30
Dez

30.12.2002

Nach meinem letzten Arbeitstag im Kino – 18. Juni 1997 – begann meine Biberacher Zeit auszulaufen ... Einen Tag nach meiner Rückkehr von der Matinee der Marcel Proust Gesellschaft fuhren Bruno B., Raphael und ich für eine Woche nach Berlin. In Berlin war es heiß. Wir streiften herum und fuhren einmal nach Potsdam zu Hartmut und Edda, wo wir Kaffee auf der Datscha-Veranda tranken und Kuchenstücke aßen. Einmal fühlte ich mich unwohl und bat Raphael, mir etwas von seinen Baldrian-Tropfen, die er, was ich etwas eigenartig fand, mit sich führte, zu geben. Die wenigen Tropfen, die ich mit Wasser einnahm, verursachten einen Schweißausbruch: der Alkohol, den ich nicht mehr gewohnt war, zeigte Wirkung. Raphael und Bruno gingen, ich blieb auf der Matraze in der noch unsanierten Wohnung von Stefan H. liegen und war erst wieder abends fit. Wir fuhren ins nach-schützenfestliche sommerlich-hitzestrahlende Biberach zurück. Ich ging jeden Tag zu Klaus Leupolz, der an dem Reisebericht über seinen letzten Trip nach Südostasien schrieb, oder schon damit fertig war. Seine Krankheit schritt fort. Ich tippte die literarischen Zeilen ab, Raphael druckte die Seiten aus. Ich war glücklich, den Job endlich hinter mir gelassen zu haben. Ich war arbeitslos und genoß es, zumal ich mein Arbeitslosengeld wegen der Kündigung aus gesundheitlichen Gründen ohne dreimonatige Sperre kassieren konnte. Die Bronchitis, für die ich mir ein Attest hatte ausstellen lassen, die ich mir nach einer nicht auskurierten Sommergrippe im Jahr 1990 eingehandelt hatte, war Grund genug, daß meine gesundheitliche Beeinträchtigung von den Ämtern akzeptiert worden war. Ich schrieb einen längeren Text über die Woche in Berlin. Meine Kurse in der Jugendkunstschule hielt ich noch bis zum Sommer von 1998, und mit einer Lesung meiner jugendlichen Literaturfreunde Tilo W., Matthias D., Felix N., Katrin M. und Martin G. im Braith-Mali-Museum, zu der ich auch einen zehnminütigen Super-8-Film aus Material, das Manfred S. und ich auf unseren Autotouren durch die Schweiz im Jahr zuvor aufgenommen hatten, laufen ließ, beendete ich sie. Fast jeden Tag besuchte ich Klaus L., der nun im Rollstuhl, halbseitig gelähmt, noch in seiner Wohnung war. Auch der Lese- und Schreibkreis, den ich einmal in den Monaten der zurückliegenden Jahre, seit 1994, im „Harmonietürmchen“ am Zeppelinring, einer Begegnungsstätte des Sozialpsychiatrischen Dienstes, angeleitet hatte, trat in jenem Sommer wieder mit einer Lesung von neu entstandenen Gedichten an die Öffentlichkeit. Im Herbst übernahm eine Lehrerin die Anleitung in diesem mir immer als sinnvoll erschienenen Schreibzirkel. Im Auftrag eines Werbemenschen schrieb ich in dieser Zeit als Ghostwriter schon einige Kurzgeschichten nach den authentischen Erlebnissen eines Unternehmers in der Touristikbranche, die der Werbemann bei Books on Demand zu einem schmalen Taschenbuch zusammenfaßte. Das war das persönliche Weihnachtsgeschenk des Unternehmers für seine Geschäftsfreunde. Mit dem Geld, das ich dafür erhielt, finanzierte ich am Novemberende wieder die Reise nach Berlin, um mich um meine von der BfA bezahlte Ausbildung zum Online-Redakteur zu kümmern. Das Geld reichte dann noch für einen „kleinen“ Umzug nach Berlin im Januar des folgenden Jahres in ein Neubauzimmer in dem Teil der Adalbertstraße, der von 1961 bis 1989 „hinter der Mauer“ gelegen hatte; in Mitte und nicht in Kreuzberg. Ronald von R. und seine Lebensgefährtin, beide freie Journalisten, fuhren ihren VW-Bus oder Ford-Transit mit meinen Sachen, zu dritt hockten wir vorne in der Fahrerkabine. In Berlin war die Vermieterin nicht in der Wohnung. Von der Telefonzelle, die auf der anderen Straßenseite stand, rief ich ihr Handy an. Wir tranken etwas in einem Freaklokal im Kreuzberger Teil der Adalbertstraße. Wie sich herausstellte, lebte Madelaine K., die junge Vermieterin, die ihr Zimmerangebot im „Zitty“, einem der Stadtmagazine Berlins, inseriert hatte, die immer erst abends zur Abend mußte, in