15
Nov

15.11.2002

In den Wochen vor Dezember war Mitte der sechziger Jahre und bis zu ihrem Ende die Zeit genaht, die noch lange nicht zum Advent gehörte, in der in einem Büro in der Kolpingstraße, an einem Hof eines bekannten alteingesessenen Autohändlers, im ersten Stock, Tische, Stühle, Fußboden von Kartons voller Lebensmitteln überdeckt waren, deren Inhalt es Richtung Osten zu versenden galt. Frau M., der wir im Februar schon in diesen Episoden einmal begegnet sind, die Vorsitzende des „Bundes der Vertriebenen“ im Landkreis Biberach, hatte auch den Vorsitz des Kreisverbandes jenes Paritätischen Wohlfahrtsverband inne, und eine der Aufgaben ihres Verbands war es, nicht nur in Biberach, den „Brüdern und Schwestern in der Zone“ zu Weihnachten Gaben zukommen zu lassen. Meine Mutter hatte immer, auch bevor sie ihre Mitarbeit an diesem Verband aufgenommen hatte, zu Weihnachten Pakete in die „Ostzone“, die in den sechziger Jahren durchaus auch in offiziellen Staatsverlautbarungen oft noch so genannt wurde, statt daß dem anderen deutschen Staat seine Bezeichnung als „Deutsche Demokratische Republik“ zugestanden worden wäre, geschickt, denn wirklich hatte sie ja Schwestern dort. Rechtzeitig, denn die Erfahrung hatte gelehrt, wie lange diese Pakete nach Dresden und Fischbach, später nach Radeberg, brauchten (und man nahm an, daß die Stasi einen Blick in sie warf), bis sie ankamen, kaufte meine Mutter Kakao, Schokoladen, Kaffeepackungen – „guten Bohnenkaffee“, Seidenstrümpfe und was weiß ich nicht noch alles zusammen, für zwei Pakete, in manchen Jahren drei, und die guten Sachen „aus dem Westen“ wurden sorgfältig in buntes Geschenkpapier mit „Weihnachtsmotiven“ – gibt es ja noch immer – gewickelt und ebenso sorgsam in die Kartons hineingelegt, in fast weihevoller Handlung, so, daß kein Eckchen im Pappebehälter ungenutzt blieb. Sehr wichtig waren die vier bis fünf Zigarettenschachteln „HB“, „Peter Stuyvesant“ oder „Astor“ und „Ernte 23“, Marken, die auch ich zur Vor- und Nachbereitung des Filmgenusses mir ansteckte. Ich rauchte zu jener Zeit aber nicht viel, so waren durchaus auch nach zwei Wochen noch in einer Schachtel Zigaretten zu finden. Die Männer meiner Tanten interessierten sich nur für die Zigaretten, die über die Feiertage und danach – nun tatsächlich in zelebrierendem Gestus – genußvoll weggeraucht wurden; bekamen wir in den Dankesbriefen zu lesen. Auch mit anderen Leuten im „Osten“ führte meine Mutter Korrespondenzen. Ich interessierte mich nie dafür, was sie in ihren Briefen schrieb. Auch unter solchen Nichtverwandten – ich entsinne mich einer guten Jugendfreundin meiner Mutter, einer Frau mit starkem Gebiß, die nach der Vertreibung aus Schlesien (ich weiß nicht mit Sicherheit zu sagen, ob auch sie aus Schlesien stammte) in Erfurt wohnte, und einmal auf den „Zonenreisen“ besuchten meine Mutter und ich sie auch, die nicht weit entfernt vom Dom wohnte – gab es Empfänger solcher Pakete (oder Päckchen). Als meine Mutter für den Paritätischen Wohlfahrtsverband ehrenamtlich tätig war, hatte sie, wie die anderen Damen mittleren Alters, die als Helferinnen hier werkelten, alle aus dem Umkreis von Frau M., Anspruch auf eine gewisse Menge an den Lebens- und Genußmitteln, die in tagelangem Packen versandfertig gemacht wurden. An irgendeinem Nachmittag im Herbst fuhr ich dann in die Kolpingstraße und nahm im hell erleuchteten, deswegen aber nicht weniger tristen Büro zwei pralle Plastiktaschen mit den uns zukommenden Geschenkrationen entgegen und transportierte sie nachhause; und eine zweite Fuhre konnte schon notwendig sein. So sparte meine Mutter Geld, und die Weihnachtspakete gingen dennoch gut gefüllt ab. Es war, um mich zu wiederholen, denn die Stimmung ist mir noch sehr gegenwärtig, eine nahezu feierliche, „vorweihnachtliche“ Handlung, etliche Wochen vor dem Fest alles liebevoll mit den verschiedenfarbigen Papieren zu ummanteln und mit minimalen Hand- und Fingerbewegungen die einzelnen Stücke und Stückchen korrigierend zurechtzulegen. Zum Schluß erhielt der volle Karton, der sein Gewicht nun hatte, seine Verhüllung durch zwei Lagen starken Packpapiers – ich habe noch heute seinen Geruch in der Nase, wenn ich daran denke ... – und mit dickem Bindfaden mehrfach verschnürt. Eine Paketkarte wurde ausgefüllt. Schließlich befestigte ich den hölzernen Tragegriff an dieser Schnur; mit ihm konnte das Paket transportiert werden. War alles fertig, radelte ich am nächsten Tag, denn erst abends nach ihren Arbeitsstunden, oder auch in manchen Jahren an einem Samstag oder Sonntag, widmete sich meine Mutter dem „Packen“, mit dem klobigen Ding auf dem Fahrradrückständer zur Post in der Nähe des Bahnhofs. War das Paket so groß, daß es drohte, trotz Schnurbefestigung an Ständer und Sattel während der Fahrt hinunter zur Post, bei „Kaltenbach & Voigt“ vorbei, umzukippen oder herunterzufallen und vor einem Auto auf der Straße zu landen, blieb mir nicht anderes übrig, als das Teil zu Fuß wegzuschaffen. Ich erinnere mich der Tage, in denen ich mit zwei Paketen unter den bald schmerzenden Armen über die Gehwege schlich und die Lasten dann und wann absetzte, meine Arme wie ein Primat schlackernd schlenkerte und so in Etappen die Abgabestelle endlich erreichte. Was mir diese Wege dann erleichterte war der Gedanke, daß in der „Zone“ an solchen Tagen ebenfalls gepackt wurde und ich am Heiligen Abend zwei Bücher aus der Geschenksammlung, die im Karton ruhte, nehmen konnte. „Test“ und „Der Unbesiegbare“ von Stanislaw Lem waren wohl 1968 zwei von diesen Büchern. Hörte sich „Zone“, „Ostzone“, nicht, bei einschlägigen Kenntnissen, auch irgendwie nach Science Fiction an? Und wirklich, in der Wirklichkeit, war diese Zone ja eine Vorform, in ihrem Selbstverständnis wenigstens, einer utopischen Gesellschaft.
- Kaltes Grauen.
15.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6368 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren