25
Nov

25.11.2002

Stand das Christkind schon halb in der Tür, stand in den sechziger Jahren, und ich denke nun an die Mitte des mit Kaltem Krieg, Rock- und Popmusik, Pop-Art, Frankfurter Schule, „sexueller Revolution“, wie sie Beate Uhse und Oswald Kolle definierten, den politischen Morden an den Kennedys und Martin Luther King, die die Welt zwar nicht sonderlich erschütterten, nur beunruhigten, Ghettokämpfen, Black Panthers, „Studentenunruhen“, Drogen, die in Mode kamen, Astronauten und Kosmonauten, Godard- und Kluge-Filmen und ausstaffierten Jahrzehnts, auch in Oberschwaben und in Biberach die „Schlesische Weihnacht“ an. Sie wurde im großen Saal des Kolpinghauses, einem der größten Veranstaltungssäle der Stadt, gefeiert. Ich erinnere mich noch an einen anderen Ort, an einen anderen Saal, in einer Gaststätte vermutlich, wo dieses Fest der Ober- und Niederschlesierinnen und -schlesier in vorweihnachtlicher, doch, wie ich wußte, nie ganz intrigenfreier Stimmung in meiner frühen Kindheit stattfand, vermag die schattenhaften wenigen Szenen, die mir zwischen den Synapsen baumeln, wenn ich sie bewußt abrufe, aber nicht an einem genau zu nennenden Platz zu lokalisieren. Drei oder vier dieser Abende – mittelalte Menschen gingen, standen, saßen in Schlesischen Trachten herum – im Kolpinghaus-Saal, in dem ein großer Tannenbaum, der mit weiß-flauschigen Hängebrücken zwischen den Zweigen und güldenen Kugeln versehen worden war, vor der Bühne an dem einen Ende des Saals stand, und Tannenzweige und Früchte lagen auf den langen, mit bunten Kerzen und Strohsternen geschmückten und mit weißen Tischdecken überspannten Tischen, ließ ich über mich ergehen; am Ende des Jahrzehnts war ich dort nicht mehr anzutreffen. Später am Abend sang dann Herr M. in der Uniform der schlesischen Bergmänner und trug so zur Unterhaltung und Erinnerungskultur bei. Meine Mutter trug in solchen Stunden ihre Oberschlesierinnentracht aus weißen Rüschengewändern und einer weißen Rüschenhaube. Diese Tracht hatte sie freilich nicht mit auf die Flucht genommen; sie wurde in Biberach oder vielleicht auch anderswo, vielleicht in Stuttgart, nach Originalschnitten angefertigt. Es war die Hochzeit der ehrenamtlichen Tätigkeit meiner Mutter, die in diesen paar Jahren auch – 1962 war sie vierzig Jahre alt geworden – ihre besten Jahre hatte, wie ich in späterer Zeit vergleichen konnte; wie ihre Seelenverfassung in ihren Mädchenjahren in Hirschrode und Neumittelwalde, der kleinen, kaum viertausend Einwohner beherbergenden Kreisstadt nahe der polnischen Grenze, in die sie häufig „mit dem Fahrrad“, wie sie mir einmal erzählt hatte, gefahren war, sich verhalten hatte, entzieht sich meines Wissens, sie sprach nie viel von den Zeiten in ihrer Heimat, nur daß sie den einen oder anderen Liebhaber, in ihrem Alter oder etwas älter, nicht aus der Tür gewiesen habe, das hörte ich hin und wieder, wenn, im Kreis der Verwandtschaft der L.s, ihrer Freundinnen, verheirateten Freunde und Bekannten, die fast alle aus den „Ostgebieten“ stammten, die sich in Biberach und Umgebung angesiedelt hatten, die Rede auf Oberschlesien, Pommern, Polen kam. Ich fragte sie nie nach diesen Vorgängern meines Erzeugers; wie viel hatten diese Techtelmechtel ihr bedeutet? Sogar zwei Fotos von diesen Freunden, die vielleicht ja nur harmlose Begleiter gewesen waren, was ich aber nicht ganz glauben wollte, obwohl mich dieses Thema gar nicht interessierte, hatte sie bewahrt. Nur sehr selten schnappte ich, diesen Gesprächen mit höflicher Gelangweiltheit halb zuhörend, und ich saß ja auch nicht immer dabei, sondern verdrückte mich dann oft in das kleine, damals als Abstellraum benützte Zimmer, eine Nebenbemerkung auf, die mir sagte, daß sie dann der Überlegung, es wäre ihr besser ergangen, hätte sie eine andere Partnerwahl getroffen, ein bißchen Raum gab, aber rasch verschwand immer dieses Nachsinnen, und diese Reminiszenzen der in der Runde sitzenden Männer und Frauen – beispielsweise am Abend der „Schlesischen Weihnacht“ – wichen allmählich dem Tratsch über die gegenwärtigen Befindlichkeiten in einer Mundart, die ich zwar verstand, die in Oberschwaben aber nur bei solchen größeren und kleineren Zusammenkünften zu hören war, und die – auch Oberschwaben auf den Straßen – ahnen ließ, daß Deutschland vor zwei Jahrzehnten noch anders ausgesehen hatte, größer gewesen war, auch vor der Tyrannei des Anstreichers aus Braunau, und in der oberschwäbischen Luft wie eine Erinnerung an ferne und sehr fremd gewordene Regionen schwang. Meine Mutter schrieb, als humorvolle Beiträge zu diesen Feiern und zu anderen in anderen Jahreszeiten, die der Faschingszeit vornehmlich, mehrstrophige Reimgedichte, in denen Personen und Ereignisse des vergehenden Jahres – oder des schon vergangenen – „auf die Schippe“, wie eine Redewendung , die ich doch nun seit vielen Jahren nicht mehr benutzt habe, lautet, genommen wurden. Mir oblag es, die zunächst handschriftlich verfaßten Texte auf der Olivetti-Reiseschreibmaschine abzutippen, und als ich, seit 68, mit allen zehn Fingern die schwarzen Tasten bedienen konnte, erst recht. Ihre Reime holperten in manchen Versen, und wenn es mir gefiel, machte ich diese flüssiger, nahm ein Wort fort oder setzte eines hinzu, oder ersetzte eines durch eines mit ähnlicher oder genauerer Bedeutung, damit alles im Rhythmus blieb. Damals las ich fast nie Gedichte, mein Interesse galt Romanen, der Prosa, auch wenn sie in manchen Elaboraten noch so beschissen war. Und diese vier letzten Wörter des letzten Satzes sind mir eben in den Sinn geraten, weil in die plötzliche Anwesenheit der Westernheftlektüre mir gleichzeitig der Spruch von „Cheyenne“, gespielt von Jason Robarts, im Sergio Leone-Epos „Spiel mir das Lied vom Tod“ eingefallen ist, an der Stelle im Film, wo er, der Banditenchef, seinen Strauchdieben befiehlt, mit den neben den Holzbohlenstapeln herumliegenden Spitzhacken einen Bahnhof zu bauen, „und wenn das Ding noch so beschissen ist“; denn mit einem Bahnhof finge alles an. Als ich die Gedichte meiner Mutter abtippte, im Zehnfingersystem, das ich 1968, als dieser Film in die Kinos gekommen war, gelernt hatte, begann auch für mich alles; jedenfalls all der Schlamassel mit meiner beschissenen Prosa.
- Wieder ein betrübter Tag.
25.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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