KD

5
Okt

5.10.2002

27.9. – Der Freitag war ein verregneter Tag. Doch regenfreie Stunden hatte er. Vormittags verließ ich das Haus der Doctores, wartete vor ihm auf das Taxi, das ich vom sehr großen Wohnraum aus, als ich durch eines der Fenster zur Straße hinausgeblickt hatte, vorne an der Straße hatte heranfahren sehen; ich stand vor dem Haus und wartete darauf, daß das Taxi, dessen Fahrer sich offenkundig nicht in Warthausen auskannte, wieder von seiner kleinen Suchfahrt um diese Straße herum zurückkam. Es dauerte auch nicht lange. Ich stieg ein und gab die Adresse der Arndts in Schemmerhofen an. (Ein Dorf nördlich von Warthausen, in dem in der vorletzten Bundestagswahl unverhältnismäßig viele Einwohner braune Kleinparteien gewählt hatten.) Mit Schmidt, Manfred, war ich einige Male vor ein paar Jahren dort gewesen; nun wies ich den Taxifahrer an, schon vor dem Dorf nach rechts in eine Straße einzubiegen, die sich als die falsche herausstellte. In einiger Entfernung sah ich eine Häuserfront, die mir die richtige zu sein schien, „da vorn ist es, fahren Sie weiter“, waren meine Worte an den Fahrer, einen älteren bäuerlichen Typ, der murmelte, dort sei aber nicht die angegebene Straße. Er fuhr weiter, ich dirigierte ihn in eine sich sacht abneigende Straße hinein, die neben dem südlichen Ortsrand entlangführt, vors Arndt`sche Haus ganz unten am Ende der Straße, bezahlte achtzehn Euro – ein stolzes Entgelt für eine gar nicht sehr weite Fahrt, mit Trinkgeld – hievte die Beine in den schwarzen Jeans aus dem Benz und drückte einen Finger auf den Klingelknopf. Arndt öffnete. Wir gingen sogleich hinüber auf den asphaltierten Bauhofplatz, auf den er seine Holzplastiken gestellt hatte. Ölbilder waren auf einem langen blauen Metallgegenstand, der am Rand des Platzes, seine Länge einnehmend, lag, und als eine Art Stellage diente, aufgereiht. An der Nordwand eines großen Schuppens waren die Bilder des anderen Malers in „alter Hängung“, dicht an dicht, nebeneinander, übereinander angebracht. Gebilde, Gerippen ähnlich, schienen aus den hellbraunen holzartigen Flächenstrukturen hervor zu wachsen; der Maler K. nannte diese Bilder „Grabungen“. – Nachmittags fuhr ich mit dem Stadtbus zum Friedhof auf dem Hühnerfeld. Ich suchte das Grab meines Erzeugers, fand es ziemlich schnell. Es war noch da. Wer pflegte es (auf katholische Weise)? Lebte seine Lebensgefährtin noch? Nach einer Weile entnahm ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte, hockte mich nieder, öffnete das Türchen des Lämpchens, stellte das Kärtchen an die heruntergebrannte Kerze, schloß die Lampe wieder. Was sollte das? – Vom Grab meiner Mutter an einer anderen Stelle des Friedhofs schnitt ich die langen Stengel mit den seit dem Sommer nachgewachsenen Farnblättern mit dem Taschenmesser, das ich stets bei mir trage, ab. Im langen schwarzen Mantel beugte ich mich wieder und wieder über das Grab, auf dem kein Stein, kein Holzkreuz steht, nur ein spitzförmiges Nadelgewächs nach letzten Anweisungen meiner Mutter (die Frau H. gekannt hatte), das sich über den größten Bereich der Grabfläche in den vielen Jahren ausbreitete und das ich vor drei Monaten hatte stutzen müssen; schnitt, warf die grünen Stengel auf den grasigen Zwischenweg. So, nur wilder, zorniger, verzweifelt, hatte Lost, der Schriftsteller in Berlin, dieses Grab nach vielen Jahren der Abwesenheit von seiner Geburtsstadt vom vertrockneten Laub und vom gewucherten Kraut befreit. Ich trug die Farnstengel, den lockeren grünen Haufen, zu einem der Kompostbehälter an einem der größeren Wege, die durch den hügelanwärts angelegten Friedhof verliefen, kehrte um, sah auf das Grab, wandte mich ab. Unter dem aufgespannten Regenschirm, denn ein Guß regnete sich aus, schritt ich langsam, mit Tränen in den Augen, zum Ausgang der Sepulkralanlage. Mit dem Stadtbus gelangte ich in die Innenstadt.
- Graues Regenwetter. Nachmittags drang Sonnenlicht herunter, das abgedeckt wurde. Abends und in der Nacht fiel Regen.
5.10.2002

4
Okt

4.10.2002

26.9. – Westlich des nach Süden eilenden ICE-Zuges bauschten hohe Ansammlungen von Haufenwolken sich zwischen Hannover und Göttingen auf; ich sah genau hin und erkannte ein phantastisches Gebirge in den Lüften, mit mächtigen Wänden, Trutztürmen gleich, zwischen denen sich neigende große Flächen wie grauweiße Almen lagen; ein ätherischer Olymp in der reinen Bläue. – Nacht in Biberach, als ich ankam und vor dem Bahnhof ein Taxi zu finden hoffte. Vorm spärlichen Straßenlaternenlicht lag etwas hier und da auf der Straße, die in einem rechten Winkel vom Eselsberg in der Entfernung herab an den starren Dächern des ZOB, des Zentralen Omnibusbahnhofs, vorbei als Bahnhofstraße zu ihrer Kreuzung mit dem Zeppelinring ihre naßschwarze Bahn zwischen die Häuser – Post, lokale EnBW-Geschäftsstelle, in der ich, als sie noch unter „EVS“ firmierte, 1974 in einem Büro saß, Volksbankneubau – legte, legt. Ich fand kein Taxi. Zog das Handy aus der Jacketttasche, drehte mich noch einmal suchend um, plötzlich leuchtete über einem der Autos, über einem Kleinbus, das gelbe Taxi-Zeichen; im Inneren hatte jemand mich bemerkt und es eingeschaltet, oder hatte ich es, das Taxi stand an ungewohnter Stelle, übersehen? Ich ging darauf zu, eine ältliche Frau stieg aus. „Suchet Sie a Taxi?“, fragte sie laut. „Ich hab‘ Sie gar nicht gesehen“, entgegnete ich und lud das Lederköfferchen in den Gepäckteil ein, stieg auf den Beifahrersitz. „Nach Warthausen, ich sag’s dann, wie Sie fahren müssen.“ Wir fuhren bei „Kaltenbach & Voigt“ vorbei, ich sah für einen langen Blick in den Innenhof hinter der Eingangsschranke. Ich sah meinen Erzeuger und mich, irgendwann in der Mitte der sechziger Jahre, in einem Eingangsbereich der neuen Gebäude sitzen, und wie er aus seiner Brieftasche das monatliche Unterhaltsgeld zog; dann bogen wir schon in die Ehingerstraße nach rechts ein, rollten aus Biberach hinaus. Während der Fahrt durch die Dunkelheit – nur ein paar Autos kamen uns um diese Uhrzeit, etwa halb elf am Abend, entgegen – dachte ich an jene Sommer- und Herbst- und Winternächte in den Jahren 1982 und 1983/1984, als wir – Freunde und ich – freitags und samstags oft nach Warthausen zur Großdiskothek „Wurzelmax“ gefahren waren, die ein neuer Vergnügungsort geworden war, denn eine Diskothek solchen Ausmaßes hatte es weder in Biberach noch in der näheren Umgebung noch nicht gegeben. (Der Wirt jener kleinen Kneipe in der Kolpingstraße, von dem einmal eine Bedienung im „Sternchen“-Kino gesagt hatte, er finde wirklich alles geil, der hatte auch mit einem Mal – allein oder mit Kompagnon – diesen Musik- und Tanztempel betrieben. Erst nach der Arbeit im Kino, und entweder freitags oder samstags, vor oder nach Mitternacht, konnte ich in eines der Autos einsteigen, die – manchmal auch nur eines – in aller Regel vom „Storchen“ in der Ehinger-Tor-Straße aus abfuhren.) In Warthausen ließ ich mich in die Heggelinstraße vor das Haus der Dres. Sauer fahren, „bis zur zweiten Laterne“, sagte ich der Taxifahrerin. Ich zahlte, holte meinen Koffer hervor, klingelte an der Haustür. Die Nacht verschluckte das Taxi. Beatrix, die vierzehnjährige Tochter, war zuhause und wartete auf meine Ankunft, sie ließ mich mit einem Knopfdruck im ersten Stock herein; wir begrüßten einander; ich legte meinen Koffer dann auf eines der Sofas in der Dachwohnung und öffnete ihn.
- Windiger, aber freundlich-sonniger Oktobertag mit ein paar wenigen Regentropfen nachmittags.
4.10.2002

3
Okt

3. Oktober 2002

In eineinhalb Wochen nichts geschrieben! Vor der Reise nach Biberach am 26.9. wollten die Gedankenrinnsale aus dem Gedächtnis nur zäh etwas in den grüne dünne Paste auf das Heftpapier spendenden Stift fließen lassen, und während der Tage in der oberschwäbischen Stadt, die ich wegen einer Kunstausstellung, auf deren Vernissage ich einige Sätze sagen sollte und auch sagte (das Zugticket wurde mir bezahlt, sonst wäre ich nicht gefahren) hinter mich brachte und „hinter mich brachte“ ist der richtige Ausdruck, war es mir trotz mancher gedehnter Stunde, in der ich aus Cafés auf die Straßen blickte, mich erinnerte an dies und jenes, gar nicht möglich, mit dem Stift, den ich ja in der linken Innentasche des Jacketts mit mir durch Biberach herumtrug, auf das karierte Papier des kleinen Notizblocks, der sich ebenfalls, übrigens nicht nur auf Reisen nach Biberach, sondern auch während meiner Spazierfahrten durch -gänge durch Berlin, in der derselben Jacketttasche befand, Wörter und Sätze, mein früheres Leben in Biberach betreffend, setzen zu können. Eine Unlust hatte wieder, nicht zum ersten Mal, im Gedankengebäude, in dem es so viele und unübersichtliche krumme Gänge, Treppen, schmale Stiegen, Portale, Hintertüren, Zimmer und Kammern, Küchen, Keller, Dachböden und eine Mansarde, Halbetagen und Zwischendecken und geheime Fluchtwege zwischen den Ganglien gibt, Gastrecht beansprucht, und eine gewisse Nachlässigkeit an der Tür ließ diesen finsteren Vogel hereinflattern. Nun diente es meiner Sache wenig, wenn ich im Nachhinein diese verlorenen Tage mit Texten über „damals“ auffüllen würde, und schon im Juli hatte ich ja das Notizenmachen unterbrechen müssen, das Prinzip des täglichen Schreibens ist also längst ad acta gelegt; so muß ich mir erlauben dürfen, das Fehlen von Erinnerungssätzen nach dem 22.9.2002 mit diesen Worten hier zu entschuldigen. (Und verweist diese Lücke nicht auf die vielen ungeschriebenen Texte, die trotz kontinuierlicher Zeichensetzung auf’s Papier auch nie geschrieben würden; und entspricht sie nicht den Erinnerungslücken, die es unmöglich werden lassen, diesen oder jenen Text überhaupt schreiben zu wollen?) Stattdessen soll eine skizzenhafte Aufführung von Überlegungen und Eindrücken, die mir vom 26. bis zum 30. September 2002 in meiner Heimatstadt in den Kopf gerieten, die ich aber erst nun, nach der Rückkehr, schreibe, folgen; nach diesem kurzen Auftauchen an das Licht heutiger Biberacher Tage wollen wir wieder in die Tiefen des Vergangenen, auch in die des Bewußtseins hinab gleiten.)
- Wärmender, sehr schöner Frühherbsttag.
3. Oktober 2002

