KD

9
Nov

9.11.2002

Das untere Ende des Filmstreifens wird auf die untere Filmspule, die sich in der unteren Filmspulentrommel befindet, aufgelegt und durch „hartes“ Drehen der Spule auf ihr festgezurrt, möchte ich fast sagen, eben so fest angespannt, daß der Filmstreifen straff sitzt, denn nur so kann die sich bei anschließender Inbetriebnahme des Projektors drehende untere Spule – die obere dreht sich natürlich auch – den Film aufspulen, ohne daß er aus der unteren Trommel „hinausläuft“. Das Vorprogramm war somit eingelegt, nun wurde der Hauptfilm, der Film, den anzusehen die Kinobesucher da unten im Foyer oder im Saal, denn im Erdgeschoß, das auch im „Urania“-Kino ein Hochparterrre ist, ist nun Einlaß, gekommen sind, in den anderen „Bauer“-Projektor eingefädelt. Seit Mitte der achtziger Jahre verfügten auch die „Filmtheaterbetriebe K ...“ über eine sogenannte Filmtellervorführvorrichtung, im internen Kinojargon „Tellerbetrieb“ genannt, die von dem Ravensburger Kinobesitzer Burth erfunden worden war und auf die er ein Patent hält. Alle großen Kinos, die Kinocenter, und auch die mittleren und kleinen, von letzteren aus Finanzierungsgründen nicht alle, besitzen seit Anfang der achtziger Jahre oder auch erst später solch eine automatische Abspieleinrichtung. Diese Erfindung ermöglicht das Abspielen ein- und derselben Filmkopie, zeitlich versetzt, in mehreren Kinos: Der sehr lange Filmstreifen, der bei Zweistundenfilmen eine Länge von etwas mehr als eineinhalb Kilometern oder noch mehr hat, läuft über aufgehängte Spulen durch mehrere Projektoren in einer Vorführkabine oder mehreren, und einer der Vorteile dieses Verfahrens ist darin zu sehen, daß für den Abspielbetrieb nur ein Vorführer für alle Kinos statt zwei oder drei für die verschiedenen Vorführräume mit traditioneller Zwei-Projektoren-Vorführung benötigt wird. Die Burth’sche Erfindung ist auch aus diesem Grund für die Kinobetreiber eine sehr nützliche Rationalisierungsmaßnahme. Ein anderer Vorteil daran ist, daß der Vorführer, oder die Vorführerin, denn solche gab und gibt es auch, zu meiner Zeit in diesen Biberacher Kinos aber nicht, nicht alle fünfzehn oder zwanzig Minuten die Projektorenfilmspulen auswechseln mußte, wie es jahrzehntelang der Fall war, wenn ein Spielfilm so gezeigt wurde, wie der Kinobesucher es erwartete, nämlich ohne technische Pausen in der Filmhandlung. Das kam schon einmal vor, vor der Installierung der „Filmteller“, und auch mir unterliefen gelegentlich Projektionsfehler, als dieser vortreffliche automatische Betrieb noch nicht vorhanden war, also bis etwa 1984 im „Urania“. Im „Filmtheater“ wurde der Filmteller früher aufgebaut. Als ich zu Beginn der achtziger Jahre für einige Zeit auch in diesem Kino vorführte, geschah das noch – wie in diesen Jahren auch im „Urania“ – im Zwei-Projektoren-Modus, der noch mit Lichtbogenprojektion funktionierte. Der eine oder andere, die oder jene, der oder die im Physikunterricht etwas aufgenommen haben, erinnert sich nun vielleicht an das elektrische Zusammenspiel von Kathode und Anode, das zwischen beiden Polen, die vorzugsweise aus Kohlestäben bestehen, eine Verbindung aus Licht herstellt; Photonenfluß entsteht, Quanten schwingen; nach diesem Prinzip warfen diese alten Projektoren das Licht, also die Filmbilder, auf die Bildwand am anderen Ende eines Kinosaals. Der Vorführer hatte auch die schöne Aufgabe, diese Kohlestäbe, die sich, mitsamt dem Spiegel, der das Licht fokussierte, im breiten gewölbten Blechkasten hinter der mechanischen Apparatur befanden, alle zehn Minuten nachzuregulieren, um eine beständige Lichthelligkeit zu gewährleisten; andernfalls wurde der Film auf der Bildwand, während die spannende Geschichte, der er erzählte, fortging, immer dunkler, auch wenn die Filmstory eine durchaus optimistische war. Während der Filmstreifen durch einen der beiden Apparate mit ratterndem Geräusch durchlief (und am Geräusch, das sich aus den Geräuschen, die Apparat und Filmstreifen verursachten, zusammenmischte, hörte ein erfahrener Vorführer, und der war ich, heraus, wenn etwas nicht stimmte, wenn sich ein Defekt ankündigte), mußten regelmäßig die abgebrannten Kohlestäbe des anderen, im Augenblick nicht benutzten, durch neue, neue glänzende, denn eine dünne kupferne Metallummantelung hatten diese Stäbe, Stifte ersetzt und justiert werden. Leichte Gerüche, die nicht unbedingt gesundheitsfördernd sein konnten, entstiegen dann dem grauen geöffneten Blechkasten und verteilten sich mit Partikeln diverser Provenienz, die durch den Vorführraum reisten. Aber zurück in den Sonntagnachmittag. (Heute wäre übrigens so ein beschriebener Samstagnachmittag, arbeitete ich noch in diesem Job, und ich bin froh, daß dem nicht so ist.) Legte ich den Spielfilm – und manchmal war auch das Vorprogramm „davor“ angeklebt – , in den Projektor ein, 1992, dann nahm ich das innere Ende, den Anfang des Films, zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand – ich schreibe mit der rechten, vollziehe aber handwerklich-technische und ähnliche Tätigkeiten vorzugsweise mit der linken – und fädelte es in die Metallgabel und durch die breiten Spulen des „Steuerungskerns“ in der Mitte eines der drei Filmteller, die übereinander angebracht sind, ein; die Gabel dieses Teils der automatischen Anlage wird durch den Zug und die Bewegung des Filmstreifens hin- und herbewegt, nach links, nach rechts, und signalisiert in diesem Pendeln dem Steuerungsgerät an der Wand, wie schnell oder wie langsam die große runde Platte, auf der der große schwarze Kreis aus sechs, sieben oder acht oder noch mehr zusammengeklebten Filmakten liegt, rotiert (Jeder Film wird fast immer in Form von „Akten“ – die Bezeichnung leitet sich von den „Theaterstückakten“ ab – in flachen schwarzen oder braunen Kartons, in Kisten verstaut, von einem Filmspediteur angeliefert). Dreht sich die Platte aufgrund von Steuerungsstörungen zu schnell, droht Ungemach; dreht sie sich zu langsam, ebenfalls, dann nämlich stimmen die Abspielgeschwindigkeiten des Projektors und der Platte, die dem Apparat den Film zuführt, nicht mehr überein, der Zug wird plötzlich zu stark: der Film reißt und beschädigt, wenn das Unglück es so will, zusätzlich die Mechanik des Projektors. Das gibt dann viel Streß. Ich hatte manchmal solchen Streß; anderen aus anderen – nicht nur technischen – Ursachen natürlich auch. Jeder Vorführer, nehme ich an, flucht dann und drückt auf der Knöpfchenplatte unter dem Sichtloch, durch das er in den Saal sehen kann, oder anderswo ein Knöpfchen, schaltet Saallicht ein, greift zum Haustelefon, informiert die Platzanweiserin, was Sache ist und macht sich an die Arbeit, die Schweinerei in Ordnung zu bringen, was Zeit kostet. Ist der Vorfall größer, kann es sein, daß sich der Beginn der nächsten Vorstellung hinauszögert.
- Ein finster-verregneter Tag, naßkalt.
9.11.2002

