KD

31
Dez

31.12.2002

Nach den Weihnachtstagen von 1977 saßen Simca G., Henri H. und ich im „Alten Haus“ und dachten an Sylvester. Wie diese Nacht hinter sich bringen? Simca studierte inzwischen in ....; hieß die Stadt nicht München? Ich kannte sie seit den linksradikalen Jahren am Anfang des Jahrzehnts. Henri H., ein nicht sehr großer Typ mit rundem Gesicht und einem kurz geschnittenen Vollbart darin (ein Hetero wie alle die ich kannte), hatte die Angewohnheit, die Meinungen, die er vertrat, in dezidiertem Ton vorzutragen, als gäbe es von dieser seiner Meinung keine mögliche Abweichung. „So läuft das“, oder „da kannst du drauf warten, daß es so kommt“, sagte er, selber völlig überzeugt davon, und griff nach dem Bierglas. Ich bemerkte hin und wieder, daß dieser Tonfall, dieses Überzeugtsein von der richtigen Sichtweise eigentlich banaler Vorkommnisse mir auch nicht fremd war, und eher habe ich es seit jenen Tagen noch deutlicher werden lassen. Ja? Aber mit H.H. hatte das nichts zu tun, wir waren uns darin nur ein wenig ähnlich. Wir überlegten also, was in der Sylvesternacht zu tun sei und vereinbarten, etwas Geld zusammen zu legen und eine gemeinsame Party in meinem Zimmer im Haus in der Karpfengasse zu geben. Am 31. Dezember fuhren wir mittags in einen großen Supermarkt am Rand der Stadt – Simca fuhr, H.H. hatte wieder einmal ein Auto demoliert und war ohne Führerschein – und luden Alkoholika und Knabberzeugs in Körbe und schleppten eine halbe Stunde später alles in mein Zimmer hinauf. Ich stellte ein paar Möbel anders hin, um Platz zu schaffen, schloß am Nachmittag das Zimmer ab (im Frühjahr waren eine Menge Jazz-Platten von Markus M. und ein paar von meinen alten Pop-Platten am Tag nach einem anderen Umtrunk aus meinem Zimmer geklaut worden, es bedurfte ja nicht sehr weitgehender Kenntnisse, um das alte Schloß zu öffnen) und ging zur Wohnung im Hühnerfeld, wo ich, Wein trinkend, lesend in meinem Raum, die Zeit zubrachte, bis nach zwanzig Uhr meine Mutter das Sylvesteressen auf den Tisch stellte. Danach spazierte ich in die Stadt hinunter in die Karpfengasse. In den Straßen und Gärten knallte und zischte es selten; es herrschte noch, wie zu jedem Jahresende, die Ruhe vor dem Sturm. Nach neun Uhr am Abend trafen die ersten Partyleute ein. Der Kater Panama versteckte sich unter einer ausrangierten Kommode im Flug, die Hektik verschreckte ihn. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn wieder ins Zimmer zurück, wo er sich in eine Ecke verkroch. Ich wollte nicht, daß er aus dem Haus abhaute, wie er es schon zweimal in den Jahren, die ich dieses Haus bewohnte, getan hatte und ich tagelang in Sorge gewesen war. (In den Jahren im Appartment im fünften Stock wollte er dann immer, wenn sich Gäste um den Holztisch von Herbert Kohout versammelten, dabei sein und legte sich gemütlich neben den Stuhl, auf dem ich saß, so daß ich über ihn hinweg steigen mußte, wenn ich eine neue Flasche oder ein frisches Glas aus der Küche holte; er rührte sich.) Allmählich füllte sich mein Karpfengassenzimmer mit Leuten an. Markus hatte wider bessere Erfahrung seinen Plattenspieler und zwei Boxen herein getragen und aufgestellt, Jazz pulsierte durch das Haus, denn oft genug blieb die Tür offen stehen, die ich wegen der Kälte, die auf dem Gang hockte, und wegen Panama immer wieder schloß. Es kamen Leute, die ich kaum kannte, die zu Simcas Freundeskreis gehörten oder die sich hatten sagen lassen, daß in der Karpfengassen-WG eine Party stattfand. Doch störte mich das nicht. Es war ein offener Abend; auf dem bemerkenswerterweise kaum etwas zu Bruch ging. Gegen später trank ich nur noch Scotch, wurde aber nicht betrunken, was ich auch nicht werden wollte, denn bei solchen Festen, bei denen ich zu den Gastgebern gehörte, behielt ich gern den Überblick. Die Körbe mit den vollen Flaschen wurden geleert, Salzstangen und -brezeln und allerlei Partygebäck gemümmelt. Ungefähr fünfzig Leute kamen und gingen während der Nacht, hielten sich eine Weile im Zimmer auf, traten hinaus, kamen wieder. Spät, der Morgen war nicht mehr fern, saß ich in einem der blauen Sessel im hinteren Teil des Raums, drehte das Whiskyglas in den Fingern und plauderte mit Charles, meinem ehemaligen Zimmernachbarn, der zu den Feiertagen zum Elternbesuch in das Dorf in der Nähe von Ochsenhausen angereist war, erzählte ihm viel von Prousts „Recherche“. Jahre danach sagte er mir, daß dieses Morgengespräch ihn dazu veranlaßt habe, sich dies Werk der Erinnerung zu kaufen und zu lesen. Hinter den beiden Fenstern stieg der Neujahrsmorgen mit grauem Licht auf; niemand wußte, was nach ihm im Leben geschehen würde.–
So viel Zeit ist vergangen ...
Es wird also wieder ein Jahr beginnen, eine Zahl wird sich verändern, und ein neuer Zyklus, der mit Krieg anfängt, kann nur für jene ergiebig sein, die daran verdienen. Während die einen ihre Restillusionen verlieren, stürzen andere sich freudig in ihre neuen hinein. So ist auch das vor den Pforten schon wartende Jahr kein neues, sondern ein eigentlich längst altbekanntes, das die Wiederkehr des Immergleichen, mit Talmi aufgeputzt trügerisch glänzend, mit Orden für’s Morden, mit der frechen Zurschaustellung der weltlichen Legitimität von Raubgier und Machwahn, zelebrieren will. Die Menschen bleiben sich ja auch immer gleich, wieso sollten Jahre es anders halten? Nur die Spiegelungen und Widerspiegelungen auf den Oberflächenstrukturen, die Erlebnis, gute Geschäfte, verheißen, reflektieren ein wenig anders, verschieben ihre Trugbilder in eine weitere Variante der Verzerrungen hinein (die man „die Wechselfälle des Lebens“ nennt), aber sonst bleibt sich alles gleich. Etwas Neues ist ja nur die Ausgeburt von etwas Altem; wenn das Alte zu spät gebiert, könnte das Neue eine Fehlgeburt sein. Und gebiert das Alte zu früh, kann man eines Tages – „eines schönen Tages“ – das Neue vom Alten kaum unterscheiden. Aber das ist nur Raisonnement am äußersten Rande eines Jahrs; in dem ich durch viele Jahre gegangen bin – in meiner Biberacher Zeit.
- Ein sonnenstrahlender Tag mit sehr kaltem Wind.
31.12.2002