22
Sep

22.9.2002

Heute Bundestagswahl. Lange gezögert, ob ich wählen gehen soll. Ging mittags doch, einem schnellen Impuls nachgebend, hinüber in die Rheinsberger Straße, in ein eng wirkenden Backsteingymnasium, das zwischen die Wohnhäuser gezwängt ist, hinein, wählte PDS. Brachte einen Brief zur Poststelle im Bahnhof Friedrichstraße (wie der sich verändert hat!) und fuhr mit der Tram zur Haltestelle, stieg dort aus, ging nach Ablieferung des Briefes, den zugeklappten Schirm in der Rechten, durch Mitte zum Koppenplatz, wo ich mir in einer Konditorei an manchen Sonntagen Tortenstücke hole, die ich – nach einem Gang durch die Ackerstraße und an der Schule vorbei, die an der Elisabethkirchstraße steht (weißer Putz bröckelt an ihr seit Jahren ab) und nach dem fortgesetzten Spaziergang in feuchter Luft, denn es regnete zeitweilig recht heftig, durch die Strelitzer Straße und die Anklamer Straße hinauf in die Brunnenstraße, dort ins erste Haus rechts hineingehend (neben dem ein Brachplatz, der eine verwilderte Müllhalde ist, liegt), durch das Vorderhaus gehend, durch den Fahrradhof ins Hinterhaus („Seitenflügel“ offiziell) eintretend und zu meiner Wohnungstür kommend, die ich aufschloß, nach Ablegen von Trenchcoat (unübliches Kleidungsstück im Osten von Berlin) und Basecap, nachdem ich mir einen starken Kaffee gemacht hatte – genüßlich verzehrte. (Aber gehört das zur „Biberacher Zeit“?) Dann den ganzen Abend Wahl geguckt und über die Biberacher Situation kein Wörtchen auf’s Papier gebracht.
- Regen, kühl, herbstlich.
22.9.2002

21
Sep

21.9.2002

Das Mädchen schlief, wachte in den Reisepausen auf, die auf zwei Rasthöfen zugebracht wurden. Auch ich blieb eher mundfaul. Wir näherten uns Berlin und hörten im Radio von der gescheiterten Bewerbung Berlins um die Austragung der Olympischen Spiele und ich fragte mich, welche nationalistischen Ausschreitungen sich am Abend zu unserer Ankunftszeit abspielen würden. Am U-Bahnhof Alt-Mariendorf hielt das Auto an, mit steif gesessenen Beinen kletterte ich heraus, folgte dem Pseudopunkmädchen in die U-Bahn, mit der wir zum Bahnhof Friedrichstraße fuhren. Wir stiegen aus, sie huschte davon, ich stieg eine Treppe zu einem Ausgang hinauf und stand auf der Friedrichstraße vor dem alten ruinierten Metropol-Theater, dem Admiralspalast besser gesagt (wie das Gebäude genannt wird, erfuhr ich erst viel später). Ich orientierte mich erst einmal, die Straße sah seltsam heruntergekommen aus. Ost-Berlin. Vom „Tränenpalast“ hatte ich gelesen; ich dachte in dieser Minute, er müsse irgendwo im Bahnhof integriert sein; die alte DDR-Abfertigungshalle. Dabei befand ich genau vor ihm. Ich sah ihn nicht. Ich betrat den Bahnhof, dessen muffige Ausdünstung mich anflog und stieg oben in einen alten kastenförmigen S-Bahnwagen ein; der rote Zug rumpelte davon. Im Bahnhof Alexanderplatz verließ ich das Gefährt, das mir ungeheuer berlinerisch vorkam, ging mit dem Köfferchen hinunter. Schmutzig-beige Fliesen überall, es roch ostig. Dieser Geruch war für mich ein ostiger; obwohl ich den Geruch des Ostens noch gar nicht kannte; meine Augen waren die Umgebung nicht gewöhnt und meine Vorinformationen (und -urteile) wurden bedient. Ich irrte nach links, kam auf einen mir riesig erscheinenden Platz – aha, Berlin Alexanderplatz. Er war öde. Die Dämmerung fiel. Ich irrte zurück in die Länge des Bahnhofs, trat auf der anderen Seite hinaus. Wo war der Weg zum „Scheunenviertel“? Den Turm, der auf dieser Seite ragt, sah ich nicht; vielleicht seinen schwach angeleuchteten unteren Teil für eine unaufmerksame Sekunde. Ich sah die Würstchenbude und die jungen Männer mit den Glatzen vor ihr, die wahrscheinlich Bock- oder Currywürste mampften. Ich ging, mit meinen langen Haaren, tapfer draufzu, ohne sie zu beachten und spürte doch, wie sie mich fixierten. Ich ließ mir schnell eine Entgegnung auf einen mögliche Anpöbelung einfallen; nichts geschah. Wie eine „linke Zecke“ sah ich ja wohl aus. In einem Seiteneingang verschwand ich unbehelligt, fand sogar ein Wandtelefon und rief Stefan an, wie ich zur Alten Schönhauser Straße käme. Er beschrieb mir den Weg. Ich marschierte los, fand die Münzstraße, die rechts von ihr verlaufende Alte Schönhauser. Ich sah mich in eine Szenerie aus den zwanziger Jahren versetzt; mit schwarzen Fassaden links und rechts und düster illuminiert lag die Straße in der Abenddunkelheit vor mir; und die Bepflasterung, breite, teils zerbrochene Steinplatten, kleine Pflastersteine, der Sand zwischen ihnen ... – die ganze Unregelmäßigkeit des Gehwegs erforderte ein aufmerksames Gehen, wollte man nicht stolpern. In Biberach waren die Bürgersteige in viel besserem Zustand. Vor einem zurück gesetzten Eingang blieb ich stehen. (Ein Wandtelefon hing da.) Die Hausnummer stimmte. Ich stieß eine alte Tür auf, brachte einen engen Gang hinter mich, ein schachtartiger Hof folgte, in dem allerlei Gerümpel lag und stand, ein Fahrradrest, Mülltonnen; ich öffnete die halb offen stehende zweite Tür zu einem finster sich in den Nachthimmel aufreckenden Gebäude; das sollte bewohnt sein? Ich glaubte mich doch am falschen Ort, kehrte um, ging zurück zum Alexanderplatz, ich irrte mit Köfferchen in einem Gangsterfilm herum (und las ein paar Jahre danach noch einmal Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ und stellte fest, daß in ihm in der Alten Schönhauser der Verbrecherkönig Pimps sein Quartier hat), rief Stefan an. „Ja“, sagte er, „das ist das Haus, oberster Stock, komm rauf!“ Zum zweiten Mal tappte ich durch den unbeleuchteten Hof, stieß, nun etwas ärgerlich, weil ich mich nicht schon beim ersten Mal hineingewagt hatte, die klapprige Tür auf. Aus dem Türspalt am ersten Treppenabsatz glomm Licht hervor und eine auf- und abschwellende, psychedelisch anmutende Musik tönte; ich schlug die Fingerknöchel an die Tür und trat unerschrocken ein. Das junge Pärchen in schwarzen Klamotten, beide schmal, hockte auf einer Matraze und sah uninteressiert auf, als ich plötzlich vor ihm stand und nach Stefan Heidenreich fragte. „Fünfter Stock“, sagte der Typ lahm. Ich dankte und zog die Tür hinter mir zu, stieg hinauf, klingelte – tatsächlich war an einem provisorisch angebrachten Türschild „Heidenreich“ zu erkennen – und folgte dem Rufen, das aus dem Inneren der Behausung drang. Ich fand die Küche, trat ein, Stefan und ein Freund – Gerhard aus Tübingen, wie sich herausstellte – saßen an einem kleinen Holztisch und sahen mir entgegen. Erschöpft ließ ich das Köfferchen sinken. Hatte es mich am Bahnhof Alexanderplatz, vor der Würstchenbude, vor einer Begegnung der unangenehmen Art bewahrt? Vielleicht hatten die Skins ja gedacht: „Ein Tourie mit Köfferchen, der ist nicht aus Kreuzberg, den lassen wir mal laufen.“
- Etwas regnerisch, aber es fielen kaum Tropfen. Graue Wolken in einem blaugrauen Himmel. Später am Tag doch ein wenig Niederschlag.
21.9.2002

20
Sep

20.9.2002

Ab der Augustmitte im Jahr 1993 – noch immer hatte ich Magenbeschwerden, obwohl die Nacht, in der ich mich heftig erbrochen hatte und danach nie wieder Alkohol zu mir nahm, nach einer Woche, in der ich (zum ersten Mal während meiner bis dahin schon zwölfjährigen Arbeit als Filmvorführer) krank geschrieben war und mich selbst entgiftete, schon Monate hinter mir lag – korrigierte ich meine bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Gedichte, jedenfalls die Texte, die ich für Gedichte hielt (und doch nicht alle) und setzte diese Tätigkeit im September kontinuierlich fort. „Jetzt oder nie mehr“, so sagte ich mir, „versuche ich es noch einmal mit der Literatur.“ Im September wurde ich zweiundvierzig Jahre alt – was mir sehr eigenartig vorkam – , und was hatte ich vollbracht? In zwanzig und mehr Jahren hatte ich mich damit herumgeplagt, passable Texte, und nicht nur SF- und Westernmanuskripte, zustande zu bringen, und hatte ich einmal eine Geschichte begonnen, die eine längere werden sollte, gab ich die Arbeit an diesen Seiten regelmäßig auf; Fragmente verschiedener Art, auch Hörspiel- und Filmtexte, blieben in den Schreibtischschubladen und im Schrank zurück. Glücklich war ich in allem, was hinter mir lag, nicht geworden. Was lag schon alles hinter mir? Alles nicht des Redens und Schreibens wert. Oft dachte ich so.
Die Gedichte jedenfalls brachte ich in Schuß, wenn ich über die Reparaturarbeiten an diesen vermutlich nicht sehr hehren lyrischen Zeilen salopp berichten darf (und ich als selbstherrlicher Autor darf es), was mir, ich bin mir darüber im klaren, bei den sehr hoch angesiedelten Angehörigen der elitären Zunft kaum Sympathien einbringen dürfte. Sei’s drum! Im September 1993 war ich noch immer damit beschäftigt und genehmigte mir einige Tage Urlaub vom Kino und fuhr nach Berlin. Fünf steile Treppen stieg ich in den fünften Stock im Hinterhaus der Alten Schönhauser 29 zu Stefan Heidenreichs Wohnung hinauf, in die ich mein Lederköfferchen stellte. In Berlin herrschte spätsommerlich schönes Wetter und ich streifte durch die Stadt, in der ich seit November 1990 nicht mehr gewesen war. Im Herbst 1990 war ich zum ersten Mal nach 1963 in Berlin gewesen; und fünfzehn Jahre lang, von Herbst 1975 bis zum Herbst 1990, hatte ich keine Nacht außerhalb Biberachs zugebracht. Ich hatte in der kleinen Stadt wie eingesperrt gelebt. Nun, 1993, sah ich zum ersten Mal Berlins „neue Mitte“: den historischen Teil Berlins, der von 1961 bis 1989 hinter der Mauer grau, fremdartig und unbemerkt von den BRD-Deutschen auf andere Zeiten gewartet hatte. Auf bessere sozialistische umso weniger, je älter die DDR wurde. (Ich muß das eben Geschriebene korrigieren: 1963 war ich ja mit meiner Mutter schon in „Mitte“ gewesen, als ich nicht gewußt hatte, daß dieses alte Zentrum des ehemaligen Großberlins „Mitte“ genannt wird; ich habe doch ein Foto, auf dem ich, vor den Absperrungen vor dem Brandenburger Tor, Unter den Linden in mein braunes Anzüglein gekleidet zu sehen bin. Ich vergaß aber alles, was ich damals in jenen Stunden in Ost-Berlin gesehen hatte.) 1993 fuhr ich mit einem Auto nach Berlin, in das ich mich von der Mitfahrzentrale in Ulm für sechs oder sieben Stunden einquartieren ließ. Reichlich unsinnig begann diese Fahrt: zunächst mußte ich mit dem Zug nach Ravensburg, südlich in Oberschwaben gelegen, fahren und dort am Bahnhof auf das Auto nach Berlin warten, und ich stand dort zwanzig Minuten, bis es vorfuhr und ich einsteigen konnte. Ein junger Mann, der am westlichen Bodensee irgendeine Ausbildung absolvierte, steuerte es, ein anderer Typ und ein Mädchen, halbherzig punkig aufgemacht, fuhren mit. Wir kamen natürlich über Biberach und am sogenannten „Jordanei“ kurvten wir auf die neue B 30, die Schnellstraße nach Ulm. Dann ging’s über die Autobahn nach Crailsheim und, rechts abgebogen, nach Nürnberg, von dort nach Norden. Diese Strecke kannte ich: auch Axel N. und seine aktuelle Freundin, mit denen ich 1990 nach Berlin gefahren war, hatten sie genommen.
- Zunächst sonnig, dann Vertrübung; graue große Wolken waren unterwegs; kein Regen; frisch.
20.9.2002

