KD

20
Okt

20.10.2002

Waren die RAF-Leute der „ersten Generation“ nicht spätexistentialistische Gestalten, die verspätet auf die deutsche Bühne traten, die de facto dem Mythos vom Sisyphos folgten, dessen „Arbeit“ bewerkstelligten, freilich nichts von ihm wissen wollten, sofern sie überhaupt die Ahnung davon hatten, sie könnten von der Vergeblichkeit seiner Vorstellungen und seiner Tat nicht sehr weit entfernt sein? Nichts davon, in ihrer grotesk operettenhaften Überheblichkeit und Auserwähltheit und verrutschten Wahrnehmung dessen, was sich nun einmal als Wirklichkeit festgesetzt hatte, wissen wollen, ahnen wollten, bis, vielleicht, während der letzten erschrockenen und düsteren Blicke in die Welt, ein Schimmer davon in ihnen aufstieg? War es nicht eigentlich die Geste des vergebens gegen die Welt und das sogenannte Schicksal des Einzelnen in ihr Rebellierenden, die Jean-Paul Sartre dazu veranlaßt hatte, die Häftlinge von Stammheim zu besuchen? Sich eine Vorstellung, am konkreten Subjekt, das Subjekt der Geschichte sein wollte, von diesen auf die beispielhafteste Weise gescheiterten Aufständischen einer mit hohen Hoffnungen aufgebrochenen Generation zu bilden, sich in diese Vorstellung zu begeben? Doch war das Stück, das so geboten wurde, dürftig. Beabsichtigte er, einige Figuren seines Widersachers Camus in Augenschein nehmen? Diese Leute wollten die Entfremdung bekämpfen und waren sich in der Welt, in der sie existierten, ganz entfremdet; waren in dieser Wahnwelt gelandet, in der die „Landshut“ nicht weiterflog. (Ist denn nicht alles Wahn in dieser Welt? Oder zumindest Verblendungszusammenhang?) Mit dem 19. Oktober 1977 endeten die „APO-Jahre“ endgültig, mit dem Untergang dieser drei Kinder der Revolution, mit dem symbolischen Mord an einem früheren Angehörigen einer Mörder-Organisation, an einem ihrer Widersacher, an einem ihrer Nazi-Väter, die Bühne war besudelt mit dem Blut von allen und floß ineinander.
An Günter Rehm will ich mich noch einmal erinnern, weil die Weise, wie er mit seiner schweren Krankheit, die seine Knochen zerstörte, umging, mich beeindruckte: fast nie sprach er über sie, klagte nicht, gab sich heiter, machte kein Aufhebens davon, sprach eher verächtlich über seine körperliche Verfassung, die es ihm erlaubte, noch die achtziger Jahre zu überleben. In der Fastenbrezelsaison im Februar und März arbeitete er aushilfsweise in einer Bäckerei am Museum. In den Siebzigern handelte er mit allerlei Trödel und mit alten Schallplatten; ich schenkte ihm LPS aus den Sechzigern, mit deren Musik ich nichts mehr anfangen konnte; drei Alben der „Bee Gees“ waren darunter. 1967 hatten ihre Songs mir gefallen. Das hatte ich freilich nicht laut sagen dürfen. Günter verkaufte diese Platten innerhalb weniger Tage. Er war mittelgroß, mager, nicht gutaussehend, stets freundlich, seine lebendige Art kompensierte die Krankheit, unermüdlich streifte er durch die Kneipen. Nachdem die „Karga“ aufgelöst war und ich auch bald im Kino die Filme vorführte, geriet er aus meiner Kleinstadtwelt, ich hörte kaum noch von ihm, sah ihn sehr selten. Er hauste in den Achtzigern in einem Zimmer nahe der Kneipe „Zum Schiff“, die Arndt ein paar Jahre lang im Ostteil der Innenstadt betrieb, in der sich Gäste einfanden, die früher zur Stammkundschaft des „Strauß“ gehört hatten, auch andere, die „nachgewachsen“ waren. Dort war er, wie ich hörte, oft. (Auch Till hatte diese Kneipe am Beginn des Achtziger-Jahrzehnts hin und wieder aufgesucht; dort hatten wir unsere erste längere Unterhaltung geführt, in der ich ihn fragte, warum um Himmels willen er seinen Grundwehrdienst leisten wolle. Die Umstände einer Verweigerung seien ihm zu doof, hatte er gemeint. Mir war so ein Verhalten seltsam vorgekommen.) Günter R. starb 1990, wie Schmidt mir später sagte; er hatte es von Arndt erfahren.
- Morgens Regen, mittags grau, am Nachmittag wieder von Regenwolken freier Himmel, sonnig bis zum Abend.
20.10.2002

19
Okt

19.10.2002

Am 17. Und 18. Oktober geschah im Jahr danach die Tragödie des Deutschen Herbstes. Von den voluntaristischen Terrorakten hatte ich nie etwas gehalten, auch kam im Frühjahr 1977 bei mir keine „klammheimliche Freude“ auf, als der Generalbundesanwalt Buback und seine Leibwächter ermordet worden waren. Ich hatte immer argumentiert, daß die verbrecherischen Methoden dieser Mordkommandos einer selbsternannten „Stadtguerilla“ gegen das „Schweinesystem“ allen ernsthaften linken Anstrengungen, das kapitalistische Gesellschafts- und Herrschaftssystem zu analysieren, zu kritisieren und aus dieser Kritik heraus geeignete langfristige Strategien zur Veränderung dieses „Systems“, möglichst auf unblutige Weise, zu entwickeln, kontraproduktiv zuwiderliefen. Von Jahr zu Jahr wurde in jener Zeit seit 1970 das repressive Instrumentarium von Justiz und Exekutive, als Reaktions-Gegenbewegung zum errungenen Freiheitsgefühl, das bei vielen jungen Leuten die Grundstimmung der Zeit bildete, erweitert, Bürgerrechte (die vor der APO dem deutschen Michel kaum bewußt gewesen waren) wurden geschmälert. Von hysterisierten Politikern und Beamten und von den Presseerzeugnissen wiederum des Axel Cäsar Springer wurden „Sympathisanten des Terrors“, darunter Heinrich Böll, ausgespäht, wenn nicht sofort zum Abschuß (durch die aufmarschierte Staatsmacht) freigegeben. Das kleinbürgerlich-dämliche „Volk“ wurde wieder einmal in Stimmung gebracht, jenes Volk, das aus Ausbeutung und Unterdrückung und Entfremdung zu erlösen Befreier aller sozialistischen Couleurs auf ihre Paniere geschrieben hatten, das nun jedoch durch diese Mordtaten einiger durchgeknallter halbintellektueller Abenteurer (und ganz ausnehmen kann man auch Ulrike Meinhof hier nicht), die aus der Moralfalle, die ihnen auch christliche Erziehung und das in ihr implantierte Gerechtigkeitsdenken gestellt hatten, nicht mehr herausfanden, und Fanale setzen wollten, doch für wen, durchweg auf der Seite des „Systems“ stand. Das Gegenteil vom Erhofften wurde zementiert. Alle Rechten, die sich seit 1968 mit Wutschaum vorm Maul vom Zeitgeist bedrängt gesehen hatten, nahmen diese traurigen Gelegenheiten nun umso begieriger wahr, um ihre Versionen – Visionen erlaubten sie sich ja nicht – ihrer FDGO, ihrer Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung, wieder zurecht- und zurückzurücken. Der 18. Oktober 1977 war die Zäsur in den siebziger Jahren. – Am frühen Abend des 19. saß ich in der Dachgeschoßkammer, die Günter Rehm in der Karpfengasse 24 gemietet hatte, in der nicht viel mehr stand und lag als ein kleines Fernsehgerät, eine Matraze, eine Lampe und etlicher Krimskrams, auf einem der beiden Stühle und sah die Abendnachrichten, sah den toten Mann im Kofferraum liegen (sah ich das wirklich, oder waren es andere Bilder?) und empfand weder Mitleid noch Haß für diesen Toten, der als lebender SS-Mann an der Ausbeutung der Menschen des Reichsprotektorats Böhmen-Mähren beteiligt gewesen war und – als „Arbeitgeberpräsident“ einer Demokratie – die Erfordernisse seiner gesellschaftlichen Klasse knallhart vertreten hatte; auch dieser Tod ließ mich unberührt, ich bedauerte den kontraproduktiven Effekt, der sich daraus ergab. War ich so herzkalt, war ich, eingedenk der Verbrechen, auf denen der Kapitalismus fußt, wie der Verfasser des „Kapitals“ sehr anschaulich in diesem Buch darstellt, so abgestumpft, daß dieser Mord mich nicht in der Erziehungstiefe der christlichen Moral erschauern ließ? Daß die linke „Sache“ auch wegen solcher Sinnlosigkeit verschwand, hatte ich längst mit Achselzucken beobachtet und mit einem letzten Widerstand, der sich noch bemerkbar machte, hingenommen. All die sogenannten „Kämpfe“ waren mir gleichgültig geworden, auch die merkwürdigen Tode von Stammheim, einen Tag vor der Entdeckung der Schleyer-Leiche, konnten daran nichts ändern, und Baader hatte ich für einen aufgeblasenen Rabauken mit Robin Hood-Allüren, dem es an theoretischer Kompetenz mangelte, gehalten, die Ensslin war mir eh unsympathisch; nur um Jan-Carl Raspe, den intellektuellen Menschen, war es wirklich schade. Aber wieso dachte ich das, ich kannte doch von seinem Leben gar nichts. Noch immer aber, trotz meiner prinzipiellen Geringschätzung dieser wirrköpfigen „Bande“, die sich heillos in die Ausweglosigkeit manövriert hatte – und das kann auch dem Unpolitischsten geschehen – bleibt die Frage unbeantwortet: Wie kam der Sand in Baaders Schuhe?
- Vormittags grau, am Nachmittag fiel Sonnenlicht ins Zimmer, kein Regen, niedrige Temperaturen.
19.10.2002

18
Okt

18.10.2002

Im Herbst 1976 saß ich mit einem dumpfen Gefühl im Kopf im kleinen Zimmer der Karpfengasse 24 und brütete vor mich hin, wenn ich nicht las, denn ich hatte kein Geld mehr. Die Bafög-Kohle vom Frühjahr war in einem heißen Sommer des Rauschs verdampft, und das Gefühl, das ich aus früheren Jahren nur zu gut kannte, könnte ich auch als die Stimmung einer nicht allzu deutlichen Depression erklären. Nicht einmal die Rechnung der Buchhandlung Weichardt – im Sommer oder in den Tagen, in denen der wirkliche Sommer sich verabschiedet und seinem Nachklang das Terrain überläßt, hatte ich ein Buch, welches auch immer, auf Rechnung mitgenommen – konnte ich bezahlen, für die nun eine letzte Mahnung mit der Androhung der üblichen gerichtlichen „Schritte“ auf den Schreibtisch gekommen war; auf eine mir noch nicht ganz klare Weise mußte ich also wenigstens sie begleichen, denn ich wollte mir doch ersparen, den Gerichtsvollzieher aufmarschieren zu lassen. (In den achtziger Jahren kam er allerdings doch.) Ich schob das Problem vor mich her. Für Gin und Bitter Lemon – das Ende der Gin-Phase war eigentlich schon erreicht – reichte das, was ich noch hatte, aber aus (zwei Fläschchen weniger zu konsumieren hätte mir das Geld für die Buchrechnung zur Verfügung gestellt), und auch kleine Abstecher in den „Strauß“ und „Rebstock“ konnten noch gemacht werden. Doch im Prinzip war ich wieder pleite. Mit Geld umzugehen war mir auch später lästig; man hatte welches oder nicht, dann mußte man sich überlegen, wie an ein paar Münzen, im günstigsten Fall Scheine, heranzukommen war. Ach, was zog ich meiner Mutter immer Kleingeld aus den Taschen, Pseudopoet, der ich war! Ich begann, Gedichte zu verfassen – nein, die ersten hatte ich Ende der sechziger Jahre, zu Anfang der siebziger getextet; so muß das Wort für diesen Umgang mit poetischem „Material“ in jenen Jahren, als auch das Wort „Dichter“ aus dem Verkehr gezogen war, lauten. Ich schrieb (nun sind wir aus der Ära der „Textproduktion“ schnell in die Jahre zurück geraten, in denen das „Textemachen“ schon wieder aus dem Bereich des Modischen herausgefallen war, und in der Neuen Innerlichkeit „schrieb“ man wieder) dem vorangegangen Satz zufolge einige Verse, die ich nicht zu meinen besten zählen darf, und übergoß sie, aber nur aus Ungeschicklichkeit, die die geminderte Aufmerksamkeit alkoholisch sedierter Nächte verursacht, mit etwas Rotwein oder Whisky (geringer Preisklasse); aber ich hätte das nun gar nicht erst erwähnen sollen, so nebensächlich waren diese Nachtkritzeleien. Was war dann hauptsächlich? Ich litt unter den reduzierten Bewußtseinszuständen (wäre an dieser Stelle nicht besser auf den unter dem Zeilenwust fast verschütteten Begriff der „Seelenlage“ zu insistieren?), die ein unbefriedigtes Sexualleben heraufsteigen läßt. Der Rauschgoldengel war nicht zu haben, und andere junge Typen, die mir hätten gefallen können, liefen mir nicht über die Straße; wo waren, ich fragte mich seit Jahren, die jungen Schwulen? Selbst alte sah ich nicht, so gut hatten sie sich offenbar versteckt und angepaßt, und ich hätte mit ihnen auch nichts zu tun haben wollen. So unsolidarisch ist man eben in jungen Jahren; in manchen Dingen. Nun bin ich selber in dem Alter, in dem junge Schwule mit mir nichts mehr anfangen wollen; obwohl ich das in der Schwulenhochburg Berlin gar nicht austeste; krank, wie ich bin.
- Regnerisch, wolkenbedeckt am Nachmittag und am frühen Abend Aufriß der grauen Wolkenschicht, helles Gelb im Westen, aus dem der Sonnenball glotzte. Später am Abend Regen, kalt.
18.10.2002

16
Okt

16.10.2002

Drei Jahre später, in der Mitte eines anderen Oktobers, saß ich spätabends, wie oft, in einem der kleinen Barsessel an der Theke des „Sternchen“-Kinos, Freunde um mich herum belegten die drei anderen und standen am Tresen, wir tranken Altbier, Pils und Rotwein und Bommerlunder, jeder das, was ihm seine Abenddroge war, und Adrian K. stand hinter der Theke, schenkte aus und nach und war ganz aufgeräumter Stimmung, und es ist nicht auszuschließen, daß auch die Buddy Holly-Kassette lief und diesen Rock’n Roll aus den fünfziger Jahren durch die kleinen Boxen an der Gläserwand, dem dunklen Möbel, jagte. (In der Vierer-WG in der Stuttgarter Senefelder Straße, in der ich für wenige Wochen mein Zimmer gehabt hatte, hatte Bärbel – inzwischen mit neuem Freund – häufig die Songs von Billie Holliday laufen lassen.) Im Oktober 1978 trug ich die Absicht im Kopf, mich an den Filmhochschulen zu bewerben und aus diesem Grund, um eben über alles, was mit Film und Kino (Fernsehen schätzte ich nicht sehr) zu tun hat, Bescheid zu wissen, die technischen Aspekte zu kennen, denn mir war ja wohl bewußt, daß Film eine sehr technische Kunstform war und ist, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, und auch aus einer Neugierde heraus, die vom Weingenuß beflügelt wurde, fragte ich den Kinobesitzer, ob ich einmal einen „Blick hinter die Kulissen“ des Kinos werfen könne, den Vorführraum betreten dürfe, um zu sehen, wie es dort zuginge. Ein fataler Gedanke. Wie es dort zuging, sollte ich von diesem Tag an bis zum 18. Juni 1997 gut genug erfahren. Der Kinomann also erwiderte, er spreche mit seinem (um einige Jahre älteren) Bruder, der für alles Technische im Betrieb zuständig sei, daß er mir im Vorführraum alles erkläre. Ich solle abends (eines der folgenden Tage) zur bekannten Anfangszeit für den „Urania“- oder „Sternchen“-Film anwesend sein. Ich stand dann also in diesem dunklen, schlauchartigen Raum, an dessen Ende ein Fenster den Blick auf das Kaufhaus X, einen Teil des Wieland-Gymnasiums und die Straßen und den großen Parkplatz davor ermöglicht, und an dessen Ende auch nach rechts, wenn man hereintrat, der viel kleinere Raum, auch er mit einem Fenster, vor dem – ich sollte es bald wissen – , der Rollo fast ständig heruntergelassen war, für die Projektion der „Sternchen“-Filme eingerichtet ist. Vor dem Bau des „Sternchens“ zu Anfang des Jahres 1978 war dieser Raum, den dann das neue Kino einnahm, für Kinozwecke ungenutzt geblieben, nur der Vorführraum für das Abspielen der „Urania“-Filme hatte, vielleicht größer, existiert. Licht aus zwei sehr altmodischen Lampenschalen an der Decke erhellte den Raum trübe, wenn man die „große“ Beleuchtung einschaltete; nun am ersten Abend meiner Anwesenheit warfen die beiden altertümlichen Wandlampen, die über den Projektionsfensterchen zum Saal unten hin angebracht waren, Bündel von konzentriertem, hellerem Licht zum Arbeiten an die zwei mannshohen (und die oberste Spule ragte, wenn sie aufgeflanscht war, noch um einige Zentimeter höher hinauf) Projektoren der Firma Bauer und zwischen ihnen hindurch. Und auch das Fenster am Ende des Raums war schon geschlossen und mit dem Rolladen verdunkelt, denn das ohnehin nicht sehr helle Oktobertagschimmern, das durch dieses Fenster tagsüber, wenn keine Vorstellungen gespielt wurden, herein fand, hätte die Projektion des „Sternchen“-Films von hinten aufgehellt und ausgebleicht; deshalb mußt es immer, ob im Winter, ob im Sommer, geschlossen sein, wenn im „Sternchen“ das Programm lief. Claus K. zeigte mir alles, ich war auch fasziniert. Nicht ahnend, was dieser kurze Aufenthalt für Konsequenzen haben sollte, setzte ich mich dann an den Tresen des schon berühmten Kinos, zu dessen Abendfilmen die Cinéasten aus der Ulmer Gegend, vom Bodensee und aus dem Bayrischen hinter dem Fluß Iller und aus dem verhältnismäßig umfangreichen Landkreis fuhren, um Filme zu sehen, die in den Kinos ihrer Städte und Städtchen nicht gezeigt wurden; auch, um dieses Kino, in dem sich nach der Vorstellung noch ein gepflegtes Bier trinken ließ, ohne dafür die Lokalität wechseln zu müssen, in Augenschein zu nehmen. Viele kamen oft wieder, scheuten die Anfahrt nicht. Mit Marlies und Ernst, ein Paar, beide nur wenig älter als ich, die aus dem bayerischen Schwaben um Memmingen und Kellmünz zum Kinobesuch eintrafen, befreundete ich mich rasch; bis in die achtziger Jahre hinein blieben sie treue Besucher auch der anderen Kinos an Waldseer Straße und Saudengasse, dann kamen sie seltener, schließlich fast nie mehr, berufliche Veränderungen und andere Interessen hatte ihre Ansprüche an sie gestellt. „Wenn du willst“, sagte Adrian K., „kannst du ja als Aushilfsvorführer anfangen, ich kann einen zuverlässigen Mann noch brauchen.“ Einen Job hatte ich ja nicht; einen Kinojob zu haben, der mich nicht sonderlich beanspruchen würde, wäre vielleicht lustig, ich könnte mir alle Filme ansehen, ohne dafür zu bezahlen ..., so gingen meine Gedanken. Einer Laune und meiner Filmsucht, die sich mit der Eröffnung dieses Kinos wieder bemerkbar gemacht hatte, nachgebend, sagte ich ja. So begann meine Arbeit im Kino, zunächst für zweieineinhalb Jahre ohne feste Anstellung, dann als „technischer Angesteller“, in der Mitte des Oktobers 1978. Mitte Juni 1997 beendete ich sie. Viel geschah in dieser langen Spanne Zeit, nur wenig erzähle ich davon.
- Bis mittags grau. Am Nachmittag zogen die Wolken sich auseinander und zwangsläufig hatten die Lichtstrahlen freie Bahn; das änderte sich aber nach einer Stunde wieder.
Drei Jahre später, in der Mitte eines anderen Oktobers, saß ich spätabends, wie oft, in einem der kleinen Barsessel an der Theke des „Sternchen“-Kinos, Freunde um mich herum belegten die drei anderen und standen am Tresen, wir tranken Altbier, Pils und Rotwein und Bommerlunder, jeder das, was ihm seine Abenddroge war, und Adrian K. stand hinter der Theke, schenkte aus und nach und war ganz aufgeräumter Stimmung, und es ist nicht auszuschließen, daß auch die Buddy Holly-Kassette lief und diesen Rock’n Roll aus den fünfziger Jahren durch die kleinen Boxen an der Gläserwand, dem dunklen Möbel, jagte. (In der Vierer-WG in der Stuttgarter Senefelder Straße, in der ich für wenige Wochen mein Zimmer gehabt hatte, hatte Bärbel – inzwischen mit neuem Freund – häufig die Songs von Billie Holliday laufen lassen.) Im Oktober 1978 trug ich die Absicht im Kopf, mich an den Filmhochschulen zu bewerben und aus diesem Grund, um eben über alles, was mit Film und Kino (Fernsehen schätzte ich nicht sehr) zu tun hat, Bescheid zu wissen, die technischen Aspekte zu kennen, denn mir war ja wohl bewußt, daß Film eine sehr technische Kunstform war und ist, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, und auch aus einer Neugierde heraus, die vom Weingenuß beflügelt wurde, fragte ich den Kinobesitzer, ob ich einmal einen „Blick hinter die Kulissen“ des Kinos werfen könne, den Vorführraum betreten dürfe, um zu sehen, wie es dort zuginge. Ein fataler Gedanke. Wie es dort zuging, sollte ich von diesem Tag an bis zum 18. Juni 1997 gut genug erfahren. Der Kinomann also erwiderte, er spreche mit seinem (um einige Jahre älteren) Bruder, der für alles Technische im Betrieb zuständig sei, daß er mir im Vorführraum alles erkläre. Ich solle abends (eines der folgenden Tage) zur bekannten Anfangszeit für den „Urania“- oder „Sternchen“-Film anwesend sein. Ich stand dann also in diesem dunklen, schlauchartigen Raum, an dessen Ende ein Fenster den Blick auf das Kaufhaus X, einen Teil des Wieland-Gymnasiums und die Straßen und den großen Parkplatz davor ermöglicht, und an dessen Ende auch nach rechts, wenn man hereintrat, der viel kleinere Raum, auch er mit einem Fenster, vor dem – ich sollte es bald wissen – , der Rollo fast ständig heruntergelassen war, für die Projektion der „Sternchen“-Filme eingerichtet ist. Vor dem Bau des „Sternchens“ zu Anfang des Jahres 1978 war dieser Raum, den dann das neue Kino einnahm, für Kinozwecke ungenutzt geblieben, nur der Vorführraum für das Abspielen der „Urania“-Filme hatte, vielleicht größer, existiert. Licht aus zwei sehr altmodischen Lampenschalen an der Decke erhellte den Raum trübe, wenn man die „große“ Beleuchtung einschaltete; nun am ersten Abend meiner Anwesenheit warfen die beiden altertümlichen Wandlampen, die über den Projektionsfensterchen zum Saal unten hin angebracht waren, Bündel von konzentriertem, hellerem Licht zum Arbeiten an die zwei mannshohen (und die oberste Spule ragte, wenn sie aufgeflanscht war, noch um einige Zentimeter höher hinauf) Projektoren der Firma Bauer und zwischen ihnen hindurch. Und auch das Fenster am Ende des Raums war schon geschlossen und mit dem Rolladen verdunkelt, denn das ohnehin nicht sehr helle Oktobertagschimmern, das durch dieses Fenster tagsüber, wenn keine Vorstellungen gespielt wurden, herein fand, hätte die Projektion des „Sternchen“-Films von hinten aufgehellt und ausgebleicht; deshalb mußt es immer, ob im Winter, ob im Sommer, geschlossen sein, wenn im „Sternchen“ das Programm lief. Claus K. zeigte mir alles, ich war auch fasziniert. Nicht ahnend, was dieser kurze Aufenthalt für Konsequenzen haben sollte, setzte ich mich dann an den Tresen des schon berühmten Kinos, zu dessen Abendfilmen die Cinéasten aus der Ulmer Gegend, vom Bodensee und aus dem Bayrischen hinter dem Fluß Iller und aus dem verhältnismäßig umfangreichen Landkreis fuhren, um Filme zu sehen, die in den Kinos ihrer Städte und Städtchen nicht gezeigt wurden; auch, um dieses Kino, in dem sich nach der Vorstellung noch ein gepflegtes Bier trinken ließ, ohne dafür die Lokalität wechseln zu müssen, in Augenschein zu nehmen. Viele kamen oft wieder, scheuten die Anfahrt nicht. Mit Marlies und Ernst, ein Paar, beide nur wenig älter als ich, die aus dem bayerischen Schwaben um Memmingen und Kellmünz zum Kinobesuch eintrafen, befreundete ich mich rasch; bis in die achtziger Jahre hinein blieben sie treue Besucher auch der anderen Kinos an Waldseer Straße und Saudengasse, dann kamen sie seltener, schließlich fast nie mehr, berufliche Veränderungen und andere Interessen hatte ihre Ansprüche an sie gestellt. „Wenn du willst“, sagte Adrian K., „kannst du ja als Aushilfsvorführer anfangen, ich kann einen zuverlässigen Mann noch brauchen.“ Einen Job hatte ich ja nicht; einen Kinojob zu haben, der mich nicht sonderlich beanspruchen würde, wäre vielleicht lustig, ich könnte mir alle Filme ansehen, ohne dafür zu bezahlen ..., so gingen meine Gedanken. Einer Laune und meiner Filmsucht, die sich mit der Eröffnung dieses Kinos wieder bemerkbar gemacht hatte, nachgebend, sagte ich ja. So begann meine Arbeit im Kino, zunächst für zweieineinhalb Jahre ohne feste Anstellung, dann als „technischer Angesteller“, in der Mitte des Oktobers 1978. Mitte Juni 1997 beendete ich sie. Viel geschah in dieser langen Spanne Zeit, nur wenig erzähle ich davon.
- Bis mittags grau. Am Nachmittag zogen die Wolken sich auseinander und zwangsläufig hatten die Lichtstrahlen freie Bahn; das änderte sich aber nach einer Stunde wieder.
16.10.2002

15
Okt

15.10.2002

Daß ich in Stuttgart studieren wollte, hatte noch zwei Gründe, die sich gegenseitig unterstützten: Großstadt und Bekannte. Zudem war S. eine mir nicht ganz fremde Großstadt. Drei- oder viermal hatte ich mich, und war es auch nur für einen Tag oder zwei, in den Angelegenheiten der SDAJ und der DKP dort aufgehalten, vornehmlich in einem Veranstaltungshaus in Sillenbuch, wo Tagungen und Sitzungen stattgefunden hatten, und irgendwo hatte ich auch einmal übernachtet. Die Universität nach solchen Kriterien auszusuchen war bestimmt ein Fehler gewesen. Ich hätte nach Berlin ans Otto-Suhr-Institut gehen sollen, mein Leben wäre anders geworden. Wie? Dort hätte ich linke Theorien haben können. Wäre ich dann nicht erst recht übersättigt gewesen? Berlin hatte aber in meinem Bewußtsein noch zu weit weg gelegen, nie hatte ich ernsthaft erwogen, dort zu studieren, mich dort auf Jahre niederzulassen. Ich hing noch an den Biberacher Zuständen, ob ich es wollte oder nicht. Und mein Unbehagen an der Stuttgarter Situation verstärkte sich nach dem Beginn des neuen, des dritten Semesters in der Mitte des Oktobers von Tag zu Tag. Ich studierte nicht, ich war eingeschrieben. Ich hatte kein Interesse daran, später einer jener angekauften Intelligenzler zu sein, die mit ihren Legitimitäts- und Bereinigungstheorien an den Symptomen einer grundsätzlich falsch organisierten Gesellschaft herumanalysieren und höchstens den Verfeinerungen der Unterdrückungsmethoden noch zuarbeiten. Ich wollte kein glatter Technokrat werden, sondern mein Leben als einen widerständigen Akt spielen; wollte auch nicht – die Gefahr war nicht zu unterschätzen – unbeachtet im Betreib, im akademischen oder sonstigen Einerlei verschwinden. Auch gestand ich niemandem zu, über mich und meine Fähigkeiten, meine Überzeugungen, urteilen zu dürfen. Ich wollte mich nicht einfügen, auch nicht als „linker Intelektueller“. Ich wollte frei sein. Ich wollte auch keinen Beruf haben müssen. Und ich wollte mich nicht mehr verpflichtet fühlen, die Welt vom Joch der Ungerechtigkeit und der allgemeinen Dummheit erlösen zu sollen. Was ging’s mich an, wenn die Deppen es nie begriffen? Ich war ganz schön hochmütig. Ich wollte frei sein und wurde es, als ich zurück nach Biberach ging, an einem Tag im späten Oktober 1975, als das Sonnenlicht die Stuttgarter Hänge mit goldenem Glanz überzog, dann erst recht nicht. Zunächst aber schon. Ich schmiß alles hin: Studiererei, Politik, Science Fiction. Schlußstrich; Zäsur.
- Unfreundlicher Tag, naßkalt, mit Nieselregen, düster.
15.10.2002

13
Okt

13.10.2002

Der Genosse Ulrich W. bemühte sich für mich nach einer Wohnungsmöglichkeit in Stuttgart. Ich stand noch in Verbindung mit ihm, obwohl wir uns schon aus den Augen zu verlieren begannen. Jene Notunterkunft im Westen der schwäbischen Großkleinstadt behauste ich nur eine Nacht, soviel ich davon noch weiß. Uli W.mußte, während ich in der Wohnung in der Lindelestraße das Papier holte, noch einmal den Quartiermeister für mich spielen. Einer seiner Bekannten, Genosse oder nicht, wohnte mit seiner hübschen Freundin im ehemaligen Pfarrhaus von Untertürkheim. Er hieß Meckseper. Als ich in Stuttgart zurück war, fuhr Uli mich in den Stadtteil und stellte mich dort vor. Der junge Mann war etwas älter als ich und sehr freundlich, ich war willkommen, mein Lager für vorübergehende Zeit auf seinem Sofa in einem Zwischenraum einzunehmen. Wie hatte ich die IBM nach Stuttgart mitgenommen? Oder hatte ich einen meiner Bekannten in B. dazu überredet, mich und das schwere Gerät (und andere Utensilien) nach S. zu kutschieren? Oder war ich mit Hans-J. F., dem Noch-Ehemann von Elian, gefahren? Die IBM machte mich jedenfalls bei meinen Gastgebern interessant. Ich postierte sie auf einem Tisch im vorderen Zimmer, so daß die beiden, die mich so nett und verständnisvoll aufgenommen hatten, auch auf ihr schreiben konnten (obwohl das auch in dem Zwischenraum möglich gewesen wäre, denn nie wurde er abgeschlossen); auch sie durften, das gebot schon die Höflichkeit, auf ihr schreiben. Ich erklärte ihnen die Bedienung der Maschine. Ich schrieb auf ihren Tasten, die sehr schnell und leicht anschlugen, und sofort – tick – stand ein schöner Buchstabe auf dem Papier, höchstens Exposés für SF-Romane und ähnliche Kleinigkeiten und kaum etwas für die Uni. Die Uni ...; eines düsteren Morgens im Oktober 1974 ging ich auf die beiden Kollegien-Hochhäuser in der City zu, neben, vor, hinter mir trabten Kommilitoninnen und Kommilitonen, wie das jetzt hieß, bepackt mit Taschen, auf das Universitätsgelände zu, und ich wußte plötzlich: hier wirst du nicht alt. Die Vorlesungen des Professors Greiffenhagen, eines Konservativismusexperten, waren überfüllt, und was er erzählte, langweilte mich schon nach einigen Terminen. Ich begann mich zu fragen, was ich mit diesen Inhalten anfangen sollte. Ich war nur auf linke Theorie erpicht. Ein Seminar zur Thematik der internationalen Beziehungen, eine Standardveranstaltung, wurde von einem schon kurz vor der Emeritierung stehenden Knacker geleitet; ich ging dreimal hin und hörte zu, was sein Lieblingsschüler eifrig von sich gab und blieb dieser etwas gruseligen Angelegenheit danach fern. Im Seminar „Sozialutopien“, das Dr. Herrmann Scheer, ein Assistent, in seine schwarze Lederjacke gekleidet, gab (seit Legislaturperioden sitzt Dr. Scheer als SPD-Spezialist für Sonnenenergie und einer von wenigen, die die ursprünglichen Ideen und Anliegen dieser Partei noch nicht ganz vergessen haben, im Bundestag), das ich blöderweise belegt hatte, obschon ich die Schriften, die hier gelesen und diskutiert wurden, vor etlicher Zeit in Biberach, im Zusammenhang mit der Rezensionstätigkeit bzgl. Science Fiction, konsumiert hatte, schlich sich der Überdruß, auch die Unwilligkeit, ein und begann anzusteigen. (Was mit den pädagogischen Fähigkeiten des Seminarleiters gar nichts zu tun hatte, nur mit meinem Vorwissen.) Immerhin war ich dort noch am häufigsten anzutreffen. Ich machte während dieser Seltsamkeit, Studium genannt, übrigens keinen einzigen „Schein“. Das Semester lief so vor sich hin, der Winterhimmel schneite Schnee herunter, ich war einen Tag lang auf Wohnungssuche, danach ließ ich das bleiben. Im Pfarrhaus in Untertürkheim, der Herberge für den armen obdachlosen Studiosus, war es mir eng geworden, doch wohin? Meckseper – sein älterer Bruder hatte in den siebziger Jahren einigen Erfolg als Künstler, und wahrscheinlich auch später – ließ mich auf diskrete Weise wissen, daß mein Sofaplatz nicht auf Dauer gesichert sei. Dann verursachte ich in Abwesenheit meines Gastpaars auch noch die Peinlichkeit einer Wasserüberschwemmung; ich hatte, wie oft, Alkohol im Blut, nicht zu wenig, deshalb kann ich nun nicht detailliert rekonstruieren, wieso mir das passierte, daß irgendein Wasserhahn nicht richtig zugedreht war. Es passierte, ich wischte auf, beichtete, als man sich abends begegnete, den unangenehmen Vorfall. Sie taten, als sei alles nicht so dramatisch, doch dachte ich an Abschied. Endlich kamen die Weihnachtsferientage. (Stand die IBM zu dieser Zeit noch im Pfarrhaus? Ich hatte sie doch in Biberach benutzt, als ich an den Wochenenden in der Lindelestraße war.) Ich drückte, mehr hatte ich nicht, Meckseper einen Fünfzig-Mark-Schein in die Hand, dankte „für alles“, packte meine Tasche und verdrückte mich. Nie mehr im Winter in der S-Bahn von Untertürkheim in die Stuttgarter Innenstadt fahren müssen! Wahrscheinlich hielten die beiden mich für einen ziemlich fragwürdigen Knaben. Ich hielt mich ja selber für einen solchen.
- Den ganzen Tag über fiel wässriger Schnee. Düsterer Tag.
13.10.2002

11
Okt

11.10.2002

Als ich vor Monaten schrieb, ich sei Stanislaw Lem auf der Buchmesse im Jahr 1975 begegnet, irrte ich mich. Es war im Jahr zuvor. Und auch die Zusammenhänge, die ich daraus entwickelte, erweisen sich heute als unzutreffend. Die Muse der Erinnerung ist oft abwesend.
- Wieder ein Sonnentag, wieder kalt. In der Abenddämmerung zartrosa Wolkentupfer am Westhimmel.
11.10.2002

8
Okt

8.10.2002

Frau H. empfing mich herzlich wie immer und bei Kaffee und Zopfbrot mit Butter saßen wir in ihrem Wohnzimmer, in dem, sie machte mich beiläufig darauf aufmerksam, eine neue Sofa- und Sessel-Garnitur stand – man sagt doch „Garnitur“? – , wegen des besseren aufrechteren Sitzens, wegen „des Kreuzes“. Wir redeten über die sechziger Jahre, über meine Mutter und ihre manchmal uneindeutigen Verhaltensweisen, aus denen sie noch etwas wie „Glück“ zu ziehen versuchte, über meine Ablehnung verschiedener Personen, die bei uns mit einiger Regelmäßigkeit zu Gast bei den Festivitäten oder auch an gewöhnlichen Tagen waren. „Als du dreizehn warscht, hat dich deine Mutter oft recht streng behandelt“, sagte Frau H. im schwäbischen Dialekt einer bestimmten Gegend hinter Biberach nach Riedlingen zu (eines der dort zwischen den Feldern ruhenden Dörfer war ihr Heimatort), „und ich hab zu ihr gesagt, wenn du dich noch lang so zum Klaus benimmst, dann kann es gut sein, daß er noch zu seinem Vater zieht.“ Ich hatte keine Ahnung mehr davon. „Das würde er mir nie antun!“, habe meine Mutter, sagte Frau H., ausgerufen, „und ich hab ihr gesagt, du weißt vielleicht nicht, was Kinder so tun können.“ Natürlich wäre ich nie in den Hagenbucher Weg gezogen. Diese Spanne Zeit, die nicht lange gewährt haben dürfte, habe ich erfolgreich verdrängt und wahrscheinlich maß ich solchen Anwandlungen meiner Mutter auch nicht sehr große Bedeutung zu; war ich nur wieder sehr rücksichtsvoll gewesen; oder auch nur gleichgültig? Oder hatte ich dieses Verhalten gar nicht bemerkt? Nicht ernst genommen, vermutlich. Frau H. erzählte von den Verhältnissen, in denen ihre – mir gleichaltrigen – Kinder und deren Kinder leben. Eine ganz andere Art und Weise, das Leben zu bewältigen und zu führen erst einmal tat sich mir immer auf, wenn sie von diesen Sorgen und Nöten berichtete. Nicht, daß sie mir ganz fremd gewesen wären oder seien, doch erkannte ich an diesen Lebensentwürfen und -gestaltungen, wie ruhig und fast privilegiert ich die Monate und Jahre nach meinem Abschied von den Filmtheaterbetrieben K., in Biberach zunächst noch, dann in Berlin, zubrachte, wenn ich, was mir zuweilen gelingt, von den kleinen Krebstumoren – hoffentlich wieder kleiner als im August! – absehe; – und der Krebs verschafft mir seit zweieinhalb Jahren diesen relaxten, hin und wieder von den Nebenwirkungen der Chemotherapie gestörten Lebensstil, sonst hätte ich unter Umständen, an die ich gar nicht denken mag, gewisse Schwierigkeiten, mir die Zumutungen bestimmter Ämter vom Leib und vom Bewußtsein zu halten; und trüge ich keine ausgeflippten Zellen – ich habe manche Überlegung angestellt, warum sie sich so krank verhalten – mit mir herum, hätte ich, gut genug kenne ich mich, diese Aufzeichnungen nie begonnen. – Nach einer Stunde verließ ich Frau H. und ihre Wohnung, in der ich mich als Kind und Jugendlicher der sechziger Jahre viele Stunden aufgehalten hatte (sogar für einige Tage übernachtet hatte, als meine Mutter auf Reisen gewesen war und mir nicht zugetraut hatte, allein in unserer Wohnung zurechtzukommen, als ich eben schon dreizehn Jahre alt gewesen war; wenn sie sich dann manchmal in späterer Zeit für ein paar Wochen Abwesenheiten vom Alltag genommen hatte, wozu auch die Zeit vor und nach der Operation, die sie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre über sich ergehen lassen mußte, gehörte, war das anders geworden), spazierte über den Gigelberg und die Schillerhöhe zum Stadtkern hinab. Ich drückte mich für einige halbe Stunden im „Weichardt“ an der Wielandstraße herum und erinnerte im sinkenden Nachmittag verschattete Szenen, wie Freunde und ich in den frühen siebziger Jahren hier Becks Bier zu uns genommen hatten; die Einrichtung des Cafés war damals gar nicht so sehr verschieden von der gegenwärtigen gewesen; ich sinnierte zum Fenster hinaus. Dann war ich mit dem Kunstmaler Heilig in der neuen Wohnung mit Atelier in der Nähe des „Insel“-Buchgeschäfts verabredet. In drei Stunden sprachen wir über die Aktionen während und nach der APO-Zeit in Biberach und über seine Kunstauffassungen, über den unvollständigen und in manchen Aspekten auch, soweit sie H. berühren, falsche Auskünfte vermittelnden, erst kürzlich erschienenen Katalog zur Kunst in der Stadt, die in ausgewählten Exponaten nicht nur lokal relevanter Künstler im Braith-Mali-Museum hängt. Im letzten Jahr hatte ich einen Artikel über die E.L.Kirchner-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie für das heimische Blatt geliefert, den ich aber nicht zitiere, weil man ihn mir – man müsse ja keinen kunsthistorischen Abriß schreiben, hatte der Redakteur D. mir im Telefonhörer gesagt – zusammengestrichen hatte; in der Stadt an der Riß lebt der letzte Verwandte des Expressionisten. Nach dem anregenden Gespräch hockte ich wieder im oben erwähnten Lokal, dessen Stühle und Sitzreihen, die meisten schon unbewohnt, auf Mitternacht und das allmähliche Verschwinden der späten Sitzer warteten, mit Ralph H. zusammen. Er gab eine lustige Geschichte zum besten, in der auch eine ansässige Firma eine nicht sehr erfolgreiche Rolle spielte; ein gerissener, leider windiger Amerikaner hatte über ein Jahrzehnt hinweg mit einem nie klinisch erprobten Mittelchen zur Krebsbekämpfung und dessen unermüdlicher Propagierung diversen Großfirmen diverse Milliönchen aus den Etats gezogen und war, als die Aktien sanken, mit ihnen untergegangen.
- Uneinheitliches Wetter, meistens unfreundlich.
8.10.2002

7
Okt

7.10.2002

29.9. – Nach einem Telefonat am Sonntagvormittag mit Schmidt stand ich im fast noch wärmenden Sonnenschein vor dem Haus der Dres. – sie befanden sich für zwei Tage tagsüber auf einer Fortbildungsveranstaltung – und sah hinauf in das von Wolken freie Blau der Atmosphäre, in der von Norden und von Süden langsam in großer Höhe heran fliegende Jets ihre Kondensstreifen hinter sich herzogen und unter der Sonne, die wirklich gewärmt hätte, wäre der kalte Wind nicht durch den Tag gereist, zu anderen Ländern zogen. Einen der Jets, der – um wieviel hundert Meter? – niedriger flog als die anderen, erkannte ich in seiner Form sehr deutlich: ein vielleicht fünf Zentimeter kleines, silbern glänzendes Ding, das selbst als Spielzeug zu klein erschien. Schmidt fuhr heran, ich stieg ein ins Auto, wir fuhren in die Stadt. In der Stadt ging er vom Auto, für das er in der Weberberggasse wieder einmal einen Parkplatz gefunden hatte, zunächst in die Wohnung, ich zum Café „Vienna“. Der Marktplatz, das lang gezogene Oval, lag leer und weit, hell ausgeleuchtet vom Licht des gelben Sterns, menschenleer fast, nur an seinem Rand, vor einer Apotheke, die jedoch vermutlich keinen Sonntagsdienst anbot, stand eine palavernde Gruppe von Bürgern Biberachs, Angehörige eines südosteuropäischen Volkes, Türken genannt. Eine eigentümliche Empfindung ergriff Besitz von meinem Bewußtsein, wenn auch nicht vom ganzen: so leer und weit (und ländlich), wie dieser Marktplatz – eine falsche Piazza, denn seine der Kirche zugewandte Hälfte war vor einem Jahr oder zweien mit hellen Steinen gepflastert worden, etliche Stühle standen verloren auf ihr wie ein Bühnenarrangement aus Becketts Stücken herum, auf die sich zu späterer Stunde Leute setzen würden, en attendent Godot oder sonstwen – in diesem Sonntagmittag vor mir lag, so weit und doch leer schien sich meine Vergangenheit, die ich in dieser Stadt doch hatte, in mir zu erstrecken, und ein kleines Staunen kam zu dieser Empfindung hinzu; es betraf den Vorgang des kaum merklichen Abrückens der Stadt von mir. „I’m a stranger here myself“, hätte ich einem der Türken sagen können. Hätte er mich verstanden? Ich stand auf dem Platz und sah das quirlige Treiben auf ihm vor fünfundzwanzig und dreißig Jahren vor mir, den Autoverkehr aus den und in die Seitenstraßen, die auf dem Platz mündeten und von ihm wegstrebten, das Durcheinander der hastenden oder gemächlich voranschreitenden Bewohner jener Zeit, die bunte jugendliche, langhaarige, hippieverdächtige Schar der „Marktbrunnenhocker“, die auf dem breiten Steinrand des Brunnens mit dem Ritter in seiner Mitte lagerten und um ihn herum (auch Klaus Leupolz, gelb und rot gewandet, zählte trotz seiner vierzig Jahre dazu); nun war dies Herz der Stadt verödet, und ich wußte von meinen Spaziergängen am Tag vorher und von denen im Sommer, daß sich der Ort auch in Wochentagen weniger belebt als früher zeigt. Etwas von dieser Verödung schlich sich auch in mein Herz ein. M. kam ins „Vienna“, um mir Gesellschaft zu leisten, wir saßen herum, viel zu bereden gab es ja nicht. Ich dachte, zum Essen gehen zu sollen in eine der Gastwirtschaften, doch in welche? Stattdessen kaufte ich auf dem Weg zu Manfreds Wohnung in einem Bäckereigeschäft, das Sonntags geöffnet hat, zwei Laugenbrezeln und ein süßes Stückchen. Ich knabberte an einer der Brezeln. Nur die Biberacher Laugenbrezeln haben jenen Geschmack, der einzig allein mir behagt, auch die richtige Konsistenz; anderenorts, auch in Berlin, werden Laugenbrezeln verkauft, aber sie schmecken nicht so gut wie die in Biberach hergestellten, und das hat mit Lokalpatriotismus nichts zu tun, aber mit der Konditionierung der Geschmacksknospen der Zunge seit den Kindertagen. „Wir fahren noch einmal zum Arndt“, sagte Schmidt vor dem Haus, in dem er wohnt, er ging hinein, holte seinen Fotokoffer. Wir fuhren die Strecke nach Schemmerhofen, einmal mehr zu Arndts, wo M. fotografierte, während ich hin und her ein paar Schritte ging, außer dem Hausherren war niemand auf dem Platz, er stellte Bilder auf den blauen Metallträger (denn als solcher setzte sich das Teil auf der Retina fest, obwohl ich nicht sicher bin, daß es ein Träger für irgendetwas war, es war nur lang und blau und bestimmt sehr schwer), die der nächtliche oder frühmorgendliche Wind herabgeblasen hatte. Ich wechselte Worte mit A. und M. – sie kannten sich ebenso lange wie ich beide kannte – und bat M., von diesen und jenen Bildern Aufnahmen anzufertigen, womöglich könne ich die einmal für eine zu bastelnde Website brauchen. Schmidt ließ sich nie gern sagen, was er zu fotografieren habe und äußerte sich wieder dementsprechend sarkastisch, lichtete aber die Bilder ab. Allmählich traten Neugierige auf den Hof, Autos fuhren heran, aus denen Leute stiegen. Schmidt und ich verabschiedeten uns. Schmidt fuhr übers Land, durch einen lichtüberströmten Tag, der die oberschwäbischen Felder, Wälder, Dörfer der Umgegend von Biberach in spätsommerlich-frühherbstliche Farben setzte, in diese Variationen von Gelb, Hell- und Dunkelbraun und dunkles Grün, die in sanft gewellter Landschaft ausgebreitet liegen und die Große Kreisstadt umschließen. Ich ließ mir die Fahrt gern gefallen, die zum Gutershofer Weiher in der Richtung nach Westen ging, wo Schmidt mich in der Natur, träumerisch meinen Blick, althergebrachte Pose, über die der Verlandung sich nähernden Ufer gleiten lassend, fotografieren wollte. „Nun ja, ein Dokument mehr für die Zukünftigen“, dachte ich. Und so, eine Hand an den Baum gelehnt, stand ich dann im schwarzen Mantel auch am Weiher, über den die Sonne blitzende Funken streute. Schon einmal war ich hier gewesen, an einer anderen Stelle, in den Siebzigern, als Bekannte aus der „Szene“ am Ufer für einen Nachmittag und Abend kampiert hatten, nackt oder halb nackt, vor den Ufergestrüppen und den Binsenkolben, die aus dem Schilf geragt hatten; aber mir hatte diese Naturseeligkeit nicht gefallen, das verspätete Hippiegetue war nicht nach meinem Geschmack gewesen, außerdem hatten mir die großen Schnaken, „Bremsen“ genannt, die auf die Häute niedergesunken waren und Blut gesaugt hatten, erheblich mißfallen und ich hatte jemanden gebeten, mich zurück in die Stadt mitzunehmen. Daran dachte ich, als Schmidt seinen Fotokoffer in den Kofferraum legte und es nach Biberach ging. Vor der Kreuzung der Gaisentalstraße mit dem Krummen beziehungsweise Grünen Weg stieg ich aus. „Wir werden uns wohl dieses Jahr noch einmal sehen“, sagte ich, denn Schmidt beabsichtigte, im Herbst Berlin zu besuchen, und ging hinüber, während Schmidts Auto die Gaisentalstraße hinunterrollte, zur Wohnung von Frau H., die mich 1952 aus dem Schnee im Garten des Lindelestraßenhauses aufgenommen hatte.
Grau und Regen rieselte gelegentlich herab.
7.10.2002