prekären Verhältnissen. Es gab Schlüsselprobleme. Eine eiskalte Februarnacht verbrachte ich notgedrungen in der Wohnung meiner Kusine im Prenzlauer Berg. Ein Typ, etwa Anfang vierzig und unauffällig-alltäglich angezogen, schleppte M. – sie war betrunken oder hatte andere Stoffe in sich oder war auch nur völlig erschöpft – an einem Sonntagnachmittag in die Wohnung und trat anschließend in das Zimmer, das ich gemietet hatte und fragte, was ich hier eigentlich zu suchen hätte. Außerdem wüßte ich doch, daß ich ausziehen solle. Er war beruhigt, als er erfuhr, daß meine erotischen Interessen nicht dem weiblichen Geschlecht gelten. Er wurde leutselig. „Für mir keen Problem“, meinte er, „ick kenne ooch welche. Wenn de mal wat brauchst: ick besorge dir allet. Keen Problem. Du kannst allet haben.“ Ich dankte freundlich und er ging. Ich sah zu, mich in einer neuen Behausung niederlassen zu können und war heilfroh, als Stefan H. mir anbot, mit ihm in der Umsetzerwohung in der Veteranenstraße am Weinbergspark eine Zwei-Mann-Wohngemeinschaft zu bilden. Meine Kusine und ihr Sohn Grischa halfen mir beim Umzug. Wir luden die wenigen Möbel, den Teppich, eine halbvolle Bücherkiste in ein Fahrzeug von „Robben & Wientjes“ und verstauten alles teils in Stefans Wohnung, teils in seinem Keller. Zwei Tage später, am Gründonnerstag, fuhr ich nach Biberach. Mein Appartment im fünften Stock hatte ich noch. Über die Feiertage packte ich hier meinen Besitz umzugsfertig zusammen und ließ mich in den Kneipen der Stadt kaum sehen.
Raphael hatte sein Studium in Berlin im Herbst 1998 aufgenommen und wohnte zusammen mit seinem Kinderfreund aus dem gleichen Ort bei Biberach in der Katzbachstraße in Kreuzberg. Am 31. Juli 1999 unternahm ich mit der Hilfe von Uli, dem Lebensgefährten meiner Kusine und einem meiner Cousins, Stephan, den „großen“ Umzug nach Berlin. Mit einem roten LKW fuhren wir eine Sommernacht lang nach Biberach, schliefen drei Stunden, packten dann (der Hausmeister und eine vor Ort angeheuerte Hilfskraft halfen auch) den größeren Teil meiner Habe ein. Ich warf einen letzten Blick vom Balkon hinüber zur Kette der winzigen Alpenspitzen und schloß für immer diese Wohnungstür, durch die ich vierzehn Jahre und in den fünf Monaten danach auch noch ein paar Mal hindurchgegangen war, hinter mir. Wir parkten den LKW auf dem Marktplatz, tranken einen Kaffee im „Vienna“ und aßen, nach einem kleinen Spaziergang durch Biberach, später im Biergarten des „Biberkeller“ am unteren Ende der Gaisentalstrasse zu Abend. Thomas G. gesellte sich schließlich hinzu. Wir spazierten in der Dämmerung zum Marktplatz, stiegen ein, rollten durch die Nacht nach Berlin. Am 1. August endeten (glaubte ich ...) meine Jahre in Biberach. Nun war ich ein Berliner. Kein Mensch in Biberach hatte angenommen, daß ich je noch einmal die Stadt verlassen würde. Ich fuhr ein paar Mal danach in die kleine Stadt, wegen einer Lesung, aus anderen Gründen und um Klaus, der inzwischen in Biberach – nach Aufenthalten in einem Sterbehospiz in Friedrichhafen, wo nicht nur ich ihn einige Male besucht hatte, und einem stinkenden Altenheim in Ravensburg, und auch dort schoben wir aus seinem engsten Freundeskreis seinen Rollstuhl über die Gehwege – in einem Pflegeheim lag, der Sprache und des Hörvermögens beraubt, auch der Sehkraft, abgemagert bis auf die Knochen, zu besuchen, auch wenn er von diesen Besuchen wahrscheinlich nichts mehr wußte, obwohl ich ihm – in der Hoffnung, daß er vielleicht doch noch etwas hörte – erzählte, was mich wieder einmal nach Biberach getrieben hatte. Am letzten Septembertag von 2001 – seit mehr als einem Jahr hatte ich mit meiner Chemotherapie zu tun – warf ich beim Verlassen seines Krankenzimmers einen letzten Blick zurück. Mir war klar, daß ich ihn in dieser Sekunde zum letzten Mal sah. Er starb am 11. November, sein Bruder H. rief mich an.
- Unansehnlicher Spätdezembertag.
30.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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