19
Sep

19.9.2002

Eines Nachmittags im Juli oder August 1975 saß ich mit Elian im „Pflug“, und sie hatte einen jungen Mann mit langen rotblonden Haaren, der Brille trug, mitgebracht, den sie aus Juso-Kreisen, zu denen sie noch sporadische Verbindungen pflegte, kannte und den ich zum ersten Mal wahrnahm. Sein Name war Oswald Metzger; er kam aus Bad Schussenried, einer noch kleineren Klein- und Kurstadt etwa zwanzig Kilometer südlich von Biberach, und er wirkte auf mich zunächst ein wenig schüchtern. Wir redeten über linke Politik und er war mir nicht links genug. Die Juso-Positionen, die er vertrat, waren mir sattsam bekannt, und mir schien zudem, daß er sie nicht mit ganzer Überzeugung vertrat. Rasch verlor ich während des Gesprächs das Interesse, wurde gleichgültig, was Elian wortlos bedauerte, und der Juso-Schüler – M. hatte in jenem Sommer sein Abitur abgelegt – ging dann. Es mag wohl auch so gewesen sein, daß ich an diesem sonnenhellen Nachmittag im kühlen Gastraum auch wenig Lust an Unterhaltungen politischer Art hatte; eine der ersten Andeutungen der Distanzierung, die ich nicht viel später, im Herbst, vollziehen sollte. Oder traf ich Metzger 1974? Erst 1977 hörte ich wieder von ihm. In seiner Heimatstadt Bad S. gab er den durchaus beachteten „Motzer“ heraus, ein linksalternatives, in Eigenproduktion hergestelltes Blättchen, in dem er und andere – von den Jusos hatte er sich inzwischen verabschiedet – Artikel veröffentlichten, die den lokalen CDU-Leuten und der Stadtverwaltung, und auch der Landkreisverwaltung, gar nicht schmeckten, aber manchmal Wirkung dergestalt zeigten, daß benannte Mißstände und Unsinnigkeiten allmählich ins Bewußtsein der Bürgerschaft und der Gemeindeverwaltung rückten. An manchen Abenden im Frühjahr 1977 trat Ralph H. in mein Zimmer in der Karpfengasse freudig aufgeregt herein – ich hatte ihm eine Kammer im obersten Stock überlassen – und berichtete mir von der eben im Nachbarstädtchen beendeten Redaktionssitzung zur Herstellung der neuesten Ausgabe des „Motzers“, in der wieder eine seiner Politcomic-Zeichnungen zu sehen wären. Ich hatte in den Monaten davor vom „Motzer“ schon gehört und gelesen, in der „Schwäbischen Zeitung“, daß dieser Metzger eine aktive Figur im politischen Leben der Region geworden war, und korrigierte meine Einschätzung vom Jahr 1975 (oder 1974) nach oben. Wirklich interessiert war ich an diesen Aktivitäten nicht mehr, zeigte mich Ralph gegenüber aber wegen der Aufschreckung CDU-schwäbischer Landschaften und der angriffslustigen Verve, die Metzger an den Tag legte, wohlwollend erfreut. Das Blättchen hielt ein paar Jahre durch, und als es einging, saß M. im Gemeinderat der Kur- und Badestadt und schickte sich an, in den Landkreisrat gewählt zu werden, was einige Zeit danach geschah. Die „Grünen“ waren in Mode gekommen und hatten noch einiges vom ideologischen Material der linken „Bewegungen“ der Siebziger geerbt, und O.M. war jetzt Sprecher einer lokalen „Alternativen Liste“, die später meines Wissens in der Partei der Grünen aufging. Zu Beginn ihrer Existenz, 1981 oder 1982, wählte auch ich einmal „grün“, aber das ließ ich dann wieder bleiben und zog es prinzipiell vor, meine Wahlstimme zu behalten und nicht mit der Zeichnung des Analphabetenkreuzchens herzugeben. Die Partei der „Grünen“, das Sammelbecken für rechte Naturfreaks und halbuntergegangene K-Gruppen-Angehörige, Alt-Apo-Figuren und Spontaneisten wie Joseph Fischer, Ökologen und aufstrebende Karrieristen, die doch noch zu etwas kommen wollten, machte in der bundesrepublikanischen Politlandschaft Karriere, und O.M. auch. Nach dem vergeblichen Versuch, den Bürgermeistersessel von Bad S. zu erklimmen, wandte der früher Langhaar-Rotblonde sich, nach einem Intermezzo in Stuttgart als Geschäftsführer der Kommunalpolitischen Vereinigung, der Bundespolitik zu. Im „Sternchen“ standen er und ein paar andere seiner politischen Freunde zu Beginn der neunziger Jahre nach einem Filmabend an der Theke und ich, von einer meiner Launen beherrscht, gab ihnen eine Runde Wein aus. Tage danach war er in der Biberacher Innenstadt auf Stimmenfang zu einer Bundestagswahl. „Aber auch die Zweitstimme geben, die ist die wichtige!“, mahnte er mich, als sei ich ein politischer Laie. Leider hatte ich damals den Fehler begangen, ihn zu wählen. So genau wußte man auch noch nicht, was „Ossi“ zu treiben beabsichtigte. Er entpuppte sich als einer der neoliberalen „Realos“, dessen Auftritte im Zeichen des Sparwahns einer „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ immer gut gefielen. Und in zwei Tagen ist seine Laufbahn als Bundestagsabgeordneter – mit dem Faible für bundesdeutsche „Ordnungspolitik“ und schwarzgrünen Optionen – ja auch wieder beendet. Abserviert von den eigenen Leuten. Er kann sich nun stärker für die Aufgaben der Rüstungsindustrie engagieren.
- Vormittags grau, nachmittags drang das Sonnenlicht durch, die Wolkendecke verteilte sich, schönes Frühherbstwetter. Mittags sogar warm.
Eines Nachmittags im Juli oder August 1975 saß ich mit Elian im „Pflug“, und sie hatte einen jungen Mann mit langen rotblonden Haaren, der Brille trug, mitgebracht, den sie aus Juso-Kreisen, zu denen sie noch sporadische Verbindungen pflegte, kannte und den ich zum ersten Mal wahrnahm. Sein Name war Oswald Metzger; er kam aus Bad Schussenried, einer noch kleineren Klein- und Kurstadt etwa zwanzig Kilometer südlich von Biberach, und er wirkte auf mich zunächst ein wenig schüchtern. Wir redeten über linke Politik und er war mir nicht links genug. Die Juso-Positionen, die er vertrat, waren mir sattsam bekannt, und mir schien zudem, daß er sie nicht mit ganzer Überzeugung vertrat. Rasch verlor ich während des Gesprächs das Interesse, wurde gleichgültig, was Elian wortlos bedauerte, und der Juso-Schüler – M. hatte in jenem Sommer sein Abitur abgelegt – ging dann. Es mag wohl auch so gewesen sein, daß ich an diesem sonnenhellen Nachmittag im kühlen Gastraum auch wenig Lust an Unterhaltungen politischer Art hatte; eine der ersten Andeutungen der Distanzierung, die ich nicht viel später, im Herbst, vollziehen sollte. Oder traf ich Metzger 1974? Erst 1977 hörte ich wieder von ihm. In seiner Heimatstadt Bad S. gab er den durchaus beachteten „Motzer“ heraus, ein linksalternatives, in Eigenproduktion hergestelltes Blättchen, in dem er und andere – von den Jusos hatte er sich inzwischen verabschiedet – Artikel veröffentlichten, die den lokalen CDU-Leuten und der Stadtverwaltung, und auch der Landkreisverwaltung, gar nicht schmeckten, aber manchmal Wirkung dergestalt zeigten, daß benannte Mißstände und Unsinnigkeiten allmählich ins Bewußtsein der Bürgerschaft und der Gemeindeverwaltung rückten. An manchen Abenden im Frühjahr 1977 trat Ralph H. in mein Zimmer in der Karpfengasse freudig aufgeregt herein – ich hatte ihm eine Kammer im obersten Stock überlassen – und berichtete mir von der eben im Nachbarstädtchen beendeten Redaktionssitzung zur Herstellung der neuesten Ausgabe des „Motzers“, in der wieder eine seiner Politcomic-Zeichnungen zu sehen wären. Ich hatte in den Monaten davor vom „Motzer“ schon gehört und gelesen, in der „Schwäbischen Zeitung“, daß dieser Metzger eine aktive Figur im politischen Leben der Region geworden war, und korrigierte meine Einschätzung vom Jahr 1975 (oder 1974) nach oben. Wirklich interessiert war ich an diesen Aktivitäten nicht mehr, zeigte mich Ralph gegenüber aber wegen der Aufschreckung CDU-schwäbischer Landschaften und der angriffslustigen Verve, die Metzger an den Tag legte, wohlwollend erfreut. Das Blättchen hielt ein paar Jahre durch, und als es einging, saß M. im Gemeinderat der Kur- und Badestadt und schickte sich an, in den Landkreisrat gewählt zu werden, was einige Zeit danach geschah. Die „Grünen“ waren in Mode gekommen und hatten noch einiges vom ideologischen Material der linken „Bewegungen“ der Siebziger geerbt, und O.M. war jetzt Sprecher einer lokalen „Alternativen Liste“, die später meines Wissens in der Partei der Grünen aufging. Zu Beginn ihrer Existenz, 1981 oder 1982, wählte auch ich einmal „grün“, aber das ließ ich dann wieder bleiben und zog es prinzipiell vor, meine Wahlstimme zu behalten und nicht mit der Zeichnung des Analphabetenkreuzchens herzugeben. Die Partei der „Grünen“, das Sammelbecken für rechte Naturfreaks und halbuntergegangene K-Gruppen-Angehörige, Alt-Apo-Figuren und Spontaneisten wie Joseph Fischer, Ökologen und aufstrebende Karrieristen, die doch noch zu etwas kommen wollten, machte in der bundesrepublikanischen Politlandschaft Karriere, und O.M. auch. Nach dem vergeblichen Versuch, den Bürgermeistersessel von Bad S. zu erklimmen, wandte der früher Langhaar-Rotblonde sich, nach einem Intermezzo in Stuttgart als Geschäftsführer der Kommunalpolitischen Vereinigung, der Bundespolitik zu. Im „Sternchen“ standen er und ein paar andere seiner politischen Freunde zu Beginn der neunziger Jahre nach einem Filmabend an der Theke und ich, von einer meiner Launen beherrscht, gab ihnen eine Runde Wein aus. Tage danach war er in der Biberacher Innenstadt auf Stimmenfang zu einer Bundestagswahl. „Aber auch die Zweitstimme geben, die ist die wichtige!“, mahnte er mich, als sei ich ein politischer Laie. Leider hatte ich damals den Fehler begangen, ihn zu wählen. So genau wußte man auch noch nicht, was „Ossi“ zu treiben beabsichtigte. Er entpuppte sich als einer der neoliberalen „Realos“, dessen Auftritte im Zeichen des Sparwahns einer „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ immer gut gefielen. Und in zwei Tagen ist seine Laufbahn als Bundestagsabgeordneter – mit dem Faible für bundesdeutsche „Ordnungspolitik“ und schwarzgrünen Optionen – ja auch wieder beendet. Abserviert von den eigenen Leuten. Er kann sich nun stärker für die Aufgaben der Rüstungsindustrie engagieren.
- Vormittags grau, nachmittags drang das Sonnenlicht durch, die Wolkendecke verteilte sich, schönes Frühherbstwetter. Mittags sogar warm.
19.9.2002