6
Okt

6.10.2002

Am Abend stand ich unter einem Zeltdach eines jener Zelte, dem die Wände fehlen, und las meinen kleinen Vortrag zur Ausstellung, auf vier, fünf Seiten geschrieben, vor; durch die naßkalte Dunkelheit flackerten die Feuer in den offenen, an antike Obelisken erinnernden stählernen Gartenöfen, Funken sprühten, Leute standen vor dem Zelt, ich las meinen Text, einige Gedanken zum Wesen und zur Geschichte des Kults; als solchem. Keines bestimmten. Mich fror, Erkältungskrankheiten kann ich mir nicht leisten, also bat ich Beate, Arndts Frau, um einen Tee im Wohnhaus. Dort saß ich eine Viertelstunde später im Mantel, wie ich es oft halte, schlürfte heißen Tee und Mareen, die hübsche Tochter, und ein junger Mann, von dem ich annahm, daß er ihr Freund sei, saßen dazu. Auch die Tochter ist künstlerisch talentiert. Ich fragte nach dem Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Beate meinte, er verhalte sich prinzipiell ungesellig, und auch sein Outfit sei nicht ganz alltäglich, und wenn man ihn bitte, herunterzukommen, zeige er sich erst recht nicht. Ich vergaß das im Reden, als plötzlich eine Maske in das Wohnzimmer der A.s hereinspähte, dann stand das Geisterwesen, ein Untoter, ein Goth oder Gost, weiß geschminkt in schwarzen Klamotten vor mir: Manuel, der Sohn, ein Anhänger, ganz offensichtlich, der Schwarzen Szene. Ich war amüsiert, ich unterhielt mich mit ihm, lobte ihn für’s ungewöhnliche Auftreten. Bestimmt etwas scheu, versteckte er sich hinter der weißen Schminke. Bald zog er sich wieder zurück. Vor wenigen Minuten hatte ich vom Kult gesprochen, schon erschien mir ein Kultjüngling. Kult ist im Hause Arndt fast Pflicht, möchte man annehmen, steht man vor den mannshohen Skulpturen, die Arndt aus alten Balken und Wurzelwerk produziert, die sofort an Totempfähle, an Geister und Gespenster, an Aliens und andere Welten denken lassen, und an oberschwäbische Gebräuche alter Zeiten. Auch ich ließ mich frühzeitig zum Haus der Doctores nach Warthausen fahren.
28.9. – Manfred S. holt mich an der Bushaltestelle unten an der Straße, an der das neue Rathaus, ein kleiner Bau im üblichen nichtsausdrückenden Neubaustil der Neunziger steht, und auf der man hinauf zur Heggelinstraße kommt, ab; hinter dem verkehrsberuhigenden Rondell, das auf die andere Straße nach Schemmerhofen und die zur am Rand der Schwäbischen Alb liegenden Stadt Ehingen gepflanzt wurde; zunächst stehe ich aber ein bißchen im frischen, doch sonnigen Vormittag herum, warte, über den ununterbrochenen Verkehr von links und rechts, von oben nach unten bin ich erstaunt. Ich sehe Manfreds kleines weißes Auto, er fährt den Bogen um den Straßenkreisel und auf der Straße nach Ehingen weiter. Er hat mich, der ich neben der Bushaltestelle stehe, nicht gesehen. Wo will er hin? (Vor einer halben Stunde habe ich ihn mit dem Handy angerufen, weil ich keine Lust gehabt habe, noch länger auf den Bus zu warten.) Ich warte jetzt also darauf, daß er einsieht, daß ich so weit entfernt von der alten Malzfabrik, in deren Nähe ich stehe, wie ich ihm mitgeteilt habe, nur eben ihr gegenüber, nicht stehen kann; und es dauert auch nicht lange, bis sein Auto wieder, jetzt von links, sich dem Rondell nähert. Manfred kehrt, wie ich beobachte, auf einem Parkplatz dort vorn an der Straße, die neben dem ehemaligen „Wurzelmax“-Gebäude und am Bahnhof vorbei auf die B 12 zuführt, um, fährt zurück, und ich bin schon ihm entgegengegangen und winke ihm mit einer kurzen Arm- und Handbewegung, und endlich nimmt der Freund mich wahr und fährt an den Straßenrand, außerhalb des Kreisels, heran, hält. „Wo willst du hin?“, frage ich. „Du Sack, warum stehst du nicht da, wo du stehen solltest?“, gibt er zurück. Ich steige ein und lasse das auf sich beruhen. Wir fahren zu Arndt. M. besichtigt die Ausstellung, kühler Wind bläst durch den schönen Tag, wir lassen uns zu einem Kaffee im Wohnzimmer einladen. Noch in der Küche stehend bemerke ich an der Wand etliche kleinformatige Bilder, lobe eines, das in gelungener quasiimpressionistischer Manier, mit abstraktem Motiv aber, gemalt wurde, und Beate sagt, dieses Bild sei eines von Manuel aus dessen Kinderjahren. „Söhnchen hat Besuch und frühstückt oben“, fügt sie hinzu und nimmt ein Tablett, auf dem zwei Kaffeetassen, Milch, Zucker, etwas Eßbares, sich befinden, in die Hände. Wir ziehen ins Wohnzimmer, dort wird uns das beliebte Heißgetränk serviert. M. und ich fahren nach einer halben Stunde ab, er chauffiert in Biberach hinauf zum Weingartenberg, fährt über einen Weg hinter den Häusern, hält vor einer Wiese an. Wir schlendern über den angedeuteten Feldweg zur Böschung, zum Steilhang, der von einem Maschendraht abgegrenzt wird, hinter dem Unkraut und Büsche wuchern; den Hang hinab. „Scheiße, man kommt nicht richtig ran“, sagt M., „damals stand der Zaun dicht vor dem Abgrund.“ Mit damals meint er die frühen Achtziger, als er oft mit seinem großen schwarzen Hund Musculus durch die Umgebung der Stadt streifte; jahrelang hatte er keinen Job, wollte keinen haben, lebte von Sozialhilfe. Längst hat er als Industriemeister mehr Geld zur Verfügung als ich. Wir schauen hinunter auf das Kieswerk, das unten in der hellbraun-weißlichen großen Ausbuchtung des Hangs mit seinen Gebäuden, Förderanlagen, Baggern etwas spielzeughaft aussieht. Und hinüber zur anderen Seite des Tals; „dort oben das Hölzle, am Fernsehmast“, sagt M., doch ich bestreite den Standort und meine, das Hölzle, in dem ich als Zwölf- und Dreizehnjähriger einen Teil der Sommerferien tagsüber verbracht hatte, wie viele Kinder und jüngere Jugendliche in den Sechzigern, und noch in den Sommern der gegenwärtigen Jahre bietet diese baumumstandene Bucht oben an jenem Hang eine preiswerte Sommerfrische, sei rechts daneben, eben an der erhöhten bewaldeten kleinen Kuppe zu erkennen. Das sei falsch, behauptet M., schließlich habe er auch dort oben, in Bergerhausen, gewohnt, für einige Zeit. Bergerhausen ist ein Dorf östlich auf der Anhöhe und gehört zur Stadt B.a.d.R.; früher, als ich jeden Morgen in einem Bus gestanden hatte, der Kinder vom Stadtteil Weißes Bild/Gaisental aufgesammelt und hinauf zum Hölzle gefahren und sie abends in ihre Straßen zurückgebracht hatte, (immer war er rappelvoll mit lärmendem Jungvolk gewesen), hatte dieser Ort noch eine eigene Verwaltung gehabt. Das Hölzle ...
