26
Nov

26.11.2002

Der Spätherbst 1988 war kalt. Als gegen Ende des Novembers die alljährlichen Filmfestspiele begannen, hatte es schon geschneit, der Schnee, oder das, was von ihm übrig geblieben war, verkrustet, verharscht, die Nächte waren frostig. Der Filmtheaterbesitzer und ich dekorierten am Vorabend des Trubels die großen Schaukästen im „Urania“-Foyer mit Plakaten und Filmbildern der zu zeigenden neuen Produktionen, so wir wir es in den Jahren davor getan hatten und auch in denen danach, und an manchen Filmfesttagen, die an den Totensonntagen endeten, in fast jedem Jahr an diesem Wochenende ausliefen, ohne abendliche große Feier wie seit der Mitte der neunziger Jahre, auf der nun diverse seltsame Preise vergeben werden, klebten wir mit Tesafilm auch die großen Foyerfenster zur Straße hin mit Plakaten zu, und diese Fenster waren in jenen Abenden im Jahr 1988 zur Hälfte mit einer feinen Eisschicht überzogen, so daß von außen die an den Innenseiten der Fenster hängenden Plakate, die ich in ruhigeren Minuten ab und zu mit frischen Tesafilmstreifen zwei- und dreimal wieder richtig befestigte, wenn ihre Ecken heruntergefallen waren, nur als bunte Flecken zu sehen waren, denn im Foyer herrschten, auch wegen des ständigen Türauf-Türzu, kühle Temperaturen, die oberen großen Scheiben wurden nicht stark genug erwärmt, um den Frostbelag abschmelzen zu lassen, wie es der Leuchtröhrenwärme in den unteren, auf Augenhöhe eines draußen stehenden Filmplakatbetrachters liegenden Fenstern gelang. Welche neuen deutschen Filme dieses Filmfest – zu den „Biberacher Filmfestspielen“ reisen übrigens bis heute keine Kritiker überregionaler Zeitungen an, „die Mafia“, wie professionelle Kritikaster im Hause K. gern genannt werden, sind nicht erwünscht, nur unmittelbar an den Filmen beteiligte Personen, und ein paar auch nicht mehr ganz junge Filmbeurteiler aus verschiedenen europäischen Ländern, und natürlich auswärtiges Publikum, haben Zutritt – im Jahr 88 zeigte, ließe sich herausfinden, interessiert mich jetzt jedoch nicht, nur daß in der Filmfestspielwoche auch in einer für spätnachts angesetzten Vorstellung, nach den Festivalfilmen, Martin Scorceses Film „die letzte Versuchung Christi“ gespielt wurde; in der ersten regulären Einsatzwoche dieses Films, ist nun relevant. Schon bevor er anlief, hatten auch in der BRD, wie im Sommer in den USA, katholisch-sektiererische Organisationen heftig gegen ihn protestiert, wg. Blasphemie etc., und wütend-fanatische Reaktionen gab es nun in Biberach. Die Filmtage begannen, Filmleute aus der Republik trafen ein, die ersten Vorstellungen fanden statt – vor dem Kino, in der Saudengasse, auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße, sammelten sich Leute an; die aber keine Filmfans waren, sondern Mitglieder der Medjugorje-Sekte, eine von der römisch-katholischen Kirche geduldete Vereinigung zur Verehrung der in Medjugorje (Bosnien-Herzegowina) am 2. August 1987 dortselbst erschienenen Mutter des Heilands, und diese Religiösen, angeführt von einem jungen Grafen aus einem Schloß in Mittelbiberach, einer unmittelbar westlich der Stadt angrenzenden ländlichen Gemeinde, hatten sich zusammengefunden, um betend und knieend gegen den lästerlichen Film des amerikanischen Regisseurs vorzugehen; einen langweiligen, ästhetisch unbefriedigenden Film by the way, aber das konnten sie nicht wissen, weil sie ihn nicht anschauen durften und ohnehin sah diese Gemeinschaft grau und schwarz vermummter Gestalten, die stundenlang, bis zum Ende der nächtlichen Vorstellungen, verharrte, nicht aus, als hätte sie kinobegeisterte Mitbürger in sich gehabt. Mancher Filmmensch, Macher oder nur Gucker, stand vor den halbdurchlässigen Foyerfenstern, und am Fenster oben vor dem Eingang zum „Sternchen“, und blickte fasziniert-befremdet auf diese murmelnden, sich kaum bewegenden Gestalten hinunter, die sich wie Wesen aus einer anderen Welt, aus einem anderen Film herausgetreten vielleicht, auf dem gegenüberliegenden Gehweg verkörpert hatten, stehend, knieend; lange mit Kerzen, die in kleinen Gefäßen flackerten, in den Händen auf dem von Eisresten, über die hin und wieder Polarschneeflocken aus der Nacht schwebten, umrandeten Asphalt knieten, sich erhoben, wieder niederknieten. Der Filmfestveranstalter, von seinen Freunden aus den großen Städten und nördlicheren Gegenden auf dieses seltsame Schauspiel angesprochen, lächelte gequält ironisch; Morddrohungen habe er erhalten. Nach drei Nächten, oder vier, der Film lief noch zwei Wochen nach dem Filmfest, war der graue Spuk verschwunden. Dann wurden Wände und Fenster mit nicht weniger eigenartigen Zeichen beschmiert; waren es Wände in Biberach oder in Babylon? Polizei durchsuchte nach Attentatsankündigungen die Kinosäle. Nichts fand sich aber. Christlich-fundamentalistischer Terror kam auch durchs Telefon. Verwünschungen drohten, Tiraden schwallten. Dunkle Worte. Es blieb kalt.
- Vormittags hell. Mittags regengraue Einfärbung.
26.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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