30
Dez

30.12.2002

Nach meinem letzten Arbeitstag im Kino – 18. Juni 1997 – begann meine Biberacher Zeit auszulaufen ... Einen Tag nach meiner Rückkehr von der Matinee der Marcel Proust Gesellschaft fuhren Bruno B., Raphael und ich für eine Woche nach Berlin. In Berlin war es heiß. Wir streiften herum und fuhren einmal nach Potsdam zu Hartmut und Edda, wo wir Kaffee auf der Datscha-Veranda tranken und Kuchenstücke aßen. Einmal fühlte ich mich unwohl und bat Raphael, mir etwas von seinen Baldrian-Tropfen, die er, was ich etwas eigenartig fand, mit sich führte, zu geben. Die wenigen Tropfen, die ich mit Wasser einnahm, verursachten einen Schweißausbruch: der Alkohol, den ich nicht mehr gewohnt war, zeigte Wirkung. Raphael und Bruno gingen, ich blieb auf der Matraze in der noch unsanierten Wohnung von Stefan H. liegen und war erst wieder abends fit. Wir fuhren ins nach-schützenfestliche sommerlich-hitzestrahlende Biberach zurück. Ich ging jeden Tag zu Klaus Leupolz, der an dem Reisebericht über seinen letzten Trip nach Südostasien schrieb, oder schon damit fertig war. Seine Krankheit schritt fort. Ich tippte die literarischen Zeilen ab, Raphael druckte die Seiten aus. Ich war glücklich, den Job endlich hinter mir gelassen zu haben. Ich war arbeitslos und genoß es, zumal ich mein Arbeitslosengeld wegen der Kündigung aus gesundheitlichen Gründen ohne dreimonatige Sperre kassieren konnte. Die Bronchitis, für die ich mir ein Attest hatte ausstellen lassen, die ich mir nach einer nicht auskurierten Sommergrippe im Jahr 1990 eingehandelt hatte, war Grund genug, daß meine gesundheitliche Beeinträchtigung von den Ämtern akzeptiert worden war. Ich schrieb einen längeren Text über die Woche in Berlin. Meine Kurse in der Jugendkunstschule hielt ich noch bis zum Sommer von 1998, und mit einer Lesung meiner jugendlichen Literaturfreunde Tilo W., Matthias D., Felix N., Katrin M. und Martin G. im Braith-Mali-Museum, zu der ich auch einen zehnminütigen Super-8-Film aus Material, das Manfred S. und ich auf unseren Autotouren durch die Schweiz im Jahr zuvor aufgenommen hatten, laufen ließ, beendete ich sie. Fast jeden Tag besuchte ich Klaus L., der nun im Rollstuhl, halbseitig gelähmt, noch in seiner Wohnung war. Auch der Lese- und Schreibkreis, den ich einmal in den Monaten der zurückliegenden Jahre, seit 1994, im „Harmonietürmchen“ am Zeppelinring, einer Begegnungsstätte des Sozialpsychiatrischen Dienstes, angeleitet hatte, trat in jenem Sommer wieder mit einer Lesung von neu entstandenen Gedichten an die Öffentlichkeit. Im Herbst übernahm eine Lehrerin die Anleitung in diesem mir immer als sinnvoll erschienenen Schreibzirkel. Im Auftrag eines Werbemenschen schrieb ich in dieser Zeit als Ghostwriter schon einige Kurzgeschichten nach den authentischen Erlebnissen eines Unternehmers in der Touristikbranche, die der Werbemann bei Books on Demand zu einem schmalen Taschenbuch zusammenfaßte. Das war das persönliche Weihnachtsgeschenk des Unternehmers für seine Geschäftsfreunde. Mit dem Geld, das ich dafür erhielt, finanzierte ich am Novemberende wieder die Reise nach Berlin, um mich um meine von der BfA bezahlte Ausbildung zum Online-Redakteur zu kümmern. Das Geld reichte dann noch für einen „kleinen“ Umzug nach Berlin im Januar des folgenden Jahres in ein Neubauzimmer in dem Teil der Adalbertstraße, der von 1961 bis 1989 „hinter der Mauer“ gelegen hatte; in Mitte und nicht in Kreuzberg. Ronald von R. und seine Lebensgefährtin, beide freie Journalisten, fuhren ihren VW-Bus oder Ford-Transit mit meinen Sachen, zu dritt hockten wir vorne in der Fahrerkabine. In Berlin war die Vermieterin nicht in der Wohnung. Von der Telefonzelle, die auf der anderen Straßenseite stand, rief ich ihr Handy an. Wir tranken etwas in einem Freaklokal im Kreuzberger Teil der Adalbertstraße. Wie sich herausstellte, lebte Madelaine K., die junge Vermieterin, die ihr Zimmerangebot im „Zitty“, einem der Stadtmagazine Berlins, inseriert hatte, die immer erst abends zur Abend mußte, in prekären Verhältnissen. Es gab Schlüsselprobleme. Eine eiskalte Februarnacht verbrachte ich notgedrungen in der Wohnung meiner Kusine im Prenzlauer Berg. Ein Typ, etwa Anfang vierzig und unauffällig-alltäglich angezogen, schleppte M. – sie war betrunken oder hatte andere Stoffe in sich oder war auch nur völlig erschöpft – an einem Sonntagnachmittag in die Wohnung und trat anschließend in das Zimmer, das ich gemietet hatte und fragte, was ich hier eigentlich zu suchen hätte. Außerdem wüßte ich doch, daß ich ausziehen solle. Er war beruhigt, als er erfuhr, daß meine erotischen Interessen nicht dem weiblichen Geschlecht gelten. Er wurde leutselig. „Für mir keen Problem“, meinte er, „ick kenne ooch welche. Wenn de mal wat brauchst: ick besorge dir allet. Keen Problem. Du kannst allet haben.“ Ich dankte freundlich und er ging. Ich sah zu, mich in einer neuen Behausung niederlassen zu können und war heilfroh, als Stefan H. mir anbot, mit ihm in der Umsetzerwohung in der Veteranenstraße am Weinbergspark eine Zwei-Mann-Wohngemeinschaft zu bilden. Meine Kusine und ihr Sohn Grischa halfen mir beim Umzug. Wir luden die wenigen Möbel, den Teppich, eine halbvolle Bücherkiste in ein Fahrzeug von „Robben & Wientjes“ und verstauten alles teils in Stefans Wohnung, teils in seinem Keller. Zwei Tage später, am Gründonnerstag, fuhr ich nach Biberach. Mein Appartment im fünften Stock hatte ich noch. Über die Feiertage packte ich hier meinen Besitz umzugsfertig zusammen und ließ mich in den Kneipen der Stadt kaum sehen.
Raphael hatte sein Studium in Berlin im Herbst 1998 aufgenommen und wohnte zusammen mit seinem Kinderfreund aus dem gleichen Ort bei Biberach in der Katzbachstraße in Kreuzberg. Am 31. Juli 1999 unternahm ich mit der Hilfe von Uli, dem Lebensgefährten meiner Kusine und einem meiner Cousins, Stephan, den „großen“ Umzug nach Berlin. Mit einem roten LKW fuhren wir eine Sommernacht lang nach Biberach, schliefen drei Stunden, packten dann (der Hausmeister und eine vor Ort angeheuerte Hilfskraft halfen auch) den größeren Teil meiner Habe ein. Ich warf einen letzten Blick vom Balkon hinüber zur Kette der winzigen Alpenspitzen und schloß für immer diese Wohnungstür, durch die ich vierzehn Jahre und in den fünf Monaten danach auch noch ein paar Mal hindurchgegangen war, hinter mir. Wir parkten den LKW auf dem Marktplatz, tranken einen Kaffee im „Vienna“ und aßen, nach einem kleinen Spaziergang durch Biberach, später im Biergarten des „Biberkeller“ am unteren Ende der Gaisentalstrasse zu Abend. Thomas G. gesellte sich schließlich hinzu. Wir spazierten in der Dämmerung zum Marktplatz, stiegen ein, rollten durch die Nacht nach Berlin. Am 1. August endeten (glaubte ich ...) meine Jahre in Biberach. Nun war ich ein Berliner. Kein Mensch in Biberach hatte angenommen, daß ich je noch einmal die Stadt verlassen würde. Ich fuhr ein paar Mal danach in die kleine Stadt, wegen einer Lesung, aus anderen Gründen und um Klaus, der inzwischen in Biberach – nach Aufenthalten in einem Sterbehospiz in Friedrichhafen, wo nicht nur ich ihn einige Male besucht hatte, und einem stinkenden Altenheim in Ravensburg, und auch dort schoben wir aus seinem engsten Freundeskreis seinen Rollstuhl über die Gehwege – in einem Pflegeheim lag, der Sprache und des Hörvermögens beraubt, auch der Sehkraft, abgemagert bis auf die Knochen, zu besuchen, auch wenn er von diesen Besuchen wahrscheinlich nichts mehr wußte, obwohl ich ihm – in der Hoffnung, daß er vielleicht doch noch etwas hörte – erzählte, was mich wieder einmal nach Biberach getrieben hatte. Am letzten Septembertag von 2001 – seit mehr als einem Jahr hatte ich mit meiner Chemotherapie zu tun – warf ich beim Verlassen seines Krankenzimmers einen letzten Blick zurück. Mir war klar, daß ich ihn in dieser Sekunde zum letzten Mal sah. Er starb am 11. November, sein Bruder H. rief mich an.
- Unansehnlicher Spätdezembertag.
30.12.2002