... ist eine von Kiefern, Fichten, Lärchen, Tannen, Laubbäumen umkränzte Mulde, und in ihr breiten ebenfalls Baumkronen ihre schattenwerfenden Schirme aus; ein Ort, in dem Kinder für einen moderaten Betrag, den die Eltern zahlen, Spiel, Spaß, Spannung hatten und vermutlich haben. Auf Schnitzeljagden, die einen ganzen Tag währten, durchkämmten wir die Wälder, deren Säume überall standen; schlichen im Hölzle in geheimnisvollen Räuber- und Gendarmspielen durchs Unterholz; vergnügten uns am Eishockeyspiel, das in einem Holzkasten stattfand, in dem die Blechfiguren den schwarzen Puck hin- und herstießen, -schoben, -schleuderten – das war ein Gedribbel, Gefummel und Zielen und Stoßen an den dünnen Metallstangen, mit denen die Blechkameraden bewegt wurden! Dies war auch die einzige sportliche Betätigung, natürlich, die ich dort gern vollbrachte, und ich darf mir schmeicheln, auch darin ein kleiner Meister gewesen zu sein. Tee aus voluminösen Metallbehältern gab’s gegen den Durst, der sich im Hochsommer bald verläßlich bemerkbar machte; die Betreuerinnen füllten die Kübel nach, die von Wespen umschwirrt vor einem Häuschen standen. Am frühen Nachmittag hieß es, die Ruhestunde tunlichst einzuhalten. In einem rechteckigen Zelt waren Reihen von olivgrünen Feldlagerpritschen aufgestellt und auch draußen in der Mulde, zwischen Bäumen und Büschen, lagerten wir, vom Spiel von Sonnenlicht und Schatten umgaukelt. Nach drei Wochen war die gebuchte Zeit abgelaufen, ich blieb den Rest der Ferien zu Hause ...
... M. fährt am Lindelestraßenhaus vorüber und hält für einige Minuten, ich zeige ihm am Original, nicht an einer Fotografie, wo mein Zimmer und das Wohnzimmer gewesen waren. „Die Veranda an der Nordseite stand noch nicht, dort befand sich das Blechdach der Verlängerung der unteren Küche, aus dem Nordfenster unserer Küche machten sie offenkundig eine Tür.“ Wir fahren durch die Gartenstraße zur Birkenharder Straße, an der Nordseite eines der Gebäude der „Brauerei Zum Biber“, in der Weberberggasse, parkt M, nur ein paar Schritt von seiner Wohnung entfernt.
Um 15 Uhr hocke ich hinter einer Tasse Kaffee im „Vienna“ an der großen Kirche und warte auf Matthias D., wir wollen miteinander plaudern. Er war in den Neunzigern einer der Kursteilnehmer in der Literaturwerkstatt, die ich in der Jugendkunstschule ab dem Herbst 1993 am Ort für fünf Jahre betrieb. Er blieb die ganzen fünf Jahre dabei. Nun, als er hereinkommt, ist er ein gut aussehender Achtzehnjähriger mit einer dunkelblonden Rasta-Mähne, er trägt eine schmale Brille im sensiblen Gesicht. Wir mailen uns ab und zu. Auch war er zweimal zu Besuch in Berlin, nächtigte auf der schmalen Iso-Matraze in meiner Ein-Zimmer-Wohnung, beim zweiten Mal, vor einem Jahr, brachte er einen Freund mit, der streckte sich nach dem Stadtbummel auf der Coach aus. Eine Woche lang erkundeten sie Berlin. Er nimmt Platz, bestellt sich ein Getränk. Felix komme auch noch, sagt er. Felix las mit zwölf Jahren T.C. Boyle, das war seine Eintrittskarte in den Jugendlichen-Kurs meiner Literaturwerkstatt. Bis er kommt, reden Matthias und ich über den Deutsch-LK, in der er und Felix sich zur Zeit mit Kafka befassen. Vor wenigen Tagen hat er sich das Taschenbuch mit Materialien zum Werk und zum Leben des Pragers aus der „Insel“-Buchhandlung geholt; ich habe dort vor Tagen angerufen, aus Berlin, und gesagt, M.D. könne auf meine Rechnung dies Büchlein mitnehmen. Felix kommt, wir unterhalten uns übers Lesen und Schreiben. Ich rede von meiner Unlust, die ich gelegentlich habe, wenn ich diesen Text hier täglich schreiben soll und setze hinzu, vielleicht um mich ein wenig aufzuwerten, ein Schriftsteller habe einmal gesagt, oder geschrieben, einem Schriftsteller, der diese Bezeichnung verdiene, falle das Schreiben schwer. Ich rede davon, daß ich fast immer, wenn es ans Schreiben von Deutschaufsätzen ging, der letzte gewesen sei, der mit dem Formulieren begonnen habe. Wir sprechen also zwei Stunden über Literatur, nicht nur von Kafka, auch von Döblin, vom Roman, dessen Figuren um den Alexanderplatz in Berlin herum handeln und Matthias hat ja die Schauplätze des Buches während seiner Aufenthalte in der großen Stadt schon gesehen, ist durch die Straßen gegangen, über die Franz Biberkopf – die Biberacher nennen sich übrigens gern „Biber“ – 1929 schlich. Dann müssen die Jungs gehen, auch ich verlasse das Café, wechsle in ein anderes. Abends besuche ich Thomas G., Ali (Dr. A ...) trifft mit seiner weiblichen Begleitung ein, wir verquatschen den Abend, quasseln über das Biberach in den alten Zeiten (so alt sind wir inzwischen schon ...), womit wir die siebziger und achtziger Jahre meinen, und ich auch über das Berlin von heute. Mit Ali ergibt sich zum Schluß, zu fast mitternächtlicher Stunde, noch ein Dialog über Kosmologie, was ich immer unterhaltsam finde. Auch das ist dann besprochen und Thomas fährt mich nach Warthausen.
- Trüb, regnerisch, herbstlich kühl.
6.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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