8
Nov

8.11.2002

An einem Sonntag – nehmen wir einen im Frühjahr des Jahres 1992 – stand ich kaum vor elf Uhr auf. Die Nacht des Samstags war lang gewesen; der ganze Samstag war lang gewesen: Mittags zum Einkaufen auf den Markt, in die Geschäfte, die um den Marktplatz liegen, oder lagen, muß ich aus der heutigen Perspektive schreiben, dann oft in ein Café, bis der Stadtbus zum Hühnerfeld fuhr, oder auch nicht ins Café. Zuhause machte ich mir ein schnelles Mahl, dann ging ich hinunter in die Stadt (die Stadtbusse fuhren nicht mehr) zum Kino. Für diesen Weg brauchte ich genau fünfundzwanzig Minuten, ob’s stürmte oder schneite. Ich schloß mit einem Schlüssel, der neben anderen an dem Schlüsselring hing, dessen Anhängsel die Kinotüren auf- und abschlossen, die Privateingangstür zum „Urania“-Gebäude, die neben der Innenhofstreppe zum Foyer ins Haus Einlaß gibt, auf und deponierte zunächst den Beutel, in dem ich ein paar Kleinigkeiten zum Verzehren für den Abend mit mir führte, in einer Ecke neben den Stapeln von Filmplakat- und –bildermaterial, das in den braunen Tüten der Verleihfirmen im Treppenhaus – immer an der Wand lang – zu Stößen von manchmal einem Meter bis ins oberste Geschoß hinauf gelagert war. Oft hatte ich mir die mittägliche Busfahrt vor den Wohnblock erspart, um länger im Café plaudern zu können; eher aber las ich zu diesen Stunden das Feuilleton der F.A.Z. oder der „Süddeutschen“. Im Kino stellte ich dann die Plastiktasche von „Lidl“ oder „Kaiser’s“, angefüllt mit Lebensmitteln und einer Flasche Wein oder zweien, in der sich häufig auch eine Flasche Whisky oder Rum befand, in diese Ecke vor, wenn man die Innenansicht des Treppenhauses wählt, der Eingangstür. Entweder schloß ich dann die Zwischentür, die vom Treppenhaus ins „Urania“-Foyer führt, auf, um sofort den Nachmittagsfilm im engen Vorführraum hinter dem „Stardust“-Kino in den Projektor zu legen, um auch die Innenbeleuchtung des Kinos und den Kassettenrecorder, der die Einlaßmusik abspielte, einzuschalten, oder ich stieg erst einmal die Treppe hinauf zum ersten Stock, um von dort durch die in die Wand eingelassene Tür zum Garderoben- und WC-Flur des „Sternchens“ und weiter, durch die zweite, zu dieser Stunde immer offenstehende Tür, in den Saalbereich zu gehen, dort die ebenfalls offenstehende Tür, etwas versteckt im Gang, der links im Saal den Zugang zu den Sitz- und Tischreihen erlaubt, gelegen, hinter mir lassend den Vorführraum für das „Urania“-und „Sternchen“-Kino zu betreten. Das galt für Samstage und Sonntage, so daß wir wieder im Sonntag sind. Zuerst öffnete ich das Fenster, das am Ende des dunklen Vorführraums den Blick ins Freie gestattete und frische Luft hereinließ, solange für’s „Sternchen“ kein Film abgespult wurde. Ich schaltete mit einem klobigen Schalter an der Schaltwand die Gleichrichter im Gleichrichter-Raum ein, ein tiefes Brummen kam auf, das bis zum Ende des Kinotags, bis nach ein Uhr, nun den Vorführraum erfüllte; ein Ton, den ich häufig kaum noch wahrnahm, so hatte ich mich im Laufe der Jahre an ihn gewöhnt. Danach war in diesem Kabuff, in dem die Gleichrichter – der Strom für die Projektoren mußte umgewandelt werden – standen, an einem anderen Schaltkasten die Notbeleuchtung für „Urania“ und „Sternchen“ einzuschalten, danach die Klimanlage für das nebenan gelegene Kino, eben das letztgenannte, deren sichtbarer Teil ein voluminöser Kasten seitlich links über dem sehr alten, dunkelbraunen Arbeitstisch aus Holz war; eventuell regulierte ich mit einem Knopf die für das Kino notwendige Temperatur, immer aber im Winter oder an kalten Tagen; und der Kinobesitzer drehte sie dann während des Abends wieder hinunter ... Die große Filmspule mit den Vorprogrammfilmen – Werbung, Trailer – wurde dem ebenfalls jahrzehntealten Spulenschrank entnommen und auf den Metallstift in der Mitte der offenen oberen Projektortrommel eines der beiden Projektoren des „Urania“-Kinos gesteckt, die Trommel dann geschlossen. Ein Filmstreifen von etwa einem Meter hing nun unten aus der Trommel heraus. Ihn, dessen Breite 35 Millimeter betrug, legte ich jetzt mit etwas Fingerspitzengefühl über Rollen mit und ohne winzige Metallzähne; die mit den Zähnen griffen in die zu beiden Seiten des Filmstreifens entlang laufende Perforation hinein und transportierte den Film durch die „Filmbahn“, durch deren fest verschlossene „Kammer“; hinter der das 1000-Watt-Auge darauf wartete, sein exorbitant kräftiges Licht durch die vor ihm nach unten strömenden einzelnen Filmbilder zu werfen. Vierundzwanzig Bilder pro Sekunde; diese Geschwindigkeit täuscht den Augen des Homo sapiens vor, die Figuren auf der Bildwand würden sich bewegen. Dieser Film, aus vielen einzelnen Filmen zusammengeklebt, war also das Vorprogramm für dieses Kino an diesem Tag.
- Grau-regnerischer Tag.
8.11.2002

5
Nov

5.11.2002

Erst nach dem Tod der Mutter der Geschwister Leupolz, der zu ihr trat, als sie in ihren Achtzigern lebte, nach dem Beginn der achtziger Jahre des Jahrhunderts, das doch die meisten Toten produzierte, und dieses technische Wort dürfte, eingedenk des fabrikhaften Tötens, angebracht sein, aber das auch allgemein, bevölkerungs- und mortalitätsstatistisch betrachtet, bisher in der Menschengeschichte die meisten Toten gehabt hatte, weil mehr Lebende als jemals zuvor auf der Erde sich fragten, wozu sie da seien, begann allmählich ein anderes Ritual, ein gesellschaftlicheres, denn als Klaus L. die Zweizimmerwohnung im obersten, im dritten Stockwerk des geerbten Hauses bezogen hatte (das zweite Zimmer war kaum der Erwähnung wert, so winzig war es), trafen wir, die Freundesgruppe, uns mit einiger Regelmäßigkeit jeweils an den Montag Aenden bei Klaus L., und daß das Anfang der Wochen, am ereignislosesten Tag der Woche, wie der Montag sich eben in Biberach darstellte, geschah, lag daran, daß ich über das ganze Jahrzehnt der Achtziger bis zur Mitte der Neunziger nur an diesem Tag nicht zur Kinoarbeit mußte; aber es gab während meiner Kinozeit auch Phasen, in denen ich selbst am mir zustehenden freien Tag Filme vorführte, freiwillig, weil ich dadurch zu ein paar Mark mehr kam; es war im Jahr 1984, und um das zu verifizieren müßte ich in die Akten sehen, als ich, weil der „Montagsvorführer“, der gelegentlich auch, doch sehr selten, an anderen Tagen, Abenden, einsprang, den Job an den Nagel gehängt hatte und ein Nachfolger sich anscheinend nicht so schnell finden ließ, ein Vierteljahr ohne einen einzigen freien Abend durcharbeitete. Ohnehin fand mein Privatleben, sofern ich davon sprechen konnte, erst nachts statt. Schon vor den Filmvorführerjahren hatte ich die Nacht zu meinem Tag gemacht. An den Abenden der Montage kam der „kleine Kreis“ zusammen, zu dessen Teilnehmern außer dem Gastgeber L. die Herren Thomas G., Jürgen K., Mario K., hin und wieder, gegen Ende der Achtziger, auch Christoph H., als wir noch miteinander befreundet waren, gehörten, und andere, deren Namen mir augenblicklich schon entfallen sind, die aber nie immer alle zusammen sich einfanden, dazu ab und zu Damen unterschiedlichen Alters, die, sei es, weil sie seit längerem Zugang zum „kleinen Kreis“ hatten, zu dem sich hin und wieder andere jüngere und ältere Herren für einen Abend dazugesellten, die aber auch nur selten erschienen, oder, weil sie zum Bekanntenkreis eines der Teilnehmenden zählten und zufällig im „Tweety“ um die Ecke gesessen hatten und eingeladen wurden, nach dem spätabendlichen Kneipenaufenthalt noch zum Plaudern und Trinken in die Leupolz’sche Wohnung mitzukommen, anwesend waren. Es war eine (heterosexuelle) Männerrunde, ein mal wirklich nur „kleiner Kreis“, der oftmals auch nur aus Klaus L. und mir bestand, oder es war auch so, daß dann, als L. und ich schon seit einer oder zwei Stunden bei billigem Wein miteinander unsere Gespräche geführt hatten, noch andere „eingeführte“ Mitglieder unseres Montagstreffens, unseres „Jour fixe“, später eintrafen, oder ein andermal größeres Zusammenkommen sich ergab, je nachdem, wie Lust und Laune dazu verhanden waren; auch, um das nicht zu vergessen, in den zur Nacht gewordenen Abenden von Freitagen zu Samstagen; aber ich war dann so gut wie nie dabei, denn bis ich aus dem Kino herauskam, waren diese freundschaftlichen Zusammenkünfte wieder beendet. Alternierend zu L.s Gastfreundschaft lud ich den „kleinen Kreis“ immer mal wieder zu mir in das Apartment im fünften Stock ein; auch dann wurde es, bei Bier, Wein, Whisky, Zigaretten, stets sehr spät, und Thomas G., einer meiner nicht schwulen längstjährigen Freunde, der zu jener Zeit auswärts studierte, fuhr schließlich Klaus L. hinunter vor das Haus in der Justinus-Heinrich-Knecht-Straße und danach Richtung Nordwesten zu seinem Studienort in Baden-Württemberg. Dieses rituelle Treffen verlor erst Mitte der neunziger Jahre an Bedeutung; als nach fast zehn Jahren das Bedürfnis nach Zusammenkunft und Austausch sich erschöpft hatte und auch die Freundesbeziehungen sich zum einen oder anderen gelockert hatten oder gar fast abgebrochen waren. Eine Stimmung, oder Nichtstimmung, der Langeweile war über den „kleinen Kreis“ gefallen, und es gab zwar noch die Montagabende, aber nur Klaus L, Thomas G. und ich hockten, bei L. oder mir, noch zusammen, aus alter Gewohnheit. Ich hatte inzwischen Alkohol und Zigaretten ja aufgegeben, und auch das Kneipengehen machte mir nun kaum noch Vergnügen. Zwanzig Jahre lang hatte ich es exzessiv gepflogen. Als Klaus Leupolz im Januar 1996 tödlich erkrankt war, war es aus mit diesem Ritual, das so viele Jahre praktiziert worden war.
- Kalt, ab dem Mittag sonnig; um 16.45 Uhr ein langer rosafarbener Strich, ein Kondensstreifen eines Flugzeugs, quer über die „Linden“ im graublau abfärbenden Himmel über Berlin.
5.11.2002