18
Sep

18.9.2002

Tage, Abende und Nächte

Ende September; er war um ein Jahr älter geworden. Mittags, oberhalb der Straßengeräusche, die er in den letzten Jahren um diese Stunde des Tages so nicht mehr gehört hatte, verließ er dieses größere Bett, das eine Dekade lang immer in den Zweitwohnstätten aufgestellt gewesen war, ging ins Bad. Dort waren, seit zwei Wochen, die matt-gelben Vorhanghälften vor dem Fenster zur Straße zugezogen. Umzugskram, Unausgepacktes, Überflüsssiges, in der Schnelle hingestellt, ließ, vor Waschbecken, Badewanne (mit Duschdüse), Kleiderschrank, Waschmaschine und gebrauchter Wäsche in einer Ecke doch Bewegungsraum. Er wusch sich. Sein Gesicht wies, wie er fand, schärfere Linien auf als noch vor einem Jahr; und der Körper darunter war schmaler, straffer, eigentlich jugendhafter als in bestimmten Jahren der frühen Zeit. Sie lag jetzt hinter ihm, seine Jugend, mit dreiunddreißig Jahren, und es war gut so. Ich bin noch attraktiv, dachte er. Eine etwas ernstere Männlichkeit hinzugewonnen.
Der heftige Regen hieb gegen die hohen Fensterscheiben. Aus dem geräumigen Wohnraum, einem Eckzimmer, sah er hinaus in den Tag, über die Straße, die in einem kleinen Bogen auf das hoch gebaute Backsteinhaus, in dem er nun für eine noch ungewisse Zeit wohnte, zuführte. Unten Regenschirmmenschen; und junge Typen fuhren auf groß aussehenden Kleinkrafträdern vorüber. Er gab dem achtjährigen Freund, dem Kater, zu fressen. Auch er aß, am Schreibtisch. Zwei weiche Eier, ein Stück Brot; etwas von der schwarzen Wurst. Ein Glas Weißwein dazu. Dann wusch er seine langen Haare, von denen er sich noch nicht lossagen konnte, hantierte mit dem Föhn. Der Kater rannte durch die Wohnung (die Türen zum Schlafraum und zu dem, den er sich als Küche eingerichtet hatte, waren ausgehängt). Er ging dann aus der Wohnung, ohne Schirm, ging um Straßen- und Häuserecken und hinein ins Café, an dessen Tresen ein Siebzehnjähriger, ein Hübscher, bei einem leeren Teeglas schon auf ihn gewartet hatte. Sie erzählten einander die unerheblichen Erlebnisse, die jeder von ihnen seit dem letzten Treffen gehabt hatte. Sie trafen sich manchmal, fanden sich sympathisch, manchmal küsste der Siebzehnjährige ihn, aber sonst „passierte“ nichts. Eine Stunde verging. Der Schüler musste zum Nachmittagsunterricht, Konrad zu seiner Kinoarbeit. Dort, im Kinobetrieb, hatte er in den Vorführräumen zu tun und in den Kinogeherräumen auch, bis der letzte Film, gegen 1 Uhr, abgespielt war, und las von Zeit zu Zeit in einem Reclam-Büchlein eine Geschichte von Fontane.
Nachts lag die Stadt unterm Regen. Das Haus, unbeleuchtet von Straßenlaternen (obwohl im Stadtzentrum gelegen), unerhellt auch vom Fensterlicht der Gastwirtschaft im Hochparterre, die seit Anfang August geschlossen war, reckte seinen Steinkörper hinauf in die Nacht und war dem Näherkommenden (und die späten anderen hineilenden Passanten mochten ähnlich empfinden) ein wie verwunschenes Gebäude, das geformt zu sein schien von verwitterten, unerklärlichen Träumen.
„Das Haus hat ein schlechtes Karma“, hatte vor einiger Zeit eine Bekannte dessen, der die Haustür hinter sich abschloss und die im Dunkel daliegende Bogentreppe hinauf schritt, gesagt. Der Hinaufgehende, der Türaufschließende, der, der seine Schreibtischlampe einschaltete, den Kater begrüßte, hielt wenig von solcher Art der Schicksalssicht. (So spricht aus solchen Kreisen die Ängstlichkeit vor dem Dunklen, Unvorhersehbaren, dem man sich ausgeliefert fühlt; hatte er, mäßig amüsiert, gedacht.) Er wusste freilich um die Macht der Mauern und um die Sprache, die sie sprechen können.
Aß, las; blätterte in den Zeitungen. Erinnerte sich, beim Wein, an einige lange zurück liegende Lebenszustände, die selbst im Erinnern nichts von ihrer trüben Lächerlichkeit eingebüßt hatten. Der Regen trieb gegen die Fenster, die Vorhänge mit den braunen Mustern schützten provisorisch vor Einblicken von außen. Ihn fröstelte; der ausgeliehene Elektro-Ofen beheizte die hohen Räume nur mangelhaft. Jemand verließ ihn in diesen Tagen; einer, den er sehr mochte; vage erhoffte er sich, dass etwas von dieser Liebe bleiben möge. War das noch möglich? Er wollte auch nicht aufhalten wollen, was sich nicht aufhalten ließ. Ein Auto schlich, in der Minute vor dem Schlaf, unten durch eine der Straßen: Schemen, flüchtige, über dem Bett.

Der Spätseptembersonnenschein glänzte sanft in den Straßen. Dieses tagsüber noch wärmende Licht seines Geburtsmonats liebte Konrad. Mit angeschmutzten Turnschuhen und Jeans und einem roten Pullover über dem weißen Hemd ging er durch die luzide Helle des Nachmittags und kaufte im Supermarkt und im Taschenbuchladen ein. In den Minuten vor 18 Uhr stand er vor dem Fenster des Vorführraums. Das Sonnenlicht schien nun dünn und matt über die Straßenkreuzung dort vorn zwischen dem großfrontigen Kaufhaus und dem ausgedehnten Gymnasiumsgelände; warf es einen hellen Schatten auf die weiten Wände. Die Landbusse fuhren von ihren Standplätzen vor dem Warenhaus weg. In der Birke neben dem Fenster gelbten die schwächeren Blätter schon. – Am nächsten Abend stand Konrad draußen vor der zur Straße hinaus führenden Foyertür und sah, wie ein Vogelschwarm in die abdunkelnde Bläue des Südhimmels flog. – Zwei Abendstimmungen später, am 2. Oktober, wurde der halbe Mond hinter den pastellrosafarbenen Zirrhuswolkenschleiern von einem Blick auf den nächsten heller und heller; und regierte. -
Weiterhin lebte er unverbindlich sich selbst gegenüber . So, als ginge sein Leben ihn nichts an. Seit zwei Jahren konnte er aber wieder Vorstellungen, „die Zukunft betreffend“, entwickeln. Nur unklare allerdings. Vor dieser Zeit war er für vier Jahre „im Dunkeln gewesen“, wie er einmal, im vergangenen Winter, einem Freund, welcher seit Jahren in Berlin lebte, mitgeteilt hatte. Jene Pläne – allein das Wort „Lebensplanung“ mochte er nicht – stellten sich jedoch nur als gelegentliche Absichtserklärungen dar; weil er kein Handelnder, sondern ein Reagierender war. – Die Kastanienbäume hatten in den Regennächten nach den lichten Tagen ihre schimmernden Früchte dem Asphalt hingegeben. Konrad trug einen dieser großen unregelmäßig geformten Kerne, die in der Hand sich gut anfühlen, wieder, wie immer, wenn der Herbst einschritt, in einer Blousontasche, um mit ihm, während des Gehens, während des Redens, spielen zu können. Ein wärmender Nachsommer durchstrahlte mit üppiger Lichtfülle die Tage um die Oktobermitte. Die Häuser, die Plätze, die Straßen wurden von diesem Licht schärfer umzeichnet als von jedem anderen Schimmer anderer Jahreszeiten. Diese Schärfe verlieh der kleinen Stadt unter dem herbstlich blauen Äther heitere Weite. Menschen, die in den Nachmittagen des Samstags und Sonntags in den Straßen gingen, waren zu Flaneuren und Müßiggängern geworden; und deshalb bezeichnete er sie, zum Kino gehend, in seinen Gedanken einmal nicht als „die Üblichen“.
In den Minuten vor der Nachmittagsvorstellung in einem der Kinos lehnte er, die Unterarme auf den Zacken eines Eisenzauns neben dem Gebäude, an diesem Zaun und besah sich die Vorübergehenden, Vorüberfahrenden; die Kinobesucher. Er genoss die Sonnenwärme, die durch Pullover und Hemd auf die Haut drang. Die Mücken stiegen auf und nieder in der Luft über dem alleenartigen Weg, der hinter der Straße neben dem in diesem Teil der Stadt offen liegenden, zu beiden Seiten von Kastanien und Lärchen und Linden gesäumten Grabenbach in Konrads Blickrichtung verlief und dessen Ende im Entfernungsdunst verschwamm. Während der Nachtvorstellung öffnete Konrad für einige Zeit das Fenster des Vorführraums (nun war er im anderen Gebäude tätig, was bedeutete, dass er – fast - nur anwesend zu sein hatte ...) und hob den Kopf hinaus in die nächtliche Luft; die roch nach abfallendem Blattwerk und dem zarten Nebel, der um die Straßenlaternen der Kreuzung stillstand. Der Mond, ein paar Nächte zuvor ein bröckelnder weißgreller kleiner Stein, ruhte, scheinbar größer geworden, trotz seiner zerstörten Hälfte behäbig im rostbraun abgezirkelten Hof, den die Wolken ihm schufen. Ich kann meine Jahre nicht nutzen, dachte Konrad wieder. Vor Jahren stand ich schon an diesem Fenster und sah zu, von Abend zu Abend, von Nacht zu Nacht, wie der Herbst freundlich und wie mit streifendem Finger nur jene Baumkronen verwandelte. Aber nun, in diesem Herbst, in diesen Tagen und Nächten, erahnte er deutlicher als jemals zuvor die Bedeutung der „eigenen Zeit“. –
Er schloss das Fenster; später schloss er die Kinotüren ab, warf die Schlüssel in einen der Hausbriefkästen. Die Nachtluft war kalt schon; und der Nebel dichter, dicker als drei Stunden zuvor. Sein Gefühl für die ihm zukommende Eigene Zeit war, wie er sich im eiligen Gehen eingestand, durch den drohenden Verlust des Freundes geschärft worden. Er verlor ihn, „an die Verzweigungen der Lebenswege“. „Ein Hintergrundschimmern bleibt“, sagte er laut, als er in der Wohnung war und ein Glas spülte, in das er dann den Rotwein füllte. „Und doch noch mehr“, sagte er dem Kater, der unter der Schreibtischlampe schlief, durch das Ansprechen erwachte, blinzelte und die Liegeseite wechselte.
Und am Tag danach war Konrad beglückt davon, dass er sein Leben nicht so wie die Anderen leben musste. Die Anderen taten das, was ihnen so wichtig erschien, und er war ihrem System weit entfernt. Er sah sich erneut als Gast, den es auf diesen Planeten verschlagen hatte. Am Abend füllte Konrad Socken und Slips in die Waschmaschine (deren Trommel sich wieder nicht drehte; das alte Gerät summte und heizte Wasser und ergoss es dann in Schüben in die Badewanne hinein) und ließ das Ding, nachdem er eine von Waschmittelseifigkeit klebende Socke aus der Trommel gefischt hatte, mit erbittertem Gefühl erneut die Waschgänge tun. – Seine Wohnräume hatten im Licht der Eckzimmerlampen große Ausdehnungen, und er beschloss, über den Winter hier zu bleiben. Er sollte ausziehen, man hatte ihn aufgefordert, sich etwas anderes zu suchen.
Er wusch die Haare, kleidete sich frisch an. Und ging aus. Einsamer, der er immer gewesen war, ging er durch Gassen und Straßen, an verhassten Ecken der inneren Stadt vorüber; erinnerte sich, wie er als Kind in diesen Gassen und Straßen gegangen war. Die Stadt war seine Stadt und sie war es nicht, er verabscheute alle diese abgetretenen Bürgerwege, all die Topographie, in der das nächtliche Häusergefüge sich zeigte. Eine andere Heimat wartete in anderen Städten auf ihn. Er dachte an den Freund, als er durch die Straßen schritt, bis er, der Gewohnheit folgend, die Kneipe betrat, um dort Bekannte zu sehen. Das Gesicht des Freundes leuchtete im Inneren Auge; jenes Lächeln. So ausgerüstet, sagte er sich, biete ich allem die freie Stirn.
In der Gaststätte - auch in dieser Stadt Südwestdeutschlands hatte sich die traditions-untypische Bezeichnung „Kneipe“ für solche Lokale in den Sprachgebrauch eingefügt -nahm er Platz auf einem der Tresenhocker und begann mit einem großen hageren Fastvierziger, den er seit Tagen, die zwölf Jahre zurücklagen, als sie für einige Wochen gemeinsam den Zivilen Dienst abgeleistet hatten, kannte, eine Unterhaltung. Diesem erging’s in diesem Herbst nicht gut; er erzählte von seinen Behelligungen, von seinen Träumen, dieses Land hinter sich lassen zu können. Von seiner Katastrophe eines Liebesverhältnisses mit einer Frau, die ein Kind von ihm geboren hatte und, nach einer Zeit der Indifferenz, nun mit einem seiner jüngeren Brüder zusammenlebte. Der Bekannte und dessen stummer Begleiter verließen das Lokal, und jene, auf deren Erscheinen Konrad gehoffte hatte, trafen ein. Der weißhaarige Maler, zwanzig Jahre älter als Konrad; der fünfunddreißigjährige Arzt, der jedoch seine Approbation hinausschob und fotografierte statt zu praktizieren; und dessen junge Gefährtin. (Sie hatte sich dazu entschieden, ihr Studium der Politikwissenschaft aufzugeben, worin Konrad, der einmal ebenso, in Stuttgart, mit dem gleichen Fach so verfahren war, sie beglückwünschte.) Man trank Wein und Bier, sprach miteinander; über Filme, über den Niedergang der Kulturpolitik in der Stadt; besprach Privates. – Konrad, der sich vor einer Nacht des Alleinseins fürchtete, schlug, als die Gaststätte schloss, vor, für zwei weitere Stunden bei ihm einzusitzen. Man willigte ein, mit Bedenken. „Es wird immer so spät bei dir“, sagte der Maler. Sie saßen und redeten und nahmen Wein und Rum zu sich. In der sehr späten Nacht brachen die Gäste auf. Konrad saß noch am Schreibtisch, als das Morgendämmern in die Straßen herunter sank. In dieser Morgenstunde konnte er sich ein zukünftiges Dasein wieder nicht denken; wie er sich als Dreiundzwanzigjähriger ein Leben jenseits des 30. Jahres nicht hatte vergegenwärtigen können. Die verlorene Zeit, die eine Figur in sein Lebensrelief hineingezeichnet hatte, hatte er noch nicht – im Erinnern – zu einer Vergangenheitsmaske geformt; es war da auch dieses Unfertige, Verschwommene, welches ihn hinderte, mit dem Alten zu brechen.

Er ging aus, um wieder einmal zu hören, wie die anderen sich zu den Erscheinungsformen des Daseins stellten. Nicht, dass er sich davon eine Bereicherung seiner „Sichtweise“ erhoffte; aber zuweilen vermochte er, an einem der Tische mit den anderen sitzend und ihren Unterhaltungen mit freundlichem Desinteresse zuhörend, eine nicht unangemessene Verwunderung in sich zu spüren. So also geht es auch, stellte er dann während eines Blicks in das Gaststättengetriebe eher beiläufig fest. In diesen Wochen saß er oft nur als Einsilbiger oder Stummer zwischen seinen Bekannten (denen dieses Verhalten aufzufallen begann), jedoch hatte er auch Stunden, in denen er viel redete. Wenn die Oberflächenwörter ihn im Griff hatten und seinen Sprachfluss wie sogartig weiterführten. Eine Art Fieber war das, verbunden mit einem scheinbar höheren Lebensgefühl, dessen rauschhafte Falschheit er, im Innersten unberührt, gleichzeitig gelangweilt wahrnahm. In diesem Herbst, der nun, im November, von Tag zu Tag und von einer Nacht zu nächsten winterlicher wurde, lebte er in sich ruhiger als in dieser Jahreszeit früherer Jahre, und auch die Alltagswidrigkeiten, die ihn bedrängten, gaben ihm in ihrer Hässlichkeit zu verstehen, dass er sich nicht beirren lassen durfte – in was auch immer.
Als er in der Nacht von Sonntag auf Montag um 1 Uhr das Kino verließ, lagen wieder einige Tage und Abende hinter ihm, die er nur mit seiner Arbeit und, in den Nächten nach 1 Uhr 30 oder 2 Uhr, danach in der Wohnung verbracht hatte. Er vermisste die ihm früher wichtig gewesenen Wochenendvergnügungen immer weniger und fand’s wohltuend, ihrer Langeweile wegen der Erfordernisse seines Jobs aus dem Weg gehen zu können. – Eine milde Novembernacht ohne Nebel. Die kleine Stadt schlief. Konrad sah an den Häusern des Stadtkerns hinauf; da möchte ich nicht wohnen, dachte er manchmal, da auch nicht; aus dem nach unten führenden Treppenschacht eines Nachtlokals, das er in zurückliegenden Zeiten oft aufgesucht hatte, klang Diskothekenmusik, überlagert von lauten Stimmen einiger Lokalverlasser, als er vorüberging. Er schritt um die Ecke, auf das dunkle Haus zu. Unten im Hausgang, vor der Treppe, schaltete er Licht ein (er hatte eine neue Lichtbirne in die Treppenlampe eingeschraubt); und überlegte plötzlich, als er die Tür zu seinen Räumen aufschloss und den Kater, der hinter der Tür ihn erwartet hatte, leise begrüßte, dass er über einer großen leeren Gastwirtschaft logierte; da, wo er, ein Stockwerk höher, sich an den Schreibtisch setzte, sich ins Bett legte, standen unter ihm die Tische und Stühle, leer, unbehaust, unbenützt seit Monaten; Gespensterstühle; und wie oft hatte er auf diesen Stühlen an diesen Tischen gesessen, und so lange lag das nicht einmal zurück. Sein früheres Gespenst saß vielleicht noch, bevor er immer ins Haus trat, dort ... Alles ändert sich, dachte er, es ist wahr. Er tat Kohlenanzünder und Briketts in den Ofen, warf mit einem Schäufelchen Eierkohlen hinterher, als das Feuer stark genug brannte. Etwas Aufgewärmtes vom Elektroherd dann, und den Salat aus dem Kühlschrank. Wein, weißen. Wie immer las er während des Essens. Als er, tief in der Nacht, in einem alten Atlas eine Stendhal’sche Landschaftsbeschreibung nachprüfte, lag der Kater, eingekrümmt in sich, schlafend auf dem Teppich.

Wie lange schon bewegte er sich durch Wohnungen, Cafés, Kinos, Straßen, Ämter, Plätze, Gaststätten, Diskotheken, Toiletten, Arztpraxen, Herbst-, Winter- und Sommertage mit der beständigen und zu einer Art Gewohnheit gewordenen Angst, „vom Leben“ nicht genug abzubekommen? Seit seinem 19. Jahr, seit dem 24. Jahr? Der Tod ging neben ihm her und saß an seinen Tischen und stellte sich mit ihm an die Bartheken; ein stiller Teilhaber sozusagen an Konrads Tagesgeschäften, der selten sich bemerkbar machte und gelassen seinen Kontostand beobachtete. Gelegentlich verschwand er mit einem freundlichen Zunicken; das hieß: bis bald, Alter. See you later alligator. Was Konrad unter anderem an ihm störte, war die etwas impertinente Art, ungeniert und ungefragt und im vollkommenen Wissen, unwillkommen zu sein, wieder aufzukreuzen, die Beine übereinander zu schlagen, den Schlips zu lockern und wortlos zu fragen: „Nun, wie sieht’s aus? Was Neues?“ Dieser Stumme, dieser korrekte Herr fiel Konrad auf die Nerven, und doch wusste er freilich – das wusste er – : er war angewiesen auf ihn. Dieser war sein Tod. Die anderen hatten andere. Eine höchst private Angelegenheit und Beziehung, auf die man sich wenigstens verlassen konnte. Und jener machte ab und zu deutlich: Mach mal, mein Bester, tu doch dieses, tu jenes, das tut dir gut und du wirst etwas voller im Gesicht, und für mich lohnt sich’s dann auch besser. Zigarette? Trink noch einen, du bist so verspannt heute, was ist los? Und sieh mal dort hinüber ... Na? Seine Ratschläge waren so schlecht nicht, was störte, war der hintersinnige Eigennutz. –
Der blaue Herbst lag zurück. Der Winter kam. In zwei Tagen und Nächten war im letzten Novemberwochenende ein föhniger Sturm übers Land gerauscht, ein falscher Frühling schien einzufallen. In jenen zwei Nächten, in denen Konrad erst nach 4 Uhr aus dem Kino zur Wohnung ging, war die aufgewirbelte Luft in den Straßen mild und voller Staub gewesen. In der Wohnung zogen stete leichte Luftströme von Fenster zu Fenster und bewegten die Vorhänge. Das Heizmaterial war aufgebraucht; er stellte das Elektro-Öfchen an, das neben dem Schreibtisch stand, und legte er die Winterjacke ab, fror ihn. Es wird ein Winterjackenwinter werden, sagte er sich. „Nach diesem Sturm wird es kalt werden, und der Schnee kommt“, sagte der Kinobesitzer in der Donnerstagnacht, als sie die Aushangflächen dekorierten.
Montags fiel am Mittag bis zum Morgen des nächsten Tages Regen. „Ein Blade Runner-Wetter“, sagte Konrad zu einem, mit dem er häufig zusammen saß. (Die abendliche Stadt grauschwarz, vom Neon aus den Schaufenstern und Straßenlampen illuminiert; die Lichterketten des Feierabendverkehrs girlandenartig über den spiegelnden Straßen; aus den Stadtwohnungen diffuse Helligkeit; menschenähnliche Wesen, unter Schirmen verborgen oder barhäuptig, bewegten sich rasch durch die Nässe.) Später, in den zwei Stunden vor Mitternacht, als Konrad in der Innenstadt herumging, hörte er das zischelnde Geräusch des Regens, und hinter den großen Fenstern zweier Cafés saßen Pärchen, „die Üblichen“, und Vereinzelte wie Schaufensterpuppen.
In der Nacht danach spürte er, zur Wohnung hastend, die Kälte an den Händen und den Fußsohlen. Er legte die Handschuhe bereit und fragte sich, wie er die neuen Winterstiefel bezahlen sollte. Ein sonniger kalter Tag folgte. Konrad ging zu einem befreundeten Musikalienhändler, um aus dessen Lager, wie abgesprochen, einige große Kartonagen zu holen, mit denen er das Fenster neben dem Schreibtisch abdichten wollte; er fand jedoch den Bekannten weder im offen stehenden Laden noch im Lager und suchte, gleichgültig geworden, nach dem Kauf der Lokalzeitung die Städtische Bibliothek auf. In früheren Jahren hatte er dort viele Nachmittage zugebracht. Eine halbe Stunde später legte er die Filmstreifen in die Projektoren ein.
Die ersten Dezembertage kamen herauf und gingen dahin, und es hielt sich eine Witterung, die eher dem späten Herbst als dem beginnenden Winter zuzuordnen war. Die Nächte waren aber kalt, und sank der Nebel in die Stadt, biss die Luft an den noch immer unbehandschuhten Händen. Seit Tagen war kein Regen gefallen, aber das Wolkengewölbe blieb grau. Wenn Konrad nachmittags die Wohnung verließ, roch die Luft noch nicht nach Schnee. In den drei, vier letztvergangenen Jahren hatte in dieser Kalenderzeit schon das harsche Wetter mit starkem Regen und Frost und wehendem Schnee geherrscht. So war Konrad froh, die Notwendigkeit, neue Stiefel kaufen zu müssen, von Tag zu Tag hinausschieben zu können. Er lebte ruhig. Manchmal lud er, nach dem Besuch der bevorzugten Kneipe, von dort aus Leute, die er kannte, zu sich auf ein paar Gläser Wein ein. Unter den Wochen jedoch und an manchem Wochenende, wenn er bis spät nach Mitternacht im Kino gewesen war, hielt er sich mit dem Kater allein in seinen Räumen auf. Die er bald aufgeben musste; er suchte auf den Beginn des neuen Jahres eine andere Wohnung. Einmal noch umziehen in dieser Stadt, sagte er sich; und dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist, fortgehen. Vor neun Jahren, nach einigen Semestern unkonzentrierten Studierens, war er zurück gekehrt in diese Stadt, die ihm nichts mehr bedeutete, in der er aufgewachsen war und später die „dunklen Jahre“ erfuhr, während der er dahingelebt hatte wie einer, der sich am falschen Ort und in der verschwundenen Zeit weiß. Danach hatte die Liebe für jenen, der nun – in einer nicht sehr weit entfernten größeren Stadt – in seinem Studium sich einzurichten begann, ihn herausgeführt aus der zynischen Stumpfheit, mit der er so vielem begegnet war. Sie rettete ihn, trotz der inneren Turbulenzen, mit denen sie ihn – ja fast belästigte. „So soll dieser Winter mir eine Zeit sein“, sagte Konrad zu dem klugen Kater, „in der sich zeigen wird, was Wunsch ist und was Wirklichkeit.“

10. Dezember 1984. – Aus verfliegenden Träumen erwachte er, lauschte den spärlichen Geräuschen der Straße. Zu einer früheren Stunde als für ihn üblich hatte er sich zu Bett begeben, gegen 3 Uhr; er hatte noch an die Schreibmaschine sitzen wollen, aber nach dem Einheizen und der Mahlzeit, auf die er sich während der Kinozeit gefreut hatte, fröstelte ihn weiterhin, die schlechten Gedanken hatten die Müdigkeit verstärkt. Er hörte auf den Glockenschlag der nahen Kirche. So umhüllt vom Bett war er zu bequem, die Hand unter die Kopfkissen, unter denen er nächtlich die Armbanduhr deponierte, zu schieben. Er wartete behaglich, dann tönte eine der Turmglocken zweimal; schlug eine halbe Stunde. Nach 6 Uhr? Morgendunkelheit auf Wänden und Möbeln. Die Räume waren ausgekühlt, der Kater schimpfte und rannte am Bett vorüber. Konrad sah nun doch auf’s Ziffernblatt: nach 8 Uhr. Die wenigen Geräusche in den Straßen hatten sein Zeitgefühl getäuscht. Er entschlüpfte dem Bett, hing den Schwanz in die große Vase, die er als „Nachtgeschirr“ (komische Bezeichnung, dachte er abwesend) benutzte, urinierte, schaltete den elektrischen Ofen ein, kroch zurück ins Bett. Der Kater schimpfte fort. Konrad, wieder aus der Fluchtstätte heraus, sagte ihm beruhigende Worte, das Tier sprang herbei, Konrad lupfte die Bettdecke, der Kater hüpfte hinauf und machte sich’s bequem, die Wärme genießend, am Bauch des Menschen, der auch schon wieder im Bett lag. Als Konrad einzuschlafen begann, hüpfte der Kater vom Bett, legte sich zurecht im bevorzugten Sessel.
Nach 13 Uhr schlug die Klingel im Flur an. Konrad hörte das, sah aber nicht aus dem Fenster. Man soll mich in Ruhe lassen, dachte er. Ein zweites Mal schrillte das Klingelzeichen. Er wartete. Dann wälzte er sich auf die andere Seite und döste. Später versuchte er zu onanieren; die Fantasien waren zu ausgelaugt, zu bekannt, zu oft wiederholt worden. Sex langweilt mich auch, überlegte er, halbwegs belustigt. Er rieb an seinem Schwanz, ohne Lust, imaginierte ein Rudel Vierzehnjähriger, die ihm zuliebe die verpissten Unterhosen von den Hintern zogen. (Unten auf der Straße Jungengeschrei.) Erinnerte sich, wie er als Dreizehnjähriger, in der Zeit bei den evangelischen Pfadfindern, manchmal unter der kurzen Lederhose keine Unterhose getragen hatte, und wie er geheimen Spaß daran gehabt hatte, die dünnen, aber wohlgeformten Schenkel (die er, narzisstisch schon damals, schön fand), so weit zu spreizen, dass die anderen sein Ge-schlecht, seine noch kaum beflaumten Eier, sehen konnten. Manchmal griff einer hinein, spielte, bis er schnell, als sei nichts gewesen, damit aufhörte.
Dann gab es wieder eine Nacht, in der er sich wohl fühlte. Aus dem Kino gekommen gegen 24 Uhr, befeuerte er den blauschwarz in der Ecke stehenden „Kanonenofen“, tischte dem Kater auf, machte sich einen Drink, ging aus. Er wechselte Worte mit den Beiläufigen, saß beim Wein an der Theke, verließ die Jugendkneipe (in die er aber noch gehen konnte) ohne Begleitung, obwohl da zwei oder drei Jungen saßen, die nicht übel aussahen. So einfach war es, allein zu sein, den eigenen Regeln zuzuleben. Eine Ahnung von Glück überkam ihn, als er, einer der letzten, die Kneipe verließ und die Hände in die Winterjackentaschen schob. Keinem Menschen verbunden konnte er weiterhin hinein taumeln in die Zukunft, diesen unerkannten Raum, aus dem hin und wieder ein dünnes Licht in die Gegenwart fiel, als habe jemand eine mächtige Tür einen Spalt weit geöffnet. (Aber an seinem Anus wuchs etwas, ein längliches Fleischding; eine freche Hämorrhoide oder der Artaud-Krebs, der sich den befickten Darmausgang zu eigen gemacht hatte? In heftiger Hypochondrie befangen trank er, um das vorangegangene schöne Gefühl zu halten, in der Stille der Nacht noch Wein, dann Bourbon Whiskey.) Am ersten Todestag der Mutter hatte er das Grab nicht aufgesucht, nicht besucht. Seit einem dreiviertel Jahr war er dort nicht mehr gewesen, an jener Stelle, gekennzeichnet mit Holzkreuz, auf dem ein Name stand. Das, was dort im Holze lag, wurde zum Dreck. In den wüsten Erinnerungen, die in jener Nacht ihn doch aufrührten, kam die Mutter wie lebendig zu ihm; o Mutter, dachte er, warum hast du mir vorgelebt, wie man an Liebe scheitern kann? Dein schlesisches Blut, das schwere, wälzt sich in mir um und um; und ich weine, um dich und um mich.
Fünf Nächte später dachte er: Wie soll man sich denn mit jenem Zustand, der Verzweiflung genant wird, arrangieren? In der besten Weise so, dass er als Chimäre, die aufgaukelt und im Tages- und Nachtgeschäft vergessen wird, ein verborgenes, von Zeit zu Zeit aufblitzendes Schimmerlicht wirft. Er war ja, dachte Konrad, in fortgeschrittenem Stadium; er nahm diese Schimäre noch in sich wahr, vielleicht nur deshalb, um sich über sie belustigen zu können. Es blieb ihm nichts; die Tröstungen waren verraten, taugten nicht; eben deshalb. –
Er liebte es, in der halben Stunde vor Ladenschluss, sofern die Anfangszeiten der zweiten Vorstellungen (der ersten Abendvorstellungen) es erlaubten, noch rasch Einkäufe zu erledigen. Dann eilte er einige hundert Meter hinein in die Straßen, wo er beim Bäcker Brot oder Brezeln kaufte; oder zum in der anderen Richtung gelegenen Kaufhaus an der großen Kreuzung. Selbst dann, wenn er nicht notwendig Katzenfutter oder Wein oder Lebensmittel benötigte, hetzte er, auflebend, in jenes Warenhaus hinüber, dessen Atmosphäre ihm ein Gefühl von Großstädtischem zuwarf. (Vor den Glasfronten der lebhafte Verkehr der Kommenden und Gehenden; und aufgereiht unter dem vorspringenden Flachdach die Pendler, auf ihre Busse wartend; Jugendliche, die ihre Mofas und Fahrräder abstellten oder auf ihnen abfuhren.) Rasch ging der Filmvorführer zwischen allen diesen Ansammlungen hindurch, stieß die Glastür auf und wurde empfangen von der abgestandenen Warenhauswärme und dem Gedudel aus der Schallplattenshop-Ecke. Hinter den bevölkerten Gängen lag der Supermarkt. Konrad zog ein Einkaufswägelchen aus der langen Reihe und lenkte es bald in diese, bald in jene Regalbereiche. An manchen Tagen waren solche Zehnminuteneinkäufe für ihn der Höhepunkt des Tages; mit schnellen Schritten ging er zurück ins Kino mit der kleinen Befriedigung, vom alltäglichen Leben um ihn herum noch etwas erhascht zu haben. –
Die Tage und die Nächte wurden nun noch kälter, waren aber nicht eigentlich winterlich, da der Schnee nicht fiel. Die Autobesitzer sagten zwar etwas von vereisten Türschlössern und frostüberzogenen Scheiben am Morgen. Für Konrad war dann der Winter da, wenn Schnee lag. –
Er suchte weiter nach einer neuen Wohnung. Sehr viele Angebote, die für ihn bezahlbar gewesen wären, gab’s nicht. In der Mitte der Woche besah er eine kleine Dachgeschossunterkunft, die ihm gefiel; aber er wusste, er würde sie nicht bekommen. Bei solchen Terminen wirkte er nicht konform genug. Eine Krankenschwester oder ein Elektrizitätswerkangestellter würde in jene Wohnung am Hang eines der Hügel einziehen. Die kleine Stadt zeigte ihm, dass sie mit ihm nichts anfangen konnte. Und er lebte ja auch in der Gewissheit, eines Tages all das hinter sich lassen zu können. Manchmal stellte er sich vor, wie er in späteren Jahren für drei, vier Tage sich hier aufhalten würde, im Herbst; er würde in einem der Caféhäuser sitzen, dann den Kinoaushang betrachten, durch die abendlichen Straßen gehen, einige übrig gebliebene Bekannte besuchen, sanfte Melancholie über sich kommen lassen; und wieder zurück fahren in ein eigentliches Leben, in dem er, älter werdend, auch nicht wissen würde, warum alles, was geschah, auf diese Weise geschah. Immer würde er ein Wartender bleiben, einer von jenen, denen das Wahre Leben versagt ist.
In einer Minute des Vormittags erwachte Konrad nach vierstündigem Schlaf, sah auf die Armbanduhr, sah, dass er noch Zeit hatte. Durch die Vorhänge und durch das eine vor-hanglose Fenster des Wohnraums glänzte gedämpft ein mildes Sonnenlicht; er wechselte wohlig die Liegeseite, schlief wieder ein. Um viertel vor 11 Uhr erwachte er ein zweites Mal. Die Kirchenuhr schlug Augenblicke danach die Viertelstunde an. Mit einem langjährigen vertrauten Freund, der vor wenigen Stunden, in der tiefen Nacht, nach längerem Plaudern gegangen war, hatte er vereinbart, dass dieser ihn um 11 Uhr 30 aus dem Bett klingeln sollte. (Jener, mit dem er in den zurückliegenden Monaten wieder öfter zusammen gesessen hatte, hatte sich von seiner Freundin getrennt und wieder den ihm gemäßen Lebensrhythmus aufgenommen, was bedeutete, über die Nächte hinweg oft wach zu sein und mittags oder später im Tag sich niederzulegen. Da er wusste, über wie wenig freie Zeit Konrad tagsüber verfügte, hatte er sich anerboten, für ihn am Morgen Katzenstreu und – futter einzukaufen, auf dass dieser Weg am Samstag vor Weihnachten Konrad, der selber Besorgungen zu erledigen hatte und nach 13 Uhr mit der Kinoarbeit beginnen musste, erspart blieb.)
Befangen von einer flüchtigen Traumsequenz vor dem zweiten Erwachen, in der er jenen, von dem er nicht wusste, ob er ihm noch der Freund war, gesehen hatte, blieb Konrad für Minuten fast bewegungslos unter der Bettdecke liegen. Ein sonnengesättigter Wintermittag leuchtete draußen. Die Geschäftigkeit auf den Straßen summte an den Liegenden heran, sprach ihm von dem, in vermischten Tönen, was die anderen mit ihrem Leben anfingen. – Der Freund ging, in Begleitung eines Mädchens, zweihundert Meter vor Konrad, der unaufmerksam auf das hörte, was eine von den Frauen, die er seit Jahren kannte, ihm sagte, durch die Fußgängerzonenstraße; war, wie Konrad sah, heiter und glücklich. Als er bemerkte, wie der, dem er folgte, sich fröhlich von der Begleiterin verabschiedete, beschleunigte er den Schritt, rief den anderen an. Dieser wandte sich um und wartete mit einem freundlich-skeptischen Blick auf ihn. „Wo ist Nena?“ rief er froh; dieser Name gehörte, wie Konrad wusste, nicht dem eben verabschiedeten Mädchen (dessen Name allerdings war ihm unbekannt), und das Überdrußgefühl ergriff Konrad. Der Jüngere, in Eile, achtete wenig auf Konrads Begrüßung; er solle sich mal, bitte, wieder sehen lassen, sagte Konrad in vorgetäuscht souveränem Tonfall. Der dumpfe Schmerz versetzte ihn plötzlich in ein tumbes, sprachschwächendes Gehaben; der andere entgegnete auf diese Äußerung mit der wohlbekannten vagen Geste; entschwand.
Konrad erwachte, ging ins kalte Bad, kleidete sich im wärmeren Wohnraum an, befreite eines der Fenster von den Vorhängen. Er lüftete, und als er den Kopf aus dem Fenster streckte, kam der alte Freund eben auf das Haus zu, sah ihn. Konrad schloss ihm die Haustür auf. Man trank Tee. Nach Tagen frühstückte Konrad wieder einmal. Es sei viel Betrieb in der Stadt, sagte der Freund, die Menschen benähmen sich wie während eines Aufstandes, eines Aufruhrs. Der Freund lachte, zufrieden, dass auch er wenig mit den Anderen zu schaffen hatte. Sie verließen dann gemeinsam das Haus, jeder ging seiner Wege, bis sie sich, am 24., zum Essen bei Konrad wiedersehen würden.