29
Dez

29.12.2002

In diesem Jahr 1979 gründeten junge Schwule, von denen ich nichts wußte, die mir auch erst später im Jahr zum ersten Mal über den Weg liefen, weil sie oft gemeinsam ins Kino gingen, doch tatsächlich eine Schwulengruppe für den Landkreis. HELB e.V., „Homosexuelle Emanzipationsgruppe Laupheim-Biberach e.V.“, hieß dieser Verein. Einer von den Mitgliedern, ein großer schlanker Typ, in nicht allzu auffälliger Weise effeminiert, begegnete mir häufiger; oft hockte oder stand er, allein oder mit einem älteren Kollegen mit Schnauzer, in den Schaufenstern eines Textilhauses in der Innenstadt, an dem ich, vom Bus kommend, der auf dem Marktplatz den Start- und Endpunkt seiner Stadtroute hatte, durch die Schrannenstraße, in der die Stadtbibliothek sich befand, gehend, vorbeikam, wenn ich – damals erst am frühen Abend – zum Kino ging. Wir grüßten dann einander mit einem Handzeichen. Er wohnte in meiner Gegend auf dem Hühnerfeld, fuhr einen Ford Capri, ein Automodell, das damals eine Art Sportwagen für den mittelprächtigen Geldbeutel war und inzwischen, weil es schon lange nicht mehr hergestellt wird, ein Auto für Liebhaber geworden ist. Es kam an den Wochenenden manchmal vor, daß er mich mitnahm hinunter in die Stadt, wenn ich zu Fuß meinen Weg zum Kino ging und wir uns auf der Amriswilstraße des Hühnerfelds zufällig sahen. Er war freundlich, jedoch nicht mein Typ. Einige Männer aus dieser Gruppe frequentierten das „Alte Haus“, gelegentlich sah ich sie dort, wenn ich mit jemanden aus meinem Kreis dort saß, dann winkte man sich über die Tische hinweg zu, was mich jedoch nie veranlaßte, meinen Sitzplatz zu verlassen, um ein paar Worte mit diesen Jungs, die um etliche Jahre jünger als ich waren, zu wechseln. Nicht, daß ich mich nicht mit ihnen hätte sehen lassen wollen, es war nur so, daß mich keiner von ihnen interessierte. Keiner war mir hübsch genug. Den Namen dieses Dekorateurs habe ich vergessen. Nicht vergessen dagegen den von Herbert T., der, soweit mein sehr spärlicher Einblick ins Geschehen der HELB, in deren Gruppenraum ich nur einmal mit Jean D. – wir erinnern uns an den Vorfall auf dem Balkon? – erschien, weil er die jungen Männer dort kennen lernen wollte, nachdem ich ihm von der Existenz der Gruppe etwas gesagt hatte, mir überhaupt eine Einschätzung erlaubt, einer der motiviertesten Gruppenmitglieder war. Diesen Eindruck hatte ich zumindest zu Beginn der Neunziger, als er einer der Organisatoren der „1. Schwul-lesbischen Kulturtage“ in Biberach war, die 1991 oder 1992 ein für die Provinz nahezu unglaublich vielseitiges Programm für vier Wochen aufboten. Die Kulturtage wurden in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt und der VHS durchgeführt, und am Eröffnungsabend sprach die Leiterin beider Ämter, Marianne Sikora-Schoeck, im gut gefüllten Foyer der VHS davon, daß die Stadt Biberach selbstverständlich auch die kulturellen Initiativen von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen unterstütze. Zwanzig Jahre, oder fünfzehn, zuvor wäre dies undenkbar gewesen. Biberach – nicht nur eine ehemalige APO-Hochburg, sondern auch eine Stadt für Schwule und Lesben? Wo waren die Schwulen in früheren Jahren gewesen? Sie hatten sich so gut getarnt, daß ich nie einen von ihnen erkannt hatte. Natürlich ist Biberach nach wie vor keine Stadt für Schwule und Lesben. Wenigstens war die Schwulenbewegung im Jahr 1979 auch in Oberschwaben angekommen, und dann dauerte es immer noch mehr als zehn Jahre, bis das Vorhandensein dieser „Minderheit“ offiziell angesprochen wurde. Im Oktober 1995, als die „2. Schwul-lesbischen Kulturtage“ stattfanden, war ich als Lesender aus eigenen Texten mit dabei. Herbert T. hatte mich, nachdem ich im Frühjahr in der VHS Lyrik gelesen hatte, angesprochen, ob ich etwas beitragen könne. „Das schwule Thema“, sagte ich ihm durchs Telefon, „ist eines, das ich eher selten erwähne, doch ich habe ein paar Texte, in denen ich ausdrücklich darauf zu sprechen komme.“ Der neue Oberbürgermeister F., ein SPD-Mann, übernahm die Schirmherrschaft und lud, als die Tage im Oktober herangenaht waren, auch ins Rathaus ein, wo er eine freundliche Rede hielt. An einem Samstagabend holte mich ein junger Typ, der mich siezte, was ich seltsam fand (so alt war ich doch noch gar nicht ...), vor der Wohnblockeingangstür ab und wir fuhren zum Pestalozzi-Haus, in dem die Jugendmusikschule ihren Sitz hatte und hat, in dessen Saal, mir seit Jahrzehnten bekannt, Veranstaltungen stattfanden, eben auch die, an der ich mitwirkte. Der Schwulenchor „Querflöten“ – dem ich in den Wochen vor dem Auftritt die Texte, die zu lesen ich beabsichtigte, hatte zukommen lassen – aus Freiburg sang, zwischen den Songs und Liedern las ich meine Sachen. Meinen „Lüstling-Song“ wollten sie nicht aufführen, „das ist uns zu brutal.“ Aber eine Melodie hatten sie dafür komponiert und ich bekam die Kassette. „Im Kontrast zu den Darbietungen des Chores und im Wechsel mit diesem“, stand dann in der Zeitung, las der Biberacher Dichter ....“, hier erschien mein Name, „eigene Lyrik. Eine eigenartig oszillierende Welt leuchtete darin auf, in der banale Alltagssituationen in der Schwebe liegen zu Abschweifungen der Phantasie und homoerotischer Gefühle. Dabei schwang ein ironisierender Unterton mit, wenn etwa einprägsame lyrische Wortschöpfungen auf obszön gefärbte Alltagssprache prallten. Erfreulich für Vortragende und Veranstalter war der rege Publikumszuspruch, und so ließen die Anwesenden diesen gelungenen Abend bestens gelaunt in einer kleinen Feier ausklingen.“ An der ich übrigens nicht teilnahm. Im Buch eines bekannten Berliner Schwulenaktivisten wurde die HELB als Beispiel für das schwule Leben in der Provinz portraitiert. Und doch versandeten diese Bemühungen am Ende der neunziger Jahre. Herbert T. hatte die Stadt verlassen. Die Schwulengruppe gibt es nicht mehr.
- Ein statisches Grau über und in Berlin. Vormittags etwas Sonne.
29.12.2002

28
Dez

28.12.2002

Ich habe am frühen Abend in Pleschinskis Roman geblättert und gelesen. Auch eine Erinnerungsgeschichte. Beiläufig stieß ich auf die Seite, in der der österreichische Schauspieler und Rezitator Helmut Qualtinger erwähnt wird; sofort fiel mir meine Begegnung mit ihm ein. Zum Beginn des März des Jahres 1979 wurde im „Urania“-Kino der opulent aufgemachte, inhaltliche jedoch dünne Film „Grandison“ des Stuttgarter Regisseurs Achim Kurz gezeigt, und Qualtinger spielte eine tragende Rolle darin. „Carl und Rose Grandison, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, haben es mit Hilfe von Hochstapler- und Gaunerfertigkeiten erreicht, im Heidelberg des beginnenden 19. Jahrhunderts als angesehene Bürger der feinen Gesellschaft zu leben und Hof zu halten“, wie ich in meinem Zeitungsbericht über die Premierenfeier, datiert mit „3.4.79“, schrieb. „Nicht alles lief letztlich so ab, wie es hätte sein sollen“, begann ich ihn, „aber es war ja trotzdem ein sogenanntes gesellschaftliches Ereignis: Die Gala-Premiere des deutschen Großfilms ‚Grandison‘, mit der anschließenden Feier in der Stadthalle. Jean Rochefort, neben Marlene Jobert und Helmut Qualtinger Hauptdarsteller, konnte zum Termin nicht kommen, und die Midnight-Show von Evelyn Künneke konnten wir auch nicht goutieren, weil deren Agentur offenbar manchmal Termine durcheinander bringt.“ Es war ein kalter Märzabend, und auch die Stadthalle, ein Klotz in der schon zur Bauzeit Mitte der siebziger Jahre überholten Betonarchitektur, war nicht besonders gut geheizt. Ich weiß das noch, weil ich stets kälteempfindlich war und bin. Nicht nur aus diesem Grund hatte ich schon reichlich Alkohol im Kopf. „Eines Tages jedoch“, so fahre ich in meinem Zeitungsartikel fort, „kommt Carl auf den krummen Weg, in Berlin wird er verhaftet; er begeht Selbstmord. Seine Frau widersteht lange Zeit den Verhören von Dr. Pfister, dargestellt von Helmut Qualtinger, der weiß, daß Roses Mann tot ist, der ihr dies jedoch ein Jahr lang, in dem er versucht, sie zu einem Geständnis zu bewegen, verschweigt. Die Grandisons gab es einmal; der Film orientiert sich an alten Gerichtsakten.“ Und weiter: „Helmut Qualtinger war Stargast. Vor dem Film las er im ‚Sternchen‘ für ein gewisses Publikum aus seinen Texten; Szenen vom wienerischen – und österreichischen – Kleinbürgercharakter. Der Qualtinger, so wird gesagt, mog seine Landsleut net. Er war brilliant. Aber das weiß er selber. Das ‚Urania‘-Theater war ausverkauft. Selten, daß man so viele Leute im Kino sieht. Das Drumherum wird wohl auch gereizt haben, der Touch der weiten Welt. No, is des schlecht? Das Publikum in Biberach ist sich selbst gegenüber ja auch bewußt, die einen erscheinen in Großer Gala, andere tragen anderes. Das ist erfreulich, diese Selbstverständlichkeit. Schließlich hockte man dann noch im ‚Sternchen‘, aber so interessant ist das nicht, und der Klatschkolumnist ist müde und macht einen Punkt.“
Zuvor aber, nachmittags, als das aufgedonnerte Stuttgarter Filmvölkchen, in großen Gesten mit den Armen rudernd, vor der Theke des „Sternchens“ stand, mit einer Hochnäsigkeit, die umgekehrt proportional zur Qualität des Werkes sich darstellte, hatte ich schon im Vorführraum zu tun, bereitete den Film für den Abend vor, und ich sah den berühmten Qualtinger, der alle Anwesenden an Bedeutung turmhoch überragte, still, bescheiden, wie abgesetzt auf einer der roten Bänke des Kinos sitzen, müde, aber eher abwesend, desinteressiert, das Treiben aus kleinen Augen beobachtend; er saß allein auf der Bank, niemand sprach mit ihm, keiner kümmerte sich um ihn.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, dachte ich, „da sitzt der Qualtinger in seinem abgetragenen grauen Anzug wie ein Penner auf der Parkbank, und wie so einer wird er behandelt.“ Kurz zuvor hatte ich im Vorbeigehen gehört, wie einer der Filmleute die Bedienungen – kein anderes Publikum hielt sich zu dieser Stunde vor dem Tresen auf, nur die Filmclique soff Sekt – angewiesen hatte, an „Herrn Qualtinger“ keinen Alkohol auszuschenken, „er hat Alkoholverbot“. Das schien mir typisch für diese Leute zu sein: sie, die keiner kannte, schluckten sich in Stimmung und einer der prägnantesten Künstler Österreichs und der deutschsprachigen Kulturlandschaft, dessen Rezitationen der „Josephine Mutzenbacher“ und des „Herrn Karl“ Höhepunkte der österreichischen Selbstanklage, lange vor Thomas Bernhards witzig-bösen Sarkasmen, sind, bekam nichts; aus medizinischer Sicht mag das gerechtfertigt gewesen sein, mir aber stieß es unangenehm auf. In der Karga hatten wir uns Jahre zuvor im Zimmer von Markus M. die Platten mit Qualtingers Lesung von Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ angehört, nicht nur die „Mutzenbacher“; „mehr Stahl ins Blut!“, ruft einer der Tennis spielenden adligen Müßiggängern den in den Ersten Weltkrieg marschierenden Soldaten zu. Ich beschloß spontan, diesen aufgeblasenen Filmfritzen und -klunten eine kleine Lektion zu erteilen. Ich ging zum Tresen und ließ mir ein großes Glas Bier gaben und trug es, ungeachtet der Filmleute, von denen ich annehmen konnte, daß sie sich nur für sich und ihr Geschwätz interessierten, zu Qualtinger und stellte es wortlos vor ihn hin. Er sah mich aus seinen Äuglein an, ich nickte. Mit einer behutsamen Bewegung griff er nach dem Glas. Ich warf einen Blick zur Theke. Keiner von den Filmleuten sah herüber. Ich verkrümelte mich wieder in den Vorführraum. Durfte Q. sein Bier austrinken? Ich hoffe doch, ich beobachtete die Szenerie nicht weiter. Der Film war, wie vorauszusehen gewesen war, überall in den Kinos ein Flop. Einige Jahre später las ich in einer Zeitung, daß der Regisseur K. sich umgebracht habe. Außer einigen Filmkritikern und -historikern weiß niemand mehr etwas von seinem Film, ich aber habe mich vorhin bei der Lektüre an diese Begebenheit erinnert und meinen alten Zeitungsbericht aus den Akten gekramt.
- Grau, kein Blau, wenn ich aus dem Fenster schau.
28.12.2002

