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28.11.2002

Im Frühjahr und Sommer 1996 drehten acht Amateurgruppen in Biberach an der Riß Videofilme über Themen, die mit ihrem Leben in der Großen Kreisstadt zu tun hatten. Einer dieser Filme schilderte auf eindringliche Weise das Leben Obdachloser, die es auch in dieser Stadt gab und gibt, ein anderer die Hiphop-Szene, ein dritter, den der Philosoph Kraft und sein kleines Team herstellten, beschäftigte sich mit dem Wirken Hugo Härings, dem bedeutenden Architekten und Architekturtheoretiker der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. (Der, als er mitten im Krieg nach Biberach, seiner Heimatstadt, zurückgekommen war, enttäuscht von seiner Erfolglosigkeit, in die er in den Jahren der Nazi-Diktatur hineingeraten war, eine Sammlung von Gemälden des Suprematisten Kasimir Malewitsch, die der Künstler, als er überhastet in die Sowjetunion abgereist war, ihm in Berlin zur Aufbewahrung nach einer Ausstellung übergeben hatte, nach Biberach mitgebracht und, wie die Legende sagt, unter seinem Bett in der Ehinger Straße versteckt hatte. Später hatte Häring die Bilder für eine Jahresrente von DM 10 000 an das Stedelijk-Museum in die Niederlande verkauft. Er hatte von dieser Vereinbarung jedoch nichts gehabt, denn ein Jahr danach war er gestorben.) Diese acht Filme stellten das Ergebnis eines Medienprojektes dar, das der Kulturdezernent der Stadt, Dr. Biege, angeregt hatte und das mit der Landesbildstelle und der Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt wurde. Vierzehn Gruppen waren es zu Beginn gewesen, acht erreichten das Ziel. Ihre unterschiedlich langen Videos waren ein Programmteil des ersten Abends der Filmtage jenes Jahres. Alle wurden hintereinander im „Urania“-Kino gezeigt. „Lost in Illusions“, die Ausgestaltung der Idee, die mir in den Kopf gekommen war (und das der jungen Regisseurin L. und unseres nie ermüdenden vielköpfigen Teams) war in dieser Reihe der letzte Film des Abends. Bevor ich ins Kino zur donnerstäglichen Arbeit gegangen war, hatte ich einen schönen Strauß Blumen gekauft; zur Premiere unseres „Strauß“-Films. Den hatte ich in ein Gefäß, das ich mir im „Sternchen“ ausgeliehen hatte, gestellt, deponierte ihn im Treppenhaus. Jenes Filmfest begann wegen der Biberacher Filme sofort mit vielen Besuchern. Die Filmteams durften unentgeltlich ins Kino. Unsere Namensliste war wohl die umfangreichste. Ich machte meine Arbeit, während die Filme der anderen Gruppen mit einem Videobeamer auf die Leinwand geworfen wurden. Als dann mein Film – „mein Film“, durfte ich an diesem Abend sagen, sagte aber lieber „unser Film“ – an der Reihe war, sagte ich A.K., daß ich mir natürlich meinen Film im Saal ansehen werde. Er sah mich mißbilligend an; wer, bitte, sollte denn die Arbeit in dieser Stunde und danach tun? Er sprach es nicht aus, ich wußte freilich, was er dachte. War mir wurscht. Ich stellte mich hinten an der rechten Eingangstür in den Saal. Ich war im Kino, ich war im Film. Der Streifen gefiel mir nicht übel. Zweiundvierzig Minuten lang konnte ich den selbstquälerischen Spaziergängen des Schriftstellers Lost aus Berlin durch Biberach und seinen Albträumen zusehen. Als das Licht im Saal langsam anstieg, gab ich den Blumenstrauß, den ich zwischendurch aus dem Treppenhaus geholt hatte, unserem Mann für die Continuity und die Klappe, Raphael S.; wir hatten uns abgesprochen, daß er die Blumen unserer Regisseurin überreichen solle. Der hübsche große blonde Raphael ging nach vorn und überreichte den geschmackvollen Blumenstrauß. Applaus. Ich stellte mich vorn neben die Regisseurin und Kamerafrau. Wir sagten ein paar Sätze zur Idee und Herstellung des Films. Nach einer Viertelstunde verließ das Publikum den Saal. Ich widmete mich wieder der Arbeit. Der junge Sohn des ehemaligen Oberbürgermeisters H. sprach mich im Foyer, wo ich Plakate auswechselte, an, beglückwünschte mich zu „meinem“ Film. Nach einer Weile hatte ich aber doch das Bedürfnis, noch ein paar Äußerungen dazu zu hören, beendete die Arbeit und betrat das vierkantige Zelt, das – eine Errungenschaft der Mittneunzigerjahre erst – im Hof aufgestellt worden war, in dem das Kinovölkchen sich verköstigte und seine Meinungen austauschte. Bald stand ich, umgeben von Leuten, die mich kannten, an einem der „Bistrotische“ und berichtete Amüsantes von den Dreharbeiten. Denn das hatten wir auch gehabt, nicht nur Ärger. Ich unterhielt mich dann mit Raphael. Er fuhr mich im BMW seines Vaters in die Amriswilstraße, später. Am Tag danach beklagte sich A.K., er habe, bei allem, was um ihn herum sei, auch noch bis spät meine Arbeit tun müssen. Vielleicht hatte es ihm auch nicht behagt, daß sein Filmvorführer plötzlich, in fortgeschrittenem Alter, nach so vielen Jahren treuer Dienste, noch eigene Ambitionen zeigte. Am 2. Dezember 96 kündigte ich mündlich meinen Job, schriftlich einige Zeit danach.
- Novemberstimmung, grau in grau.
28.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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