Sie hatten sich schon seit einiger Zeit gekannt; nun lag ein Neunzehnjähriger auf dem Bauch, sein Gesäß wölbte sich unter Konrad, der ihn mit langsamen Stößen vögelte. Die Nacht war schon alt; bevor sie ins Bett gestiegen waren, hatten sie lange geplaudert, sich erzählt, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatten. Der Jüngere, zierlich und fast hübsch, hatte zuerst eine Zigarette angezündet und sie Konrad gereicht. Sie teilten sich den Glimmstengel. Der Junge hatte gelächelt, gelassen, ruhig. Das Gespräch war dann dünner geworden, jeder wusste, was folgen würde, sie zögerten es noch hinaus. Die Begierde brannte in Konrad, vom Whisky noch befeuert. Es war ihr kleines Spiel: jeder wusste, was im anderen vorging, aber sie warteten auf jenen Augenblick, jenen Augen-Blick, der sagte: Jetzt tun wir’s, jetzt gleich. Der Jüngere hatte stumm damit begonnen, sich auszuziehen, Konrad streifte sich die neuen Winterstiefel von den Füßen, zog sich den Pullover, das Hemd, das Unterhemd vom Körper. Der Jüngere war früher fertig, stand ruhig, nackt, vor ihm, beobachtete mit lächelnden Lippen, wie Konrad sich den Slip herunterziehen wollte – hob die Hand, wehrte Konrads Hand ab. Er ging in die Hocke und zog Konrad den Slip herunter, unter dem der Schwanz prall hervorquoll. Mit einer selbstverständlichen Handbewegung ergriff der Junge den Schwanz, hielt ihn fest, schob seine Lippen darüber und begann entspannt zu lutschen. Er wartete, bis es Konrad kam, nahm ihn dann an der Hand, führte ihn zum Bett im Nebenraum. Konrad fickte ihn langsam, konzentriert, die Lust steigerte sich, stieg auf wie eine anrollende große Welle.
Dann zog er den Schwanz heraus, wischte ihn ab, drehte den Freund herum, küsste ihn mehrmals übers ganze Gesicht. Der Jüngere blieb stumm, lächelte. Konrad wichste ihn, einen sehr geraden Schwanz mit einer wohlgeformten Eichel. „Jetzt fick ich dich“, sagte der Jüngere mit sanfter Stimme, richtete sich auf, und Konrad streckte ihm nun seinen Arsch entgegen. Ohne Hast griff der Jüngere sich etwas vom Gleitgel, steckte Konrad zwei Finger voll damit in den Arsch, Konrad spürte diese Finger sehr gut, es machte ihn geil, die Finger bewegten sich gelassen hin und her, zogen sich dann zurück. Mit einer einzigen harten Bewegung nach vorn stieß der Junge ihm den Schwanz in den Arsch, bewegte ihn mit kreisförmigen Bewegungen, Konrad hob den Hintern höher, der andere packte ihn an der Schulter, fickte stärker rein. Später rauchten sie im Bett, Konrad trank vom Whisky, der Junge auch. „Manchmal bin ich erschrocken über mich selber“, sagte er einmal und stieß den Rauch aus gespitzten Lippen aus. Konrad entgegnete nichts. – Die Erinnerung schwand sehr schnell, Konrad trug ein Fragment davon mit sich hinaus in den Winter.
In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember fiel, nach 4 Uhr, ein dünner wässriger Flockenschnee. Als Konrad einem guten Bekannten die Haustür öffnete, sah er das. Zwei von den Gästen, die er in der Kneipe, wo man bis weit nach Mitternacht gesessen war, anschließend zu sich eingeladen hatte, hielten sich noch in seiner Wohnung auf. Die schweizer Musikerfreunde des Bekannten – Schlagzeuger wie er – seien schon gegangen, sagte Konrad; das sei unwichtig, meinte der Hereintretende. Sie redeten, die anderen waren dann auch verschwunden, über die schwieriger werdende Lage des spät eingetroffenen Schlagzeugers; er fragte sich, wie er sein freies Musikerleben mit dem Willen, für die Freundin und das kommende Kind ein Auskommen zu finden, verbinden könnte. Mit dem Jazztrommeln war nicht viel zu verdienen, ein Brotjob musste ins Auge gefasst werden, dieser jedoch würde das regelmäßige Üben behindern. „Nie kann ich die Musik aufgeben!“, rief der Bekannte aus, „das jedenfalls weiß ich.“ –
Die Nächte und Tage nach jener Nacht waren für Konrad still. Nach der Kinoarbeit des ersten Weihnachtsfeiertags setzte er sich wie immer an einen der eng bestuhlten Kneipentische. Wechselte mit dem, den er liebte – denn auch dieser war da – einige der Situation angemessene Wörter, aus denen Fremde nicht hören konnten, was sie verband. Für Konrad war dennoch jedes Wort bedeutsam. Jener wollte nicht, wie Konrad gut genug wusste, dass die anderen „etwas mitbekamen“. Man brach auf, zu Konrads Wohnung, um einen letzten Drink einzunehmen. Jener jedoch verabschiedete sich vor dem Haus, stieg aufs Fahrrad. Konrad, die Tür schließend, bemerkte dessen Handschuhe unter seiner Jackenachsel, öffnete wieder in dem Augenblick, als der Eigentümer der Handschuhe schon an die milchige Fensterscheibe klopfte. Konrad gab ihm die Handschuhe mit einem enttäuschten „Mach’s gut“.
Dächer, Gärten, Bäume, Innenhöfe waren drei Tage danach spärlich überpudert mit pulvrigem Schnee, der in den Straßen nicht liegen blieb. Ein lichtgrauer Äther. Ja, nun war Winter. Konrad zog zwei Paar Socken an.
In der Nacht auf den Sylvestertag blieb jener, den Konrad liebte, für ein paar kurze Stunden bei ihm. Mittags begegneten sie sich zufällig auf der Straße neben den Kinos. Sie lächelten schon, als sie noch hundert Meter voneinander getrennt waren. Im Stehenbleiben tauschten sie kurze Floskeln aus; die Weise, in der jeder von uns seine eigene Lebensgestaltung empfindet, bildete wieder eine feine gläserne Wand zwischen ihnen. Der Tag strahlte im hellen Schein, es hatte guten harten Frost. Abends heizte Konrad gehörig ein und war sehr ruhig, zelebrierte für sich den letzten Abend dieses Jahrs mit Haarewaschen und frischer Kleidung und Kochen und Essen, und während er aß, schlug er eine beliebige Seite im „Grünen Heinrich“ auf und las. Um das Haus gröhlten Jugendliche, schossen Böller ab, zerschmetterten leere Flaschen auf dem schneefreien Asphalt. Später, eine Stunde vor Mitternacht, ging er fort. Und einige Nächte danach legte er seine Wange wieder an die harte Schulter des Freundes, der unruhig schlief, während Konrad, schlaflos und glücklich, im sehr schwachen Licht der Straßenlampen, das durch die Vorhänge drang, ab und zu das Gesicht neben ihm betrachtete. Gehörte er nicht doch zu den Frohen? In diesen Blicken auf den Geliebten schmolz die Vergangenheit hin; alles Frühere war fremd, abgeleistet, verstaut, unwichtig. –
Im vereisten Januar lagen seine Vorstellungen von einer möglichen Zukunft wieder wie unter der Froststarre gefangen still, und er lebte ins beginnende Jahr hinein, als sei ihm kaum etwas von Bedeutung. Die vertraute Empfindung, dass alles Plänemachen und – verfolgen lächerlich sei, beherrschte ihn aufs neue. Er überließ sich dem Gang der Dinge, mit grimmigem Stoizismus, der es ihm erleichterte, die unerfreulicher werdenden äußeren Bedingungen zu integrieren; ja: zu geniessen. Hatte er sich denn nicht seit langem daran gewöhnt? Und seine Ablehnung des „Üblichen“ aufrecht erhalten? Aber erst seit dem Tod der Mutter konnte ihn das Outsider-Gefühl ganz durchdringen, das er annahm wie eine zweite Haut. Seine Bemühungen um eine neue Wohnung zeigten ihm hübsche entsetzliche Ausschnitte aus dem Leben der Anderen.
Konrad ging spät heim. Unter den Stiefeln knarrte und knirschte der vereiste Schnee. Er schloss auf, knipste das Licht für die sich hinauf windende Treppe an (düster wie in einem Polanski-Film), nahm den großen Schlüssel hervor, steckte ihn in das klapprige Schloss jener Tür, die der Eingang zu den Räumen, seinen, war. Er war allein auf dem ersten Stockwerk, die anderen Wohnungen und Zimmer waren unbewohnt. Der Hausbesitzer rumorte manchmal über der hohen Decke. Nur einmal waren sie einander begegnet, auf dem düsteren Flur; auf zwei Krücken hatte der alte, unförmig fette Mann sich, ächzend, zur Treppe zu seiner Wohnung geschleppt, ohne Konrad zu beachten. Hinter der Tür hatte der Kater auf ihn gewartet, Konrad sprach mit ihm; tat jene Fußbewegung, die das großäugige Tier von der geöffneten Tür fernhalten sollte, schloss die Tür ab, ging drei oder auch vier Schritte im Licht, das die Beleuchtung der Straße spendete, zur Lampe auf dem Holztischchen in der Raummitte, schaltete diese ein, die Schreibtischlampe an, machte sich am Ofen zu schaffen, rüttelte die Asche in den Behälter unter dem Rost, legte Kohlenanzünder auf, entzündete diese, warf Briketts und eine Schaufel Eierkohlen darauf. Gegen 3 Uhr packte er den großen Plastikeimer (30 Liter) und stieg hinunter in den Keller, um Wasser zu zapfen. Schleppte 20 Liter hinauf. Überall im Haus waren seit Anfang Januar die Leitungen zugefroren. Stellte den Eimer in den Nebenraum, den er als Küche benutzte.
Griff zur Zigarette, legte Kohlen nach, nahm ein Büchlein zur Hand, nippte Schnaps. Nach 3 Uhr 30 war schöne Wärme in seinem Raum, er zögerte das Zubettgehen hinaus, säuberte die Katzenschüsseln, schüttete frischen Katzensand hinein. Noch später in der Nacht, das WC am anderen Ende des breiten Flurs war ja nicht zu benutzen, nahm er eine der Katzentoiletten, entschuldigte sich beim Kater, schiss dann seinen Fladen in den Katzensand. Beim Afterwischen bekam Konrad wieder Angstzustände. Hämorrhoiden? Bestimmte Minuten in diesen Nächten verbrachte er mit solchen Überlegungen. Auf dem rohen Papier fanden sich Blutspuren, und aus Angst säuberte er sich manchmal den Hintern nicht gründlich, und am Tag danach roch er, wenn er sich zu den Stiefeln bückte, den Lochgestank. (Der ihn erotisierte.)