2
Nov

2.11.2002

Es muß an einem herbstlich sonnigen, wärmenden Nachmittag während der 10. Baden-Württembergischen Literaturtage im Frühherbst 1992 gewesen sein, als ich, durch die Stadt schlendernd, an der Bürgertumstraße an einem der weißen Plastiktische, die dort am Eingang eines Cafés standen, Mario Katz neben einer Dame bei einem Glas Wein sitzen sah, und näher trat und an diesem Tisch auf einem weißen Plastikstuhl Platz nahm. Mario war im Gespräch mit Frau Nestle, der Gattin eines Chefarztes am Kreiskrankenhaus Biberach, begriffen, ich gab ab und zu ein paar einsilbige Bemerkungen dazu; so wurde ich mit Frau N. bekannt, und als Mario gegangen war, seine Aktentasche, die er unvermeidlich immer, wenn man ihm begegnete, bei sich führte, hinter den Sattel seines Fahrrads geklemmt hatte und fortgefahren war, kamen Frau N. und ich auf die in jenem Jahr neu etablierte Jugendkunstschule, deren Leiterin sie war, zu sprechen. Frau N., die schon eine Laien-Theateraufführung mit dem Brecht-Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ initiiert hatte, äußerte im Gespräch im Spätsommerlicht den Wunsch, daß es, wenn es irgend möglich wäre, doch auch die jugendlich-kindgerechte Arbeit mit Sprache, mit Literatur, an ihrer Institution geben möge, so bot ich ihr an, mir einmal Gedanken darüber zu machen. Sie kannte mich und meine literarische Kompetenz freilich noch nicht, gab jedoch ihrer Bereitschaft Ausdruck, einmal ein Konzept von mir zur Einrichtung einer Literaturwerkstatt für Kinder entgegennehmen zu wollen. Zwei Monate verstrichen, ohne daß ich das tat und ohne ermunternde Aufforderung, es zu tun, doch im Dezember formulierte ich ein paar Überlegungen und schickte das Papier ins Büro der Jugendkunstschule, das im Gebäude der Jugendmusikschule an der Wieland-Straße untergebracht war. Danach geschah etliche Monate wieder nichts, wieder war ein Winter meines Mißvergnügens Vergangenheit, ich verbannte im Frühjahr Alkohol und Nikotin aus meinem Leben. Zufällig begegneten Frau Nestle und ich uns in der frühsommerlichen Stadt und sie sagte, wir sollten uns endlich zusammensetzen, um die Eröffnung der literarischen Sektion der aufblühenden Jugendkunstschule zu erörtern. Das taten wir einige Tage danach auf den Holzbänken vor dem „Tweety“. Sie beauftragte mich, ein Faltblatt, ähnlich denen, die schon auf die Kurse und Veranstaltungen ihrer Schule hinwiesen, herzustellen, in dem etwas Aussagekräftiges zu einem zu beginnenden Literaturkurs für Kinder ab neun Jahren stünde. Ich arbeitete mit IBM und Schere und Klebstoff, bastelte ein grafisch und literarisch ansprechendes Blättchen und lieferte es nach wenigen Tagen ab. Der Schulleiterin gefiel es nicht übel, die nötigen Informationen waren optisch hübsch eingepackt; für’s Bewerbungsgespräch mit dem Vorsitzenden des Fördervereins, der diese nichtstaatliche Schule, die für ihre Kurse Gebühren verlangte, trug, dem städtischen Musikdirektor und Chef der Jugendmusikschule mit dem mir vertrauten Namen Marx, dessen Vater eine bedeutende Musikerpersönlichkeit in Stuttgart gewesen war, war nun noch ein sogenannter Lebenslauf vorzulegen. In den – diese Bewerbung war in meinem Leben die erste und letzte – schrieb ich kein Wort von meinem früheren marxistischen Funktionärswirken hinein. Das Gespräch wurde geführt, ich bekam den Job, den ich weniger wegen des Honorars, das, monatlich abgerechnet, nun auf mich zukam, angestrebt hatte, wie ich ja nie ein Streber war, sondern weil ich in mir spürte, daß ich dafür ganz gut geeignet sei und Lust hatte, etwas auszuprobieren. Das Studium der Pädagogik bei Professor Buck in Stuttgart hatte ich ja de facto nicht betrieben, neben der Politologie, die mich bald ebenso gelangweilt hatte, so war diese Tätigkeit eine Art Feldversuch in eigener Sache auch. (Prof. Buck, ein Mann nahe der Emeritierung, hatte oft und ausgiebig über seine Zeiten als Pädagoge an Waldorf-Schulen gesprochen. Hatte er nicht an der Odenwald-Schule gelehrt?) Eines Nachmittags in der Oktobermitte des Jahres 1993 war ich im kleinen Unterrichtsraum im Souterrain des alten Jugendmusikschulgebäudes – in das ich als Kind zum Erlernen des Blockflötenspiels hinein- und hinausgegangen war – , der auch für andere Kurse, Malkurse, benutzt wurde, von zwölf aufgeweckten Kindern umgeben, die gleich mir auf Holzstühlchen, die eher für sieben Zwerge als für zwölf Neun- und Zehnjährige beiderlei Geschlechts gedacht zu sein schienen, um eine große rechteckige, tiefblau angestrichene Holzplatte hockten und mich erwartungsvoll und etwas skeptisch beäugten. Ich erklärte, was hier stattfinden würde, begann das Wort zu erheben und Wörter zu erwähnen, mit denen auf die vielfältigste Weise gespielt werden könne; und alle Wörter sind ja dafür geeignet. Und daran beteiligte auch ich mich, bis zum Sommer `98. Es machte viel Spaß.
- Ein vormittags grauer Samstag, mittags kurze sonnige Auflichtung, blauer Himmel, weiße Wolken, danach Verdüsterung.
2.11.2002

1
Nov

1. November 2002

Die Samstage und Sonntage, aber auch die Dienstage, die Mittwoche und auch Donnerstage, in denen ich – sagen wir: im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren – abends ins Kino ging, meistens in die 20.30 Uhr- oder 20.15 Uhr-Vorstellungen (je nach Filmdauer), waren besondere Tage. An den Freitagen – übrigens waren natürlich auch sie Kinotage – las ich, wenn ich in der Zeitung, die ich fast immer erst mittags aus dem Briefkasten zog, wenn ich von der Schule das Gartentürchen aufschwang (oder meine Mutter hatte das, bevor sie aus dem Haus gehen mußte, schon getan) und dann mit einer gewissen Genüßlichkeit aufblätterte, während ich das Mittagessen ohne sonderliche Beachtung verzehrte, auf einer der letzten Seiten, die ich zunächst inspizierte, die Kinoanzeigen vor allem andern; die waren als eine Leiste am unteren Ende, unter dem Sammelsurium der Klein- und Werbeanzeigen, die sich unter der Woche für die Kleinstadtleser in der Anzeigenabteilung der „Schwäbischen Zeitung“, Lokalausgabe Biberach, angesammelt hatten, abgedruckt, und wenn ich sie studierte, die Bildchen ansah, die als Werbemotive über den kleinen Zahlen, die die Anfangszeiten waren, standen, und die sonstigen Angaben, wie „Prädikat wertvoll“ oder „Prädikat besonders wertvoll“, und vielleicht auch zusätzlich die Angabe, in der wievielten Woche ein bestimmter Film schon gezeigt wurde, stieg in mir ein wohliges, angenehmes Gefühl auf, eine Art Wärmegefühl, das sich in mir ausbreitete, besonders, wenn an einem Freitag in damals allen drei Kinos, die es in B. in den sechziger Jahren erst gab, ein neues Programm anlief, und ich die Anzeigen, die in reduziertem Umfang unter der Woche auch wieder warben, noch nicht kannte. Denn dann war mir ziemlich klar, daß ich an diesem Wochenende wieder ins Kino gehen würde; oftmals kannte ich dann Bilder dieser neuen Filme, die ich vor den Schaukästen, die in der Doppeltür jener Garage im Innenhof zwischen „Filmtheater“ und „Urania“ angebracht sind, angesehen hatte, die freilich auch in den großen hohen Schaukästen an der Vorderfront des „Filmtheaters“ und an den niedrigeren des „Urania“-Kinos entlang der Foyerfront an der Saudengasse hingen, natürlich auch in den beiden – großen – Schaukästen an der Hofwand dieses bemerkenswerten Kinobaus aus den späten fünfziger Jahren; oder, um auch den anderen Kinobetrieb nicht zu vergessen, in den Schaukästen an der Frontseite des „Ringtheaters“ am Zeppelinring; und in den Wochen vor dem Start eines neuen Films hatte man als regelmäßiger Kinogeher, wie Walker Percy diese Sorte Menschen in einem seiner Romane, der den Titel „Der Kinogeher“ trägt , bezeichnet, mehr als einmal die Gelegenheit gehabt, sich auch eine „Vorschau“, wie diese Ankündigungszusammenstellungen von Filmbildern und -ausschnitten hießen und wohl noch immer so bezeichnet werden – seit etwas zwanzig Jahren hat sich der Begriff „Trailer“ beim Kinopublikum eingebürgert – anzusehen. Das Lesen der Kinoanzeigen war eines meiner Rituale, denn schon im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren hatte ich Rituale ausgebildet, die an bestimmten Tagen auszuführen waren; sie strukturierten bestimmte Stunden und waren auch ganz kleine Marksteine im Alltag; und es bereitete mir ein ganz eigenes Vergnügen, das sich dezent verhielt, wenn ich sie passierte. Ich suchte mir also an den Freitagen den Film aus, den ich am Tag danach oder am Sonntag oder gar am selben Abend ansehen wollte. Die Gewißheit, ins Kino zu gehen – sofern genug Kleingeld vorhanden war, und manchmal kramte ich eben in den Taschen der Mäntel meiner Mutter, ob sich da etwas finden ließe, das den Betrag für die Kinokasse aufstockte – , erfüllte mich dann mit einer stillen Vorfreude. Rechtzeitig (an manchen Tagen jedoch mußte ich mich auch sehr beeilen, wenn ich mich beim Lesen vertrödelt hatte oder eine häusliche Arbeit, die aus irgendeinem Grund gerade jetzt dazwischen kam, als ich mich aufmachen wollte) schritt ich hinunter in die Stadt. Ich schätze Pünktlichkeit seit jeher; Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, wie einer der französischen Louis – war es nicht der vierzehnte ihrer? – sprach. Saß ich dann im großen Kinosaal, die Einlaßmusik, Melodien aus klassischen Western oder Abenteuer- und Kriegsfilmen, die ich längst gesehen hatte, tönte aus den hinter Verschalungen und der Bildwand verborgenen Lautsprechern, andere Kinogeher kamen einzeln oder in kleinen Gruppen mit zögerlichem Schritt in den Saal herein (ich saß, wenn ich es bezahlen konnte, im „Rücksitz I“ hinten), das Gemurmel im Saal wurde stärker, endlich dunkelte es in ihm sehr langsam, der erste Vorhang, ein gelb-goldener, teilte sich nach beiden Seiten – dann war der Abend schon gelungen, unabhängig von der Qualität des Films. In jenen Jahren sah ich mir am Ende der Vorführung den Titelabspann noch nicht ganz an; dann folgten, in den Siebzigern, wo es für einen Cinéphilen selbstverständlich war, einen Film in voller Länge, mithin auch den Nachspann, zu genießen, Filmabende, in denen – und hatte der Vorführer die Vorhänge zu früh sich wieder schließen lassen, ehe alle Titel „durch“ waren, erlaubte man sich, darüber ein paar mißgelaunte Worte zu äußern – ich bis zur letzten Zeile, zum letzten Logo, zum letzten „credit“ sitzen blieb; und nun, in meiner Berliner Zeit, stehe ich wieder mitten im Nachspann auf, und das deutet schon an, daß ich mich von dem Kinoenthusiasmus, den ich über viele Jahre hinweg pflegte, etwas distanziert habe. Damals, in den Sechzigern, die ich als glückliches Jahrzehnt empfand und empfinde (aber weiß man, daß man glücklich ist, wenn man es ist?), mehr denn je, die die vielleicht schönste Zeit meines Lebens waren, war eines meiner Rituale das, nach dem Verlassen des Kinos auf dem Heimgang an einen bestimmten Zigarettenautomaten, der an einer Wand eines Tabakwarenladens in der Hindenburgstraße hing, heranzutreten und mir eine Schachtel „Astor“ zu ziehen, eine der Nobelmarken des musikalisch und politisch revolutionären Jahrzehnts (in dem ich kleine aristokratisch anmutende Attitüden ausbildete), sie im Weitergehen aufzureißen, einen der weißen Stengel mit dem dunklen Korkfilter heraus zu ziehen, zwischen die Lippen zu stecken und – in aller Regel des Rituals mit einem Streichholz – zu entzünden, den Rauch auf der Zunge und dem Gaumen zu schmecken und so, rauchend, den Film überdenkend, meinen Weg zum Lindele durch die von Straßenlaternen, Wohnungs- und Schaufenstern und Autolichtern aufgehellte Stadt hinter mich zu bringen. Selten zündete ich mir einen zweiten Glimmstengel an. Und nach manchen Kinobesuchen auch gar keinen; weil ich kein Geld für eine Schachtel oder auch gar kein Bedürfnis nach dem Rauchen hatte. Jedes Ritual gewinnt ja durch Unterbrechungen.
- Erst das übliche Grau, mittags, nachmittags Sonnenlicht, das zunächst nur als eine hauchzarte Schicht über den Gebilden der Topographie lag.
1. November 2002