27
Dez

27.12.2002

Es mag sein, daß mein nicht geglücktes Leben zwischen Kneipe, Kino und Kosmos in der Kleinstadt, etwa sechzig Kilometer vom Bodensee entfernt, wenn ich auf der Landkarte den südlichen Orientierungspunkt nehmen will und nicht den nördlichen der Stadt Ulm, aus dem ich nicht – wie ich es oft dachte – „rechtzeitig“ flüchten konnte, in der ich Gefahr lief, in meinen Empfindungen so grau zu werden wie die Häuser der Stadt an den engen Straßen (grau zumindest in den sechziger und siebziger Jahren des forteilenden Jahrhunderts), mich vor Aids und vor einem noch früheren Tod bewahrte. Denn wie hätte ich es getrieben, wäre ich 1979 oder 1980 meinen als unzulänglich betrachteten Verhältnissen entronnen? In Stuttgart, wo ich ja eventuell weiterstudiert hätte in Jahren schon zuvor, oder in Köln, München, West-Berlin, wohin es mich, dessen bin ich mir sicher, verschlagen hätte, oder das Leben auf der ummauerten Insel wäre dort ganz normal mit abschließenden Semestern weitergegangen? Nur zwei Entscheidungen hatten für meine den siebziger Jahren folgenden zwei Jahrzehnte in Biberach die Weichen gestellt: die Aufgabe des Studiums, der Einzug in die Wohngemeinschaft der Karpfengasse 24. Wären die erst einmal von großstädtischer Schwulenszene erodierten Hindernisse der Moral und des „Anstands“ und der zaudernden Zurückhaltung, die zuviel Rücksicht auf das zarte Innenleben spätpubertierender Jünglinge nahm, denen ich mich doch nicht aufdrängen durfte, wie ich meinte, und sicherlich war dieser Vorbehalt nicht ganz unangebracht – ich hätte es vermutlich schauerlich getrieben. (Aber das ist die Vorstellung eines Zurückgebliebenen, der sexuell zu wenig gekommen war. Andererseits interessierten mich die geistigen Genüsse stets mehr als die körperlichen. Ich war Kopfmensch.) Das Provinzleben, ohne Ausflüge in große Städte, in die Szene der Bars und Darkrooms geführt, ließ den Virus nicht an mich heran; obwohl es auch um B. herum in den Achtzigern Infizierte gab, doch wenige, und nie hatte ich Kontakte, in denen ich mir die gefürchtete Krankheit hätte holen können, gehabt. Till – einmal berichtete er mir, daß er von einem Mittvierziger aus der Gegend nach München in den „Ochsengarten“ mitgenommen worden war – und ich waren 1983 sofort auf dem neuesten Stand der unheilvollen Entwicklung gewesen, und es ist wahr: mein „vernünftiges“ Verhalten schloß Abenteuer grundsätzlich aus, ich verbot mir den Sex, der vielleicht da und dort doch durchaus zu haben gewesen wäre. Kam T. nach Wochen oder Monaten einmal wieder zu mir, hatte ich aber Bedenken. Liebe konnte tödlich enden. Nicht in der Weise rührseliger Melodramen, sondern in den grausamen Variationen des Siechtums. Vor Aids blieb ich verschont, dafür hat etwas anderes in meinem Körper Platz genommen; und sich vom Frust genährt? (Übrigens ist mir bis heute kein Aidskranker begegnet.) Wie Aids dürfte auch der Krebs eine unbewußte Form der Selbstaufgabe sein. (Der Liebesakt ist ja eine Hingabe, in welcher Intensität auch immer.) Die einen saufen und rauchen, bei anderen ist es das Vögeln, das sie ruiniert. Und auch wenn ich B. in früheren Jahren den Rücken gekehrt hätte, wäre damit nicht gesagt, daß ich mir die Seuche geholt hätte. Und was will man, um darauf ein letztes Mal zurück zu kommen, als „Glück“ definieren? Vielleicht camouflierte das Glück sich so gut vor mir, daß es zwar da war, ich es aber nicht als das, was es war, erkennen konnte; weil ich es in meiner frühen kritischen Fixierung auf die negativen Aspekte des Lebens – und woher kam die? – gar nicht für möglich hielt, daß es in meiner Nähe war, weshalb ich schließlich weder Gespür noch Blicke dafür hatte, wenn es sich einmal unverhüllt vor mir zeigte?
- Im späteren Vormittag und über die Mittagszeit etwas helles Licht, dann Eingrauung.
27.12.2002

26
Dez

26.12.2002

Diese Tage „zwischen den Jahren“ ähneln denen meiner frühen Jugend in der Dekade der Sechziger, in denen ich viel las und nebenbei die Pralinenschachteln leerte, in einen der Sessel fläzend, Seite um Seite umblätterte und in abenteuerlicheren Welten, fern von Biberach, in den Zeiten der Vergangenheit oder der Zukunft und an fremden Orten lebte, ab und zu aus ihnen in das, was wir Realität nennen, zurückkam, durch Biberacher Strassen ging, um anschließend wieder in die imaginären Szenarien einzutreten und an den Erlebnissen, die im Gegensatz zu den Vorkommnissen meiner langweiligen Tage wirklich welche waren, teilzuhaben. Mein Bewußtsein, Beobachter all dieser Ereignisse, die sich in den Buchzeilen abspielten, schweifte über die Relikte alter oder zukünftiger – und im dortigen Geschehen ebenfalls oft schon alter – Städte und Festungen, sauste mit durch die Jahrhunderte und Jahrtausende, in die die Zeitmaschinen die Guten und die Bösen mir nichts dir nichts versetzten, schwebte über Old Shatterhand und Winnetou und Trapper Geierschnalbe, über den Schluchten des Balkan und in der flirrenden Luft der Wüste, in der sich manche Fata Morgana mit ihm, dem Bewußtsein, vereinigte, es umgaukelte und in die Irre absonderlicher Planeten und Sternensysteme hinüber gleiten ließ; wenn ich Romane verschiedener Genres und Qualität las und deren Virtualität in meinen Ganglien aufbewahrte; über Zeiten hinweg. Aber heute sind Verluste festzustellen: keine leeren Pralinenschachteln, aus denen ich Schokotrüffel und Cognacbohnen hätte klauben können, in einer mechanischen Arm- und Handbewegung, liegen auf dem Teppich herum. Kein „Baum“ steht im Zimmer, kein erzgebirgisches Räuchermännchen schmaucht, kein harzig duftender Rauch, auch die Weihnachtskrippe, die ich damals – ein Wort, das mein Leben immer mehr bestimmt – an den Nachmittagen der Heiligen Abende sorgfältig mit den Figuren jener Geschichte, aus der so viele Menschen in so vielen Jahren Trost und Hoffnung nehmen wollten (und nehmen konnten, ich will das nicht bestreiten), aufbaute, steht nicht mehr unter dem „Baum“; ins Kino werde ich heute auch nicht gehen, weil die Geschichten, die dort zu erleben sind, mich nichts mehr angehen; meine Mutter unterbricht mich nicht mehr in meiner Weihnachtstagelektüre, um mir zu sagen, daß sie nun in „die Stunde“ gehe, in die sie vielleicht auch noch in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre ging, was ich, da ich an den Weihnachtstagen dieser Jahre so oft frühabends außer Haus war, nicht mehr erfuhr, und meine Jugend ist dahin und mein Leben ist es vielleicht auch bald, doch die Bücher, die immer treuen Freunde, sind mir geblieben, die von damals und die, die nach ihnen auf meinem Schreibtisch lagen und auf dem quadratischen Tisch heute liegen; und heute liegen hier Musils Roman, in dessen letzten Seiten (des Fragments) ich lese, und „Combray“ in der Kleeberg-Übersetzung und „Le Temps retrouve“ mit der Faksimileseite der letzten Seite des Proust’schen Manuskripts, auf der das Wort „Fin“ steht, „Das Buch der Illusionen“ von Paul Auster, das Raphael mir zu Weihnachten geschenkt hat und „Bildnis eines Unsichtbaren“ von Hans Pleschinski; beide letztgenannten habe ich jedoch noch nicht zu lesen angefangen. Bei Musil habe ich vorhin im Kapitel „Die Insel der Gesundheit. Die Unsicherheit“ (früher Entwurf) gelesen:
„Was ist alles, was wir tun, anderes als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewißheit mahnt, daß endlich sie uns totschlagen wird, bis zu den sich übersteigernden Erfindungen, den sinnlosen Geldbergen, die den Geist töten, ob man von ihnen erdrückt oder getragen wird, den angstvoll ungeduldigen Moden des Geistes, den Kleidern, die sich fortwährend verändern, dem Mord, Totschlag, Krieg, in denen sich ein tiefes Mißtrauen gegen das Bestehende und Geschaffene entlädt: was ist alles das anderes als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesens, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgendeiner geheimen Stelle, die es selbst kaum ahnt, hinfällig und Nichts ist?“
- Ich kann über die Witterung nichts anderes schreiben als: grau.
26.12.2002

24
Dez

24.12.2002

Es begibt sich aber am Abend jedes vierundzwanzigsten Dezembers zu Biberach, daß über dem Marktplatz das neugeborene Jesuskind herunter gelassen wird. Das kann nicht jede Stadt von sich behaupten. Liegt an diesem Abend die Dunkelheit schon eine Zeitlang über der Stadt und in ihr, steigt gegen 19 Uhr ein helles Licht herab; allerdings nicht das einer Supernova aus weit entfernten Zeiten oder das einer Planetenkonjunktion, die irgendwelche drei weisen Männer aus dem Orient – vielleicht aus dem alten Babylonien, jetzt Irak, oder aus Afghanistan – in diese okzidentale Oberschwabenstadt zu führen hätte – es ist nur das in einem Oval scheinende Glühbirnenlicht, das die einer Putte aus Barockkirchen oder (so wäre der Zusammenhang mit orientalischen Verhältnissen doch wieder zu sehen) einer Minimumie ähnlichen Puppe umkränzt, die von zwei Engeln in Rot und gelben Sternen und einem Halbmond (!) flankiert wird, während sie aus einem obersten Fenster des zweigiebeligen Gutermannschen „Stirnhauses“ des Marktplatzes sehr langsam, akustisch von frommem Liedgut begleitet, abgeseilt wird, bis sie über den Köpfen der den vorderen Platz ausfüllenden schwarzen Menschenansammlung hängt. Man nennt dies: S Chrischtkendle ralau, und kein wirklicher Biberacher möchte diesen Brauch missen, der, genau betrachtet, nicht nur für die Kinder veranstaltet wird, die staunend in der Menge stehen oder von ihren Vätern auf die Schultern gehoben werden und das Ereignis mit großen Augen, in denen sich der Lichterkranz und das Biberacher Christkind miniaturisiert widerspiegeln, verfolgen. Das Christkind schwebt aus dem Gutermannschen Dachboden herab und verharrt, nicht ganz unten angekommen, in strahlender Blässe; die Menge singt; oder das Singen findet schon während der Herablassung statt, ich habe das nicht genau im Gedächtnis. Vor vielen Jahren, als junger Mensch nach der Schulzeit, stand ich, das fast mystische Schauspiel in einer Mischung aus Ironie und Rührung, die aus der Kinderzeit aufstieg, noch einmal beobachtend, in der von quasiheiligem Erschauern ergriffenen Ansammlung. Unter dem Absingen anderer Weihnachtslieder entschwindet das Puppenchristkind nach angemessener Verweildauer über den Schaufenstern eines Schuhhauses (das allerdings zu dieser Jahreszeit keine Sandalen anbietet), die selbstverständlich unbeleuchtet sind, wieder in die Höh‘, verschwindet in dem hölzernen Vorbaugehäuse vor dem Hausfenster. Die Glocken von St. Martin beginnen zu läuten, die weihnachtliche Zierbeleuchtung an den Giebeln rund um den Platz glänzt auf und erhellt den Marktplatz. Am Brunnen besprenkeln die Glühlampenkerzen das dunkle Grün des Tannenweihnachtsbaums. Und wenn die Stadt verschneit ist, wirkt dies alles noch romantischer und stellt eine gedämpfte Feststimmung her. Murmelnd zerstreut sich die Zuschauerschaft, um zum Weihnachtsbaum in der guten Stube zurück zu kehren und die Bescherung zu vollziehen.
Als die sechziger Jahre begannen, ein Jahr nach dem Tod meiner Großmutter, glaube ich zu wissen, also vor vierzig Jahren, ging ich mit Frau H. und ihren Kindern, mit denen ich ja oft zusammen war, in einem schneereichen Heiligen Abend hinunter in die Stadt zum Spital, wo neben dem Museum, das in dem Viereck von alten Gebäuden seine Exponate zeigte, auch ein städtisches Amt seine Akten in den Schränken verwahrt, wo eine Kirche im Ostflügel, in die ich als Kind jener Jahre zum Sonntagsgottesdienst, mit meiner Mutter oder ohne sie, hinein trat und in einer der hölzernen Bankreihen saß, um von der Alten Geschichte zu hören, untergebracht ist (vor ihr das Denkmal mit den Büsten des Malerpaars Braith und Mali), zum „Chrischtkendleralau“; ich sehe mich wieder in der schwarzen harrenden Menge, die sich unruhig bewegte, nur ein bißchen hin- und herschwankte, was an den Köpfen zu bemerken war, zwischen denen ich einen Blick auf die Giebelfront am Ostflügel hatte. Dann öffnete sich die Klappe unten am Gehäus, in dem es versteckt war, das Christkind, weihnachtliche Weise ertönten, die Zeremonie übte einen leisen Zauber auf mich aus. War der Christkindlespuk vorüber, wurden an die Kinder große Lebkuchen ausgeteilt, deren Verzehr freilich gute Zähne voraussetzte, denn sie waren hart, man konnte den halben Abend an ihnen herumnagen. Ich steckte das Stück enttäuscht in eine Anoraktasche und dachte nicht mehr daran. Frau H. und wir Kinder spazierten durch den Schnee auf den Gehwegen und Straßen und Dächern und Bäumen und Büschen, denen er andere, weichere Konturen anlegte, zurück in unsere Wohngegend und wir formten Schneebälle in den Handschuhen, die wir uns an die Jacken warfen; oder sie verfehlten das spielerisch anvisierte Ziel und plumpsten zwischen Büsche und Bäume, wo sie in der weißen Schutzschicht des Winters versackten und unregelmäßig modellierte Mulden verursachten. Wir schlenderten so in die Lindelestraße hinauf, stampften auf der Haustreppe den Schnee von den Schuhen, klopften das feine Gestäub – denn es schneite wieder – von den Jacken und betraten das Haus, die Wohnung, die im stimmungsvollen Schimmer des Heiligen Abends noch gemütlicher erschien. Kerzen brannten an den Zweigen des Weihnachtsbaums im Wohnzimmer und die Wohnung roch nach dem Duft des Rauches, der aus dem o-förmigen Mund des erzgebirgischen hölzernen Räuchermännchens floß; und nach dem Essen, das meine Mutter, während ich beim „Chrischtkendleralau“ gewesen war, schon zubereitet hatte und das in der Küche in den Töpfen und Pfannen wartete . Das Angenehmste und Schönste war die Wärme, die uns, die wir aus einem echten Weihnachtsabend kamen, freundlich umfing. Unter dem „Baum“ lagen die Geschenke ausgebreitet: größere, kleinere, längliche, dicke Schachteln, eingepackt in buntes Weihnachtspapier, und auch zwei große packpapierbraune Pakete lagen hier, die waren aus der „Ostzone“ gekommen. Frau H. und ihr Kinder, Edelgard, Fanny und Herrmann, nahmen freudig ihre Geschenke entgegen und gingen nachhause. Meine Mutter trug das Essen auf, und nach dem Mahl, als das Geschirr abgeräumt war, packten wir mit besonderem Genuß die Geschenke aus, die wir füreinander hatten, wobei meine Gaben eher bescheiden waren; und was schenkte ich meiner Mutter in jenen Jahren zu Weihnachten? Gebasteltes, Gemaltes? Etwas, das sich vom Taschengeld bezahlen ließ? Immer bekam ich Bücher, etwas anderes interessierte mich auch gar nicht. Schließlich entwickelten wir die Pakete der Schwestern, der Tanten, und freuten uns über das, was stückweise nacheinander aus ihnen hervorgeholt werden durfte. Auch aus diesen Paketen entnahm ich zwei oder drei Bücher. Das Radio spielte Weihnachtslieder. Es kam in jenen Abenden in den Sechzigern vor, daß wir dann die Wohnung verließen und hinüber zum Krummen Weg zu Frau H. gingen, wo wir unsere „Gschenkla“ entgegennahmen. Zu späterer Stunde kehrten meine Mutter und ich durch die feierliche Stille der Nacht durch die Probststraße „zu uns“ zurück, und ich inspizierte die mir zugekommenen Gaben noch ausführlich, bis ich mich, deutlich nach Mitternacht, niederlegte. So, oder so ähnlich, verliefen die Abende des 24. Dezembers bis in die ersten beiden siebziger Jahre hinein (nicht immer war ich beim „Chrischtkendleralau“); am Hl. Abend des Jahres 1973 war, nach einundzwanzig Uhr, Clubbetrieb im „Club Impuls“, den Falk und ich in an einem Dezemberabend zuvor eröffnet hatten. Der Charakter dieses Abends begann sich in den folgenden Jahren für mich zu verändern.
- Ein düsterer Tag, anhaltend niedrige Außentemperaturen.
24.12.2002

23
Dez

23.12.2002

Und der Krümmungshorizont des inneren Kosmos´, vielleicht auch als Bewußtseinshorizont zu nennen, der von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr in größere Entfernungen hinauswuchs, sich ausdehnte, von der Erkenntnis erweitert wurde, ist doch nur die immer unbekannt bleibende vorläufige Grenze des mit Ideen und anderen Bewußtseinsinhalten angefüllten winzigen vereinzelten Teils oder Anteils des äußeren, des überall vorhandenen Seins, als der der astronomische Kosmos in nun etwas unelaborierter Sicht, die sich an metaphysischen Konstrukten gar nicht erst versuchen will, aufgefaßt ist. Ja, der innere Kosmos ist schließlich nur ein Produkt der individuellen Form der universellen Materie, aus der wir kommen und in die wir, als Moleküle und Atome, wieder eingehen werden, als Daten auch; das ist dann zwar auch nicht das ewige Leben – oder, wenn man die Natur des Lebens unbedingt so sehen will, eines in eher reduziertem Umfang – , denn auch die Raumzeit dieses Universums, in dem ja eine Stadt wie Biberach am Flüßchen der Riß, die sowieso, aus der Distanz, die Zeit und Raum herstellen, manchmal wie eine größere Puppenstube für vorzeitliche Riesenkinder vor den Augen steht, als eine zu vernachlässigende Größe erscheinen mag, aus solchen kosmologischen Höhen betrachtet, wird sich einst, wenn es bis dahin auch noch etwas hin ist, erstarren, so daß kein Erwartungshorizont, für wen oder was auch immer, mehr übrig bleibt, aber wer will letztlich so großzügig-unwissend bestimmen wollen, in welchem anderen Sinn die Ergebnisse dieses Zerfalls- und Verstreuungsprozesses wirken und wohin – sozusagen vorausgeschickt die Kräfte des Bewußtseins, dieser energiever wandelnden Rätselhaftigkeit, die wohl doch nicht allein aus der massiven Zusammenballung von spezialisierten Zellen entspringt, gehen, also Punkt. Mir erscheint es außerdem nur als natürlich, daß die Vorstellung, einem Kosmos anzugehören, in dem diese Stadt und das Land, in dem sie steht, und die Hemisphäre, in der das Land liegt, und das Staubkorn, auf dem sich alles befindet, das seinerseits eines von mehreren ist, die von einer unbedeutenden Sonne, die im mittleren Stadium ihres Selbstverbrennungsvorgangs befindlich ist, herumgeschleudert wird, vom Beobachtungspunkt in einer irgendwo um vielleicht dreihundert Millionen Jahre voraus geeilten (oder in die Vergangenheit verschwundenen) anderen Galaxie aus betrachtet völlig irrelevant ist, etwas Erhebend-Flüchtiges an sich hat. Man muß sich das einmal in einer unheimlichen Sekunde gönnen und vor Augen führen, wie die Große Kreisstadt Biberach a.d. Riß noch die nächsten tausend oder zweitausend Jahre gottverlassen durch die (noch) unergründlichen Tiefen des Alls trudelt, um zu wissen, wo man steht; oder kopfüber hängt. Außerdem wird ja auch unser Planet verbrennen. Wenn also dieser aus Zellen, die Energie verbrennen, aus anständig funktionierenden und aus ausgeflippten (womöglich ein Echo meiner Bewußtseinszustände in früheren Jahren), zusammengesetzte Organismus, mit dem mein „Ich“, das Bewußtsein von mir selber – die Hirnforscher sind dabei, das Gerede vom Bewußtsein zu dekonstruieren – sich ziemlich verbunden fühlt und gebunden weiß, eines nicht allzu fernen Tages zu Asche wird, dann wird nur das geschehen, was einmal dem ganzen Erdenkreis und -grund, auf dem er herumirrte, widerfahren wird. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke?
- Temperaturen etwas unter null Grad. Die Schattierung des Graus über der Stadt, des „Himmels“, fast unverändert.
23.12.2002