Mildere Witterung kam. Mit ihr der Regen, der wusch den frostigen Schnee und das Schmutzig-Mehlige, zu dem seine Schichten geworden waren, in wenigen Tagen in die Gullies. Am Abend danach fiel wieder schwerer Schnee. Auch dieser hielt sich Tage danach in der Stadt nur als harsche Kruste in Winkeln und Rinnsteinen und auf kalten Stellen in den Plätzen; einige Sonnenmittage hatten ihn reduziert. In mancher Nacht zapfte Konrad im großen Eimer Wasser aus der Kellerleitung. Der Freund, der seiner Exfreundin nicht nachtrauerte, mit dem er in den Nächten oft zusammen saß, half ihm einmal dabei, die drei Plastikschüsseln, in die Konrad in den Morgen und Nächten hineingepisst hatte, aus dem Haus zu einem der Straßenabflüsse zu tragen und auszuschütten. Als die Pisse in diesen Behältern nicht mehr gefroren war. Danach wuschen sie sich die Hände in einer dafür vorgesehenen Blechschüssel, plauderten, rauchten. Tranken Tee (der Freund) und Wein (Konrad).
An einem jener Tage fand er eine neue Wohnung. In der Gegend, in der er vor gar nicht langer Zeit mit der Mutter und, nach ihrem Tod, für ein weiteres halbes Jahr gewohnt hatte. In einen der anderen Wohnblöcke dort würde er bald einziehen, in den fünften Stock. So zu wohnen gefiel ihm: anonym, mit Zentralheizung und Hausmeisterdiensten, mit Balkon für die Sommer (wie viele?). Im Gespräch mit den ihn Umgebenden würde er unterscheiden zwischen den Ereignissen der Ersten Hühnerfeld-Zeit und denen der Zweiten Hühnerfeld-Zeit. „Hühnerfeld“ – so hieß dieses Neubauviertel. Und nach der Zweiten Hühnerfeld-Zeit würde er fortflattern.
Dann ging die Zeit so dahin. Der Freund, der gelegentlich von der Zeit mit jener Frau sprach, besuchte ihn weiterhin. Zwar sehnte Konrad sich nach neuen Bekanntschaften; jene aber, die sich bewährt hatten, gefielen ihm auch. In den ersten Februartagen strömte viel Regen nieder. Dieser Winter ist der abenteuerlichste meiner zurückgelegten Jahre, dachte Konrad manchmal. Diese Verhältnisse bestärkten ihn in seinem Gefühl für die Eigene Zeit; er sah Weite und zu bearbeitendes Brachland in sich. Dass jener, den er liebte – mit Empfindungen, die klarer waren als je zuvor – mit den eigenen „Lebensumständen“ beschäftigt war und seine Besuche deshalb eingeschränkt hatte, sah Konrad nun endlich ein. Beide wurden sie, jeder auf seine Art, von den neuen Horizonten angezogen. Die Zeit war eine andere geworden. Eines Abends hingen gefrorene Regentropfen in den schwarzen Büschen und perlten am nieder hängenden Gezweig der Stadtbäume, über die Wind fuhr, und glänzten im Nachtlicht der Laternen und Fenster. Und das Winterlicht blieb wieder länger über der Stadt. Eine neue Kälteperiode hatte den Regen abgelöst, der wenige Polarschnee bildete eine sehr dünne Eisschicht, die oft gar nicht zu erkennen war. Die Stiefelsohlen rutschten plötzlich für eine Sekunde ohne Bodenhaftung. So fühlte Konrad sich auch in mancher Minute. Die Kälte schmückte sich mit schöner Sonne, die dann im Dunst verblich. Zwei Zentner Eierkohlen hatte Konrad gekauft, nachts saß er in einer wohltemperierten Wohnung und las in Wochenendausgaben der Zeitungen, trank Wein, bereitete sich im nicht so warmen Küchenprovisorium etwas zu essen. Nach wie vor standen Körbe und Kisten mit Büchern herum. Einen Bücherkoffer hatte er im Herbst in den Mittelteil des von der Mutter geerbten Wohnzimmerschrankes entleert. „Du hast auch so viele Bücher“, sagte die Freundin der Mutter einmal im landläufigen Idiom, als die Rede auf den bevorstehenden Umzug kam. Manchmal fuhr Konrad in diesen Wochen hinauf auf einen der Hügel, wo sie wohnte, um sich in einem funktionierenden Bad der Körperpflege hinzugeben. Konrad mochte sie, und wenn er in ihrer Wohnung war, kamen ihm Kindheitserinnerungen; sie waren Nachrichten aus einer fast schon fremden Zeit. Deutlicher als jemals bemerkte er, dass er in den Sog des Zukünftigen geraten war. Er konnte es nur noch schlecht bis zum Tag des Auszugs in dieser Wohnung aushalten; nicht zuletzt deshalb, weil die ganze Vermietungsgeschichte undurchsichtig war, nicht einmal einen Mietvertrag gab es, der frühere Betreiber der Gaststätte, dessen Wohnung diese Räume gewesen waren, hatte sie ihm zur Verfügung gestellt, ohne den Hausbesitzer davon zu informieren; er selbst, der frühere Gastwirt, hatte sich längst aus der Stadt verabschiedet.
Schnee wirbelte in der Stadtdunkelheit eines Donnerstagabends nieder, häufte sich rasch zu einem die Winternachtschwärze aufhellenden Belag an. Fiel wirblig, als Konrad nach 1 Uhr vor dem vorderen Kinogebäude auf der großen Leiter stand, um die Steckbuchstaben der Leuchttafeln an der Fassade auszuwechseln. Langsam rollten Autos durch die Kurve und in der langen geraden Straße davon. Fasching war’s, Fasnet sagte man hier im Lande. Als Konrad zwei Stunden später aus einem seiner Fenster sah, sank der Schnee weniger üppig.

Der dünne blaue Samtbehang des Schlafraumfensters verlieh der Bettstattstelle eine noch schönere Ausfärbung, wenn draußen die Sonne schon wieder prahlte. Ohne zu bedauern, so leichtes Wetter ungenutzt im Bett zu verbringen, döste er oft noch einmal ein. Aus einer Holzschatulle auf dem Schreibtisch fielen die Mahnbescheide. – An einem Samstagabend um 17 Uhr 30 verließ er das Kinogelände, um sich rasch eine Flasche Wein für die Nacht zu besorgen. Ein feinblauer Himmel mit Wolkensträhnen glomm noch in dieser halben Stunde über den rötlichen Dächern. Ein paar Autos fuhren durch die fast unbelebte Stadt, zwei Paare, Männer und Frauen ineinander verhakt, begegneten ihm; er genoss den raschen Gang durch die Straßen. Gelblich schimmernd der westliche Horizont, als er durch die Kinotür ging. Einige Zeilen eines Songs der Talking Heads spielten in seinem Kopf: „When this kiss is over, it will start again, not in any different, will be exactly the same.“
Am 28. Februar klingelte mittags der Freund um 13 Uhr. Den Umzug aber hatte Konrad schon auf den folgenden Samstag verschoben. Sie gingen zu jenem Lokal. Vor dessen Fenstern stellte der Jüngere das Rad ab, in seiner schwäbischen Mundart sagte er grinsend: „Die amüsieren sich über deine langen Haare“, und er meinte damit zwei junge Mädchen, die hinter dem Fenster des Spielautomatenraums der Kneipe hinaus sahen. Sie gingen hinein, Konrad sagte: „Ich bin ein Fossil.“ Der Freund grinste stärker: „Ein Fossil!“ Im Lokal, das auch zu dieser Spätnachmittagsstunde ein Treffpunkt der Jugendlichen (und etlichen nicht mehr ganz so Jugendlichen) war, nahm der Jüngere sogleich Platz an einem der Rundtische, wo einer seiner Freunde in schäkernder Gesellschaft von Mädchen saß. Konrad, der sich auf dem kurzen Weg zum Lokal auf eine unverhoffte angenehme Stunde zu zweit gefreut hatte, hockte sich dazu, wissend, dass er überflüssig war. Er trank seinen Kaffee, war einsilbig, streifte dann und wann unauffällig das Gesicht des Freundes mit einem wie unbeteiligten Blick. Er langweilte sich, entschied, noch für eine halbe Stunde die Literaturzeitschriften in der Stadtbücherei einzusehen, und der Entschluss fiel ihm umso leichter, als nun ein Pulk heftig quatschender Schülerinnen ins dämmrig-stille Lokal einfiel. Der Freund versprach ihm, beim Umzug zu helfen, als Konrad sich hastig verabschiedete. –
Zwei Tage danach erwachte er zwischen der elften und zwölften Stunde. Spät war er aus dem Kino herausgekommen, für kurze Zeit nur hatte er sich zwischen dem schon bereit gestellten Umzugszeug bewegt, als der alte Freund mit seinem Hund eingetrudelt war. Sie hatten in ihren Jacken im unzureichend geheizten Raum gesessen. Man vereinbarte, dass der Freund – der selber auch mit Katzen lebte – Konrads Kater für die Stunden des Umzugs zu sich nehmen würde. – Die Wohnung lag in düsterem Licht, als Konrad erwachte. Regen plätscherte über die Dächer. Konrad stand auf, schleppte die Wannen und Töpfe mit dem Schmutzwasser zum Flur-WC, verließ das Haus, um Bier und Sprudel für die Helfer einzukaufen. Dünner Strichregen rann aus dem Tag. Pünkt
lich um 13 Uhr wartete der erste Helfer vor dem Haus. Der VW-Bus mit den anderen fuhr vor. Andere schlenderten aus den Straßen herbei. Minuten später packten sie den Bus voll, die erste Ladung fuhr ab, mit Konrad und dem Kater vorne auf den Sitzen. In einer winzigen Wohnung in einem abbruchreifen Haus im ältesten Stadtviertel kam der Kater für die nächsten Stunden unter. Sie fuhren hinauf auf den flachen Hügel, luden dort vor dem Wohnblock ab. Im frisch gestrichenen Appartment klingelte das Telefon, das vom Vormieter hinterlassen worden war. Der Freund meldete sich aus einer Telefonzelle der Innenstadt, er sei jetzt erst angekommen. Als Konrad vor das Haus, aus dem er auszog, fuhr, packte der Freund schon längst in der Wohnung oben mit an.
Sie trugen, fuhren, schleppten, füllten den Aufzug des Wohnblocks, füllten das Appartment. In den Windregen mischten sich Wasserschneeflocken. Der Tag verfinsterte sich, wurde kalter Abend. Konrad war glücklich. Er zog in eine schöne Wohnung ein, der Freund war neben ihm, griff energisch zu. „Wieviel Kram hast du noch, he?“ wollte einer der Helfer, allmählich ungeduldig, weil es Abend schon war, wissen. Konrad beschwichtigte ihn. Dann sagte der Freund: „Ich will Feierabend haben.“ Das war so seine Art. Direkt, unverblümt. Aber Konrad wusste: er hatte schon am Vormittag einer seiner Schwestern beim Umzug nach Bad W. geholfen. Konrad zahlte alle aus. In aller Hektik vereinbarte er mit dem Freund, später zum Essen zu gehen. Der VW-Fahrer, Organisator der örtlichen Arbeitslosenselbsthilfe, fragte, ob er sich anschließen dürfe. Konrad bejahte, wusste aber gleichzeitig, dass der Abend anders als gehofft verlaufen würde. Sie fuhren noch einmal zum Haus mit der leeren Gastwirtschaft, bauten den Rücksitz wieder in den Bus, holten noch einen alten Lederstuhl und eine Grünspanlampe aus der Wohnung; beides schenkte Konrad dem Fahrer. Der Kater krallte sich an Konrad fest, turnte auf dessen Oberarmen und Schultern, miaute und kratzte am Busfenster, als sie ihn in die neue Wohnung brachten. Anschließend traf man sich, saß zusammen bei Pizze und Wein. Der Freund musste gehen. Die anderen und Konrad zogen in das Lokal um, in das man immer ging. Der Freund kam wieder, setzte sich an den Rand der Runde. Konrad hoffte auf etwas, so nebenbei, mitten im Reden mit anderen. Dann, unvermittelt, stand der