauszuführen gedachte. Ich kann nicht beurteilen, wie es in den späten siebziger und beginnenden achtziger Jahren um ihren Gottesglauben stand. Wir sprachen schon lange nicht mehr über dieses Thema, nur in einem nächtlichen Wortwechsel, in ihrem und meinem in schmerzlicher Verzweiflung leisen Reden, eines Nachts am Ende des Novembers im Jahr 1983, kam es noch ein letztes Mal in unseren in jenen Jahren immer seltener geführten Gesprächen vor. Ich schöpfte in der Mainacht des Jahres 82 sofort Verdacht. Meine Mutter war nicht aufzuwecken. In Panik verließ ich die Wohnung, rannte zur Telefonzelle vorn an der Einmündung der Amriswilstraße in die dort zum Mittelberg verlaufende Querstraße; die dreihundert Meter oder mehr wurden mir lang, sehr lang; ich stürzte in die gelbe Zelle hinein, steckte – plötzlich ganz ruhig – die während des Rennens und raschen Gehens aus der Geldbörse hervorgeholten Münzen in den Schlitz, wählte die Notrufnummer der Polizei. Eine Stimme meldete sich, hastig sprach ich meinen Verdacht, daß meine Mutter eine Überdosis ihrer Schlaftabletten genommen habe, in die schwarze Halbkugel des klobigen Telefonapparathörers und bat, sofort den Notarztwagen zu schicken. Ich gab den Namen und die Adresse an. Rannte zurück. Zeit verstrich. Wann endlich kam das Arztauto?! Ich versuchte, meine tief, tief schlafende Mutter aufzuwecken; vergeblich. Der Notarzt kam, zwei Sanitäter trugen die Trage in die Wohnung. Zwei Polizisten folgten ihnen, standen etwas abseits im Flur. Kater Panama hatte ich in die Küche eingesperrt. Die Sanitäter trugen meine Mutter die Treppe hinab; wir wohnten ja im ersten Stock. Der Krankenwagen fuhr in gespenstiger Langsamkeit ab, ohne Blaulicht und Sirene, es war tiefe Nacht, gegen zwei Uhr. (Nicht einmal ein Telefon hatten wir in der Wohnung.) Die Polizisten nahmen zur Protokoll, was ich zu sagen hatte. Im Polizeiauto gelangte ich zum Krankenhaus, ich stieg aus, sie kehrten zu ihrer Dienststelle um. In einem Gang wartete ich, bis ein Arzt mir etwas sagte. Was sagte er? Wie kam ich wieder in die Wohnung auf dem Hühnerfeld? Mit dem Taxi? (Wie gut, wie ahnend, daß ich nicht in meiner Kinokammer unter dem Dach des „Urania“ geblieben war!) Ich war dann wieder in der Wohnung (ging ich zu Fuß zur Wohnung?), redete noch etwas zum Kater, trank Wein, legte mich, mit einem Mal sehr müde geworden, hin. Am nächsten Mittag, es war ein heller sonniger Tag, fuhr ich mit dem Bus zum Krankenhaus. Wartete auf den Arzt. Der kam, sagte, sie hätten meiner Mutter eben noch rechtzeitig den Magen ausgepumpt. Ob so etwas schon einmal vorgekommen sei? Ich verneinte. „Wir behalten sie erst einmal für zwei oder drei Tage hier, dann sollte man sich etwas überlegen.“ Ich wußte, was er meinte: Therapie in einer psychiatrischen Klinik, gegen die endogene Depression. Davon hatte der Arzt schon aus einem Telefongespräch mit dem Hausarzt – oder praktizierte noch Frau Dr. F.-T. zu jener Zeit? – erfahren. „Das kann wieder passieren“, sagte der Arzt. Mir war das doch seit vielen Jahren klar! Ich hatte ja auch beobachtet, in welchen Zustand meine unglückliche Mutter seit Ende der siebziger Jahre geraten war. Aber was konnte ich tun? Einmal war ich nahe daran gewesen, ihr die Tabletten wegzunehmen und sie in eine Klinik einliefern zu lassen. „Bitte nicht ins Krankenhaus, lieber Klaus, bitte nicht“, hatte sie auf meinen Vorschlag geflüstert. Ich hatte daraufhin nichts unternommen, ihr nur ernsthaft gesagt, so ginge es einfach nicht mehr weiter. Dann hatte ich wieder mit meinen eigenen Verstimmungen zu tun. Die Hilflosigkeit, in der ich mich sah, erbitterte mich zusätzlich. Gespräche mit Mama, die ich gelegentlich anzufangen versuchte, endeten fast immer in ihren Tränenausbrüchen und waren danach unmöglich. Wahrscheinlich dachte meine Mutter, diese Erbitterung, die sich mit der über meinen Stillstand und mit der Unzufriedenheit, diesen Kinojob machen zu müssen, verband, mit der Perspektive, in diesem Provinznest versauern zu sollen, richte sich böswillig gegen sie. Und es gab Tage, in denen ich nichts mehr wünschte, als der ganzen mißratenen Gesamtlage entfliehen zu können. Deshalb hatte ich auch das Angebot des Filmtheaterbesitzers, die Dachkammer für meine Zwecke benützen zu können, dankbar angenommen, denn ständig konfrontiert mit der Atmosphäre von Niedergeschlagenheit und körperlicher Krankheit in der Wohnung, war es mir fast unmöglich geworden, auf der IBM noch etwas zu Papier zu bringen. Auch benahm ich mich in manchen Stunden meiner Mutter gegenüber unmöglich, ruppig, und das tat zur Depression, unter der meine arme Mutter ja am meisten litt, das seine dazu. Meine Seelenmittel blieben Wein und Whisky, die ich mit dem nun erst recht möglichen „Recht auf Selbstmedikation“, wie ich das nannte, zu mir nahm. Meine Mutter ging für fast zwei Monate in eine Klinik im Süden Oberschwabens; zunächst in diese, dann in die andere, die näher lag. Ich besuchte sie einmal in zwei Wochen an meinen freien Montagen. Es schien ihr besser zu gehen, ihr Verhalten wurde wieder lebendiger. Ich hoffte inständig, es bliebe so, malochte im Kino, ging spätabends oft noch aus, fand nicht, was ich suchte.
- Keine wesentliche Veränderung der Witterungsverhältnisse.
30.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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