22
Dez

22.12.2002

Wie in anderen nicht großen und von den Zerstörungen durch Krieg und die Zeitläufte im Wesentlichen ihres Daseins verschont gebliebenen Städten stellte der Winter auch in Biberach a.d. Riß das Idyllische stärker aus, besonders in den Jahren, in denen die dunkleren Monate mit Kristallflockenfall auf sanft-weiche Art aufgehellt wurden. Durch den von der Mitte der Fahrbahnen an deren Ränder geschobenen und geschaufelten Schnee, der dort wie in allen Städten kleine Wälle bildete – die in einer kleinen ehemaligen Reichsstadt die vage Erinnerung an die noch viel kleinere Stadt und die ihre Bürger und Patrizier und Kleriker vor den Unbilden der äußeren Welt abzirkelnde Stadtmauer hervorrufen können – wirkten die Straßen, Sträßlein und Gassen zumal des Stadtkerns natürlich, auf nicht natürliche, geplante Weise entstanden, enger, altmodischer, älter und altertümlicher als an Nichtwintertagen, und ich scheue nicht davor zurück zuzugeben, daß das winterlich-schneebedeckte Biberach mir in manchem Jahr viel besser als das sommerliche gefiel. Das Gemütlich-Behagliche hat seine Ecke in den Verzweigungen meines inneren Systems aus den in den Jahrzehnten angesammelten Gefühlen, Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen, Deduktionen, Reflexionen und was sonst noch alles zum Bewußtsein dazu gehört; wächst man in so einer Stadt, die zudem von einer ansprechenden und anmutigen Landschaft um sie herum geprägt worden war, die das Stadtidyll gleichsam als Schutzkordon umgibt, auf, kann das wohl auch erklärlich sein. Es gefiel mir, durch den frischen Schnee der weiten Flächen des Gigelbergs zu gehen, die von hohen schneebeladenen Bäumen begrenzten, die, wie die Flächen, weiß im Sonnenlicht funkelten oder in der Abenddämmerung jenen Stich ins Bläuliche, die Aura des versinkenden Winternachmittags, bekamen, der eine besonders zaubervoll-fremd anmutende Illumination dieser Jahreszeit ist, in Gedankenräumen mich ergehend, die von der vorhin erst unterbrochenen Lektüre geöffnet worden waren; und hatte ich die Brücke über den „Hirschgraben“, in dem sich noch in den siebziger Jahren wirkliche Hirsche und Rehe aufhielten, dessen Bäume und Sträucher, eng zusammengewachsen, auf den steil abfallenden Hängen – auf der dem Stadtinneren zugewandten Seite ragt der übrig gebliebene grob-steinerne Rest der Stadtmauer, flankiert von den beiden Türmen, auf – in ihrem Kristallschmuck des Schnees diesen langen Graben weiß-prächtig ausstaffierten, hinter mir gelassen, hatte ich die „Schillerhöhe“ erreicht und sah ich an solchen frühen Abenden (da und dort leuchteten unten Lampen und Fenster) über die schneeigen Dächer (rote „Biberschwänze“, Dachplatten, lugten zwischen dem da und dort heruntergerutschten Schnee hervor) des unter mir liegenden dichten Häusergemenges, aus dem so wohlvertraute Giebel und Firste und Türmchen meinen Blick erwiderten, etwas, wie es schien, zusammengeduckt wegen der Kälte – dann fand ich es in Minuten der Übereinstimmung und Ruhe doch angenehm, an diesem Ort zu leben, denn mein – geistiges – Leben führte mich ja auch zu anderen Plätzen, zu anderen Zeiten, in einem weiteren Kosmos, in dem die kleine Stadt eingefügt, aber nicht meine einzige Welt war. Unten in der Stadt war der glänzende Schnee des Gigelbergs (oder des Lindeles) zu braungrieseligem Belag oder schon Matsch verarbeitet worden, von den hastigen Bewegungen einer Kleinstadtrushhour, doch dämpfte in einem richtigen Winter selbst diese un-schöne Konsistenz des Geflockten die urbanen Geräusche; ich sah dann zu, in den „Strauß“ oder „Rebstock“ zu gelangen, oder in eine Bäckerei; oder ins Kino.
- Kalt, und grau der Himmel über Berlin.
22.12.2002

20
Dez

20.12.2002

„Ich habe mein Leben doch bewältigt“, sagte meine sterbensmüde Mutter in jener tiefen Spätherbstnacht; dachte sie, sich mir gegenüber rechtfertigen zu müssen? Das „doch“ hörte ich durchaus genau, es fiel sogleich aus diesem Satz, dieser Äußerung in mein vom Alkohol keineswegs reduziertes Bewußtsein. Mir mißfiel diese Äußerung, die mir freilich schon damals sofort zu denken gab, denn wie hört sich so ein Satz an? Wie ein Resümee, eine abschließende Feststellung – in einem inneren Zustand, in dem das Hoffen nichts mehr bewirken kann und auch gar nicht mehr soll – am Ende des Lebens, die dann getan wird, wenn man nichts mehr vor sich und alles hinter sich sieht. Diese Äußerung mißfiel mir nicht nur, weil sie mein Erahnen, das ich seit zwanzig und weit mehr Jahren mit mir herumtrug, wieder so unmittelbar auffrischte, sondern auch deshalb, weil ich ihr nichts hätte entgegensetzen können als ein akzeptierendes, beruhigendes, gleichzeitig verärgertes „Ja, ja“. Wie war in einer Nacht wie jener mit solchen Übermittlungen, die – und mir war das sehr gut bewußt – aus tiefer innerer Not und Bedrängnis aufgestiegen und in die Nacht gekommen waren, umzugehen? Das „doch“ sagte mir, daß meine Mutter insgeheim selbst daran zweifelte, daß sie sich fragen mußte, ob es stimmte, was sie mir als ihre Ansicht ihres Lebens in diesem einen Satz sagen wollte. Dachte sie, ich könnte sie aus irgendwelchen Gründen nicht achten, ich würde sie als lebensängstliche, schwache Persönlichkeit sehen? Etwas in dieser Art? Und es stimmte, aber nur für Augenblicke, für die ich mich danach selbst zur Rechenschaft zog: manchmal verwünschte ich die Ängste, die sie beherrschten, und die Depressionen, und ihre oft nur mühseligen und unbrauchbaren Versuche, sich von ihnen nicht bis in die tiefste Seele – die Seele umfaßt das Bewußtsein – hinein zerstören zu lassen. Ich verfluchte dann die Verhältnisse, in denen meine Mutter lebte (zu denen auch ich meine negativen Stimmungen – doch wer kann diese ganz von sich fernhalten? – beitrug), sie schienen mir nichts anderes als ein Neurosensyndrom zu sein, in dem sie und ich und alle Handlungen, Gedanken und Abwehrhaltungen meinerseits sich verstrickt hatten. Meine Mutter litt auch an mir und ich an ihr; beide wußten wir das, und ein Entkommen aus dieser Lage war nicht möglich. Nicht möglich? Es war möglich – der Tod bot diese Möglichkeit. Mama wußte, daß ich Biberach fliehen wollte; „ich kann hier nicht vierzig werden“, war es eines Tages im Jahr 1983 aus mir heraus gebrochen, in einem meiner unterdrückten Wutzustände, in denen mir mein Leben als ganz falsch geführt und als Wüste vorkam. Sie hatte irgendwann in einem anderen Jahr, als ich in der Karpfengasse das freie Leben zu haben glaubte (aber auch nicht so richtig), gesagt: „Hier ist doch deine Heimat“, und sie hatte die Wohnung damit gemeint, in die wir 1975 gezogen waren; aber ich konnte mir gut denken, daß auch sie diese lächerliche Wohnblockwohnung nie als „Heimat“ betrachten konnte, denn die war – für sie übrigens ein zweites Mal – mit dem Verlust der Lindelestraßenwohnung verloren gegangen. Wollte meine Mutter mir die Freiheit verschaffen, Biberach verlassen zu können; wenn sie nicht mehr lebte? Hatte sie ihren Schritt in den Tod nicht in unsäglicher Verzweiflung, sondern auch aus mütterlicher Hoffnung für mich, die in ihren Leiden an der Welt noch immer vorhanden war, getan? Ich habe oft darüber nachgedacht und werde diese Frage, die ich mir bald stellte, als sie nicht mehr da war, nie beantwortet bekommen. (Der Pfarrer, der mich vor dem Begräbnis besuchte und dessen Worte ich mir höflich anhörte, sagte, meine Mutter habe ihm, als er sie gefragt habe, ob sie an einer kirchlichen Angelegenheit, die er im Gespräch zwar erwähnte, die ich freilich auch vergessen habe, teilnehme, geantwortet: „Da bin ich weg!“, und das „weg!“ wiederholte der Pfarrer zweimal, weil ihm der Ton so merkwürdig vorgekommen sein mochte; ich sagte ihm nichts von den leeren Schachteln.) Meine Mutter war seit acht Jahren tot, als ich in Biberach doch – „doch“ – vierzig Jahre alt wurde. Es war ein mieser Geburtstag, den ich mit einer Flasche „Dimple“ begoß.
- Etwas Sonnenschein, kalt-feucht.
20.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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