31
Okt

31.10.2002

In meinen Aufzeichnungen von der zweiten Hälfte des Neunundsiebzigerjahrs finde ich diesen Eintrag: „Mo, 17.9.: R. v. Praunheim-Film ‚Armee der Liebenden‘“; er lief, wie ich die Usancen des Filmeinsatzes kannte und auch nicht vergessen habe, sicherlich mehr als nur einen Tag im „Sternchen“, am Montag, 17.9.1979, sah ich ihn mir an.
- Aus dem verhangenen Tag wurde noch ein sonniger Nachmittag. Und die Abenddämmerung setzt schon so früh ein, daß sie dem Nachmittag ohne langen Übergang folgt.
31.10.2002

30
Okt

30.10.2002

Ende Oktober, Anfang November ’79 begann die Freundschaft zwischen Klaus Leupolz und mir. Wie so häufig lungerte ich an einem Herbstabend wieder im „Sternchen“ herum, und auch Klaus L. war, aus einem Grund, den ich nie mehr eruieren kann, anwesend. (Diese ersten intensiveren Begegnungen, in denen die Freundschaft sich ankündigte, sind mir unklar, ich kann nicht ganz genau schildern, was wir zueinander sagten, ich kann davon gar nichts mitteilen, ich weiß nichts vom Thema, über das wir, so kann ich aber wenigstens annehmen, ins Gespräch gekommen sind; der Alkohol zerstörte wohl diese Zellen, in denen das gespeichert war, schon in jenen Tagen.) Ich finde auf den fünfeinhalb Din-a-4-Seiten, auf denen ich die mir relevant erschienenen Vorkommnisse des Herbstes und des Winters von 1979 notierte, die, wenn ich genau sein will, ab Mitte Juli ’79 aufgeschrieben wurden, nur die Eintragung „Do., 29.11.: Filmfest (K. Leupolz am Tresen und K.)“, wobei mit „K.“ ich mich selber benannte, die in der Nacht des 29.11. nach den Tagen gemacht wurde, in denen Klaus L. und ich schon miteinander zu tun gehabt hatten, denn die „1. Biberacher Filmfestspiele“ hatten am 29.11. ja schon begonnen, und Adrian Kutter hatte, nachdem Klaus L. in den Wochen, die dem Filmfest vorangegangen waren, seine grafisch-malerische Mitarbeit zu den Vorbereitungen des Filmfestes angeboten hatte, schließlich ihm und mir über den Tresen zugeworfen: „Also, dann setzt euch mal zusammen und überlegt, wie das Plakat aussehen soll!“ Das taten wir. Klaus Leupolz zeichnete ein witzig-skurriles Motiv, das die Lokalität „Biberach“ mit Filmstreifen und Vorführapparaturen verband; das auch für’s Programmheft Verwendung fand. Auch fertigte, doch das geschah nach den Filmtagen, die schon beim ersten Mal von Donnerstag bis Sonntag den damals produzierten deutschen Filmen eine heimelige Ecke in der Bundesrepublik boten, er einen gelben spitzgesichtigen Stern aus Gips an, der dann für Jahre, bis er brüchig geworden war, über der Innenseite der Eingangstür zum „Sternchen“ freundlich lächelnd den breiten Mund verzog. In diesen Vorbereitungen in der Vorfilmfestzeit, zu denen ich nicht mehr als ein paar Anmerkungen und filmspezifische Anregungen beitrug, stellten er und ich recht schnell fest, daß unsere Wellenlängen, die ja jeder, obwohl das wissenschaftlich noch lange nicht erforscht sein wird, ausstrahlt, gut miteinander harmonierten. So begann diese Freundschaft, die nach dem Herbst ’79 sich vertiefte und zweiundzwanzig Jahre hielt, ohne daß wir uns jemals zerstritten hätten. Ein straighter Hetero und ein Homo, und der Altersunterschied betrug einundzwanzig Jahre – sowas war also möglich. Freundschaft war mir stets in allen Jahren viel wichtiger als Sex. Künstlerische Persönlichkeit, Diskussionen über Kunst, Politik, Philosophie, Literatur, Film, der fast alltägliche Austausch von Gedanken, von Erlebnissen, von Freude, Wut, Enttäuschungen, die kommentierende Begleitung zweier Jahrzehnte – das interessierte mich, und wenn es mit denen meiner sexuellen Präferenz, die in der Provinzstadt bis zum Ende der siebziger Jahre nicht zu sehen waren, nicht ging, dann eben mit anderen, die eine andere – für mich ist ja die „normale“ eine „andere“ – Sexualität praktizierten oder auch nicht. Als ich in den Neunzigern eigene Lesungen in der kleinen Stadt veranstaltete, half er mir mehr als einmal, die Plakate zu gestalten; gab Zuspruch und Ermunterung. Er hatte in den Siebzigern kleine Schriften im Eigendruck, hübsch illustriert, verfaßt, die „Das Mauerklopfen an der Kopfenmauer zu Biberach“, „Das Märchen vom Biberacher Bilderbaum“, „Die Klagemauer zu Biberach“ und andere Titel hatten, vom „Biberacher Wunderwasser“ handelten, das unter bestimmten Umständen aus dem Brunnen auf dem Marktplatz, über dem der schildhaltende Steinritter stand und steht, flösse; und in ironisch-sarkastischem Duktus, aus dem der Spott über die „Spätabderiten“, die, wenn sie sich besonders der „Kunst“ zuwandten (und -wenden), gerne daneben langten, ja sich vergriffen, was in Biberach schon seit Wielands Jahren eine unheilvolle traditionsbewußte Regel zu sein scheint, zu hören war (doch auch eine verborgene Sympathie für’s Heimatstädtchen, in dem es auch anders ginge, wenn die Borniertheit nicht wäre), Biberacher Verhältnisse aufgriffen. Die wären es wert, einmal von Biberacher Kulturgeld zu einem Bändchen zusammengefaßt zu werden.
- Ein trübgrauer Tag, mit kurzer Aufhellung am Nachmittag.
30.10.2002

28
Okt

28.10.2002

Ich stecke wieder in den späten Siebzigern fest; was soll geschrieben werden? Als die späten Siebziger noch real waren, steckte ich auch in ihnen fest; hatte ich jedenfalls das feeling. Ich machte meinen Aushilfsjob im Kino, schrieb ein bißchen vor mich hin; erotische Anläufe waren ins Leere geraten; meiner Mutter ging es körperlich und psychisch nicht sehr gut; meine eigenen Depressionen waren auch nicht ohne; ich hielt mich an Wein und Whisky. Mein Alkoholkonsum fiel manchen Leuten allmählich auf die Nerven. Bernhard K., mit dem ich nach wie vor befreundet war, sagte eines Abends im Juli `79: „Ich toleriere es nicht mehr!“ Nun, das schreckte mich nicht. Vom Freitag, dem 13. Juli, bis Montag, dem 24. Dezember 1979, kritzelte ich, nicht jede Nacht, ein paar Notate auf Din-A-4-Schreibpapier; die ich in einem der Archivkoffer entdeckt habe, den ich hervorgezogen habe, um dieses Jahr `79, das in mir nur mit Erinnerungsfragmenten und zerrissenen Bildern existiert, zusammen mit anderen zerfaserten Speicherinhalten bruchstückhaft zu rekonstruieren; und schon dieses Wort ist nicht richtig dafür. Sei’s drum: hier einige dieser Notizen vom Herbst `79.

[Aus den Archivalien:]
- So., 28.10.: „A.H.“ Simca, Bernie, Christ. /Frau Müller letzter Tag im Kino (nach 19 Jahren) K. > Erinnerung 60-Jahre
- Di., 30.10.: Essen (Pizza) B., Simca, Christ., K.
- Do., 1.11.: Essen (Froschschenkel) in Sulmingen; B., Simca, Christ., Thomas G.; Elian, Gerd, K.; „A.H.“ / Protokoll Seminar
- Fr., 2.11.: „A.H.“; B.; „Filmtheater“: Tolkien-Verf. „Herr ...“/ Protok.
- Sa.; 3.11.: „A.H.“; B. > „Sternchen“; das Paar aus Bayern / Protok.
der Kleine bis ca. 3.30 h
- So., 4.11.: „A.H.“; Kemper + Fr.; B. + Chr.; nachts Heimgang (Vollmond, Wolkenfelder, Wind)
- Mo., 5.11.: „A.H.“: Volker W., nachm.: der Blonde (Bus)
- Di., 6.11.: „A.H.“; F. Herzl + Fr., Kemper / Artikel-Lektüre (NS-Zeit)
Erinnerung > Buchmesse; Speer
- Mi., 7.11.: „A.H.“; „T.F.“; Rainer
...

Am Sonntagabend, 28.10., beschäftigte ich mich also nicht mit „A.H.“, Adolf H., noch nicht, sondern ich hielt mich im „Alten Haus“, der Kneipe in der Kolpingstraße, auf, und traf dort Simca, Bernhard K. und seine Freundin Christina an. Simca kannte ich seit ersten siebziger Jahren; sie bewegte sich damals eher an der Peripherie der linken Kleinstadtszene, sie war mir immer sympathisch gewesen, und im Jahr `79 war sie doch längst aus Biberach in eine Universitätsstadt geflohen? Vermutlich war sie für ein paar Tage auf den Galgenberg, den vorderen Bereich des Stadtteils Mittelberg, nachhause gekommen. – Frau Müller hatte in den sechziger und siebziger Jahren im Kassenhäuschen des „Urania“-Kinos gesessen; schon in fortgeschrittenem Alter; weil ich so oft ins Kino gegangen war, hatte sie mich, wenn ich meine Eintrittskarte bezahlte, mit der Zeit wiedererkannt und durch das runde Loch in der Glasscheibe des Kassenräumchens hatten wir dann einige launige Bemerkungen, mein Kinogehertum betreffend – „Sie sind ja schon wieder hier!“ „Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich den Film sehen muß.“ – gewechselt. Später, als ich im Kino arbeitete, kam sie regelmäßig zu den Weihnachtsfeiern, die an einem der vorweihnachtlichen Abende im „Sternchen“ stattfanden (dieses Kino war dann geschlossen), bis sie in den neunziger Jahren starb.
Am Dienstag, den 30. Oktober, waren offensichtlich Bernhard, Christina, Simca und ich zum Pizzaessen ausgegangen. Ich hatte wohl am Abend keine Filmvorführung zu bestreiten.
Zwei Tage darauf lud Gerd M., Elians Lebensabschnittspartner, die Erwähnten zum Froschschenkelessen ein. „Protokoll Seminar“ bedeutetet, daß ich in jenen Tagen das erste Seminar zur Propaganda im nationalsozialistischen Film, die Diskussion nach dem jeweils abends im „Urania“ gezeigten Film, protokollierte. Peter Uhlig vom Filmreferat der Landeszentrale für politische Bildung hatte mir diese Aufgabe übertragen. Moderiert wurde dieses Seminar von Dr. Albrecht vom Deutschen Filminstitut: ein mittelgroßer Mann, etwas füllig, mit dunklem Vollbart und großer Brille, dessen Leidenschaft dem trockenen französischen Weißwein galt und der sich immer ein Glas im „Sternchen“ füllen ließ und mit in den Saal nahm, bevor er die Diskussion eröffnete. „Jud Süß“ von Veit Harlan war einer dieser Filme. Natürlich führte ich diese Filme auch vor; auch vormittags schon, wenn die Schülerklassen im Kino eintrafen, legte ich die erste Spule in einen der beiden Projektoren ein. Dr. A. nahm sich das volle Weißweinglas (vormittags wurde das „Sternchen“, wie wir uns erinnern, als Café geführt) und ging dann hinunter. Nach der Vorführung am Abend ging ich hinunter in den Saal, wo ich mich in die hinterste Reihe setzte und Notizblock und grünen Stift hervorholte. Ich tat es für Geld, das nach Ablieferung des auf der IBM getippten, etliche Seiten umfassenden Manuskripts vom Filmreferat auf mein Konto floß. Danach saß ich im „Alten Haus“.
Am nächsten Tag protokollierte ich wieder. Im „Filmtheater“ lief der Zeichentrickfilm „Herr der Ringe“. Weinkonsum im „A.H.“. Am Samstag, den 3.11.`79, hockte ich unverdrossen einmal mehr in dieser düster-schummrigen Kneipe, die meistens rappelvoll war. Vermutlich mit Bernhard K. und Marlies und Ernst, dem „Paar aus Bayern“. Vermutlich hatten sie sich einen Kinofilm angesehen, und nach meiner Protokolltätigkeit war ich mit ihnen vom „Sternchen“ hinüber in die nicht weit entfernte Gaststätte gegangen, von wo aus wir zurück ins „Sternchen“ gingen, wo wir bis halb vier Uhr morgens diskutierten, tranken, uns über Rockmusik und Jazz austauschten. Irgendwann dazwischen, im „A.H.“ wohl, tauchte dann ein ominöser „Kleiner“ auf, der meine vorübergleitende Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben mußte.
Es konnte ja nicht anders sein: am Sonntag Abend Filmvorführerarbeit (wahrscheinlich), dann – das dreitägige Seminar war beendet, Dr. Albrecht nach Wiesbaden abgereist – ins „Alte Haus“ gegangen, dort saßen Gerd K. und seine junge Frau, der jüngste Fabrikantensohn B. und seine kleine (im Wuchs) Freundin. Ich vermute, ich ging erst, als die Kneipe schloß, vollgesogen mit württembergischem Rotwein, und vielleicht einem Whisky dazwischen, hinauf zum Hühnerfeld, durch’s nächtlich-stille Biberach, wahrscheinlich war ich gefrustet, aber nicht so sehr, daß ich den Nachthimmel und die Nachtstimmung nicht in poetischer Sensibilität wahrgenommen hätte. Volker W., der am Tag danach a.a.O. ebenfalls, so darf ich denken, saß, stand, wie auch immer, war drei Jahre zuvor der hübsche Sechzehnjährige – wirklich bildhübsche! - gewesen, der mir bei der Gründung des Jazzclubs, der übrigens `79 ein wenig eingeschlafen schien, aufgefallen war und den ich, so blöde kann man sein, auch sehr wahrscheinlich am Montag, den 5.11., nicht ansprach, von einem der Tische nur hin und wieder fixierte. (Im Jahr 1984 sprach er mich im „Storchen“ an, er lebe in Berlin-Kreuzberg und schreibe Hörspiele. Er gab mir sogar seine Anschrift; ich vergammelte sie. O Idiot, der ich war!) Schon nachmittags hatte ich an jenem Tag Anfang November im Stadtbus eine erotische Anfechtung – niedergerungen.
Die obligatorische Einkehr i.a.O. hatte die Begegnung und die Plauderei mit dem Jazz- und Bluesmusiker Fritz Herzl und seiner Frau Angelika zur Folge. Er breit, mit langem schwarzem Haar, sie hoch gewachsen, schlank, eine sanfte Schönheit. Sie war Künstlerin. Beide hielten sich in den Achtzigern und Neunzigern häufig für längere Zeit in L.A. auf; er fand Anschluß an die musikalische Szene, sie als Malerin Erfolg. Alles das wußten sie am Dienstag, dem 6.11. `79, noch nicht. (Im Sommer 2001 starb Angelika H..; zwischen den Weihnachtstagen und dem neuen Jahr 1998/1999 waren Valérie und ich bei ihnen eingeladen gewesen. Ich war bestürzt, als ich von Freunden die Nachricht von ihrem Tod erfuhr. Aber auch Gerd K. war wieder anwesend. In einem jener Nächte muß es gewesen sein, als er mir den Tip gab, in Berlin gebe es eine sehr informative Stadtzeitung, „Tip“ heiße sie, in der regelmäßig die neu ins Kino gelangenden Filme besprochen würden. Es dauerte aber noch, bis `80 oder `81, bis ich mir dieses Magazin in einem Zeitschriftenladen an der Kirche, der tatsächlich dieses Heft im Sortiment hatte, regelmäßig holte. Die Lektüre eines Artikels über die NS-Zeit – ein Jahr zuvor, als das Seminar über die NS-Propaganda im Film zum ersten Mal gehalten worden war, hatte ic einen Artikel für’s Lokalblatt verfaßt – erinnerte mich dann an die Buchmesse ´74, wo ich Albert Speer, der samt Entourage – er hatte Memoiren geschrieben – durch einen Gang eilen gesehen hatte. „Nicht zu fassen“, hatte ich, wie ich mich gut erinnere, gedacht, „jetzt sehe ich noch einen echten Obernazi, Hitlers Architekten!“
Und am Mittwoch ging ich vom „Alten Haus“ spätabends, frühnachts, in die Diskothek „Take Five“ in der Innenstadt, neben der Gymnasiumsstrasse, noch einen Drink oder zwei zu mir zu nehmen, und dort sah ich jenen hübschen Langhaarigen vor mir, der mir fünf Jahre früher in der Spielhalle am Marktplatz so gut gefallen hatte. Er war noch immer gut aussehend, aber etwas an ihm, denn freilich beobachtete ich ihn heimlich, fehlte jetzt. Die Aura einer siebzehnjährigen Jugend?
- Hellblauer Himmel, Sonnenschein, dazwischen Regengüsse in stürmischen Böen.
28.10.2002

27
Okt

27.10.2002

[Aus dem Notizblock:
- Kino, Kinoideologie, in dieser Kultstätte habe ich meine Jahre verbracht.
- Die Texte wirken durcheinandergewürfelt; aber in meinem Leben ging’s gar nicht so chaotisch und wirr zu, dort herrschte fast Stasis. Oder wie?
- Im „Kursbuch 148“, „Die Rückkehr der Biographien“ – ach du Scheiße, wie lange ist es her, daß ich das letzte, das neu erschienene „Kursbuch“, das für mich zuletzt neu erschienene, in den Händen hatte?! – lese ich in einem Text „Das Ich und seine Gesamtausgabe“ von R. Kämmerlings: „Je besser, je lückenloser die Selbsterzählung gelingt, desto mehr wird der Text zur tödlichen Falle, zur fatalen Fixierung der eigenen Biographie auf einen offiziellen Wortlaut.“ Da ich aber in dem, was ich schreibe, viele Löcher lasse, bewußt, aber auch von der Zeit und meiner sporadischen Unlust getrieben und verhindert, bin ich der Meinung, daß dieses letztlich doch nie vollständige, Genaueste, mich davor bewahrt, hier eine offiziös gültige Mitteilung zu machen. Man kann sein Leben nicht wie einen gigantischen Texthaufen, Textbrei, Buchstaben-, Sinn-, Erinnerungsmatsch auf’s Papier kotzen, darin rühren, um aus dem unsagbaren Kopfinhalt, in dem sich die Eindrücke, Gedankenandenkungen, Erinnerungen, für zwei Minuten gültigen Erwägungen, die Schichten und Abteilungen dieses Neuroneninhaltshaushalts auf feinste Weise überlagern, -lappen, sozusagen kongruent zu organisieren. Leider wird eine solche Formation erst dann möglich werden, wenn der Speicher, Hirn genannt, einstens vollständig ab- und leergezapft werden kann; wahrscheinlich auch dann nicht, ein Restchen wird stets zurückbleiben.
- Ich hatte nie große Lust dazu, mich in dieser Welt einzurichten. Deshalb mußte alles provisorisch bleiben.
- Man könnte auch sagen: ich bin nur auf einen Sprung hier; auf einen Zeitsprung.
Zum Krieg: man kann nichts tun, man kann mit drei Leuten, und wenn es vier sind, sind das schon viele, reden; man kann in einer vorwärtsschleichenden Menschenansammlung über Straßen latschen. Das beeindruckt niemanden.]
- Gelbliches Gleißen im Westen nachmittags, dann zartblauer H. mit hingehauchten blaßrosa Wolkenandeutungen. Starker Wind, der die Baumblätter im prasselnden Regen zur Erde stäubt.
27.10.2002

25
Okt

25.10.2002

Als ich im Oktober 1978 meine Filmvorführerkarriere begann, gab es noch eine andere Gelegenheit, ein paar Kröten in meine Taschen wandern zu lassen. An einem späten Abend im „Sternchen“ sagten Elian und ihr Lebensabschnittspartner – dieser Begriff war damals noch nicht üblich – Gerd M., der in seinen Vierzigern stand, bei einem Glas Rotwein zu mir, sie hätten vielleicht Verwendung für mich, sie wollten mir helfen. „Was habt ihr für mich?“, fragte ich mißtrauisch. „Nachricht von S... ?“ S. war der ehemalige Vermieter der „Karga“ und M.s Vetter, die beiden machten Geschäfte miteinander. „Wir wollen dir helfen“, sagte Gerd M., „wir hätten einen kleinen Job für dich.“ „Und was?“, war meine Frage. „Wir könnten dich für’s Büro brauchen“, sagte Elian. Sie hatten in Bellamont auf einem der vielen oberschwäbischen Hügel, zu dem ein Teil des Dorfes dieses Namens – „Schöner Berg“; man sieht daran, daß Franzosen immer wieder einmal im Lande waren – ansteigt, etwa fünfzehn Kilometer südöstlich von der Kreisstadt, ein Baugeschäft, das sich auf Schornsteinsanierungen spezialisiert hatte, und seine Monteure durch ganz Oberschwaben schickte. M. und Elian F.-M., wie nun ihr Name lautete, hatten sich manchmal persönlich zu Verhandlungen zu begeben, so wurde – Anrufbeantworter und Handies gab es noch nicht – untertags der Telefonhörer nicht abgehoben. Auch waren Korrespondenzen und Listen zu bearbeiten; alles Gründe, die mich im Oktober eines Vormittags gegen neun Uhr mit einem Bus, der die Ortschaften auf dieser Landseite abklapperte, nach Bellamont brachten. So sah ich mir diese Strecke durch den Landkreis, die mir bislang fremd geblieben war, an. An Endmoränen und Rißeiszeit dachte ich damals nicht – nicht mehr; das war Unterrichtsstoff in der Realschule gewesen. Im weißen Mantel stieg ich, der Tag war herbstlich blau und braun gefärbt, aus dem Bus, wanderte die ansteigende Straße zum Haus der M.s hinauf, das oben auf der Anhöhe stand, klingelte und wurde eingelassen. Die schwarze Dogge Donna, die mir und anderen bis zur Hüfte reichte, kannte mich schon. Ich hatte keine Angst vor Hunden, und ein Biß ihrer mächtigen Kiefer in mein zartes Beinfleisch wäre mir auch ungelegen gekommen. Sie war ein liebes Tier und schnaufte leise vor sich hin, wenn sie in dem nicht großen Bürozimmer, in dem ich telefonierte, Werbetexte an der Schreibmaschine tippte oder Listen führte, Briefe beantwortete, die einer der beiden M.s am Abend, wenn sie zurück waren, unterschrieb, schlief oder mich auf dem Gang in den Keller, wo die Bier- und Sektkästen standen, aus denen ich mich während der Arbeitszeit bedienen durfte, natürlich nicht bis zum Stadium der Volltrunkenheit, begleitete. Wenn sie sich an mich drückte, spürte ich die Stärke dieses Tiers. Es war ein angenehmer Job für jemanden, der außer Lesen und Schreiben nichts gelernt hatte. Nach siebzehn Uhr trudelten die Monteure ein, lieferten ihre Auftragsbögen und Rechnungen ab, die Firmeninhaber waren dann schon da oder auch nicht, ich plauderte mit den kräftigen Monteuren, trank ein Bier mit ihnen; wir warteten nicht nur einmal, bis Chef und Chefin ins Haus traten. So ging das bis in den Dezember hinein. In der Regel fuhr ich abends, die Dämmerung überm Land wurde zur abendlichen Dunkelheit, mit einem Bus – er war fast leer, in ihm war es warm, die Sonne sank hinter blutroten Wolken, ich geriet in eine träumerische Stimmung – nach Biberach zurück und dort vom Marktplatz mit dem Stadtbus zum Hühnerfeld, doch wenn sich die Möglichkeit bot, auch mit einem der Monteure in dessen Auto. In der Stadt kaufte mich mir alle drei Tage in einem Supermarkt am Marktplatz Wein und Whisky ein, daheim braute ich mir einen starken Kaffee, in den kam Straight Bourbon Whiskey hinein. Oder ich ging, der Landbus war angekommen, direkt ins Kino, an den Abenden, in denen ich mit Vorführen dran war. Das dauerte dann bis etwa elf Uhr nachts, danach war gemütliches Beisammensein an der Theke des „Sternchens“; oder an einer anderen. Im Januar 1979, wenn ich es richtig im Kopf habe, bestand kein Bedarf mehr an meinen Papierarbeiten, die kurzen Busreisen nach Bellamont – viele Schüler fuhren in die einzelnen Dörfer, und oft, denn bald brach ich, weil es so viel Papierkram nicht gab, erst in der beginnenden Mittagszeit auf, beobachtete ich einen gut aussehenden Jungen, der sich mit den Schulfreunden unterhielt und immer an seiner Bushaltestelle entschwand – hörten auf, was mir gar nicht unlieb war, wegen der Langeweile, die sich auf dem Bellamonter Hügel, umgeben vom Schnee, oft genug breitgemacht hatte. Ich verlor dann auch die M.s ein wenig aus den Augen.
- Mal grau, dann sonnig. Wind. Regen später.
25.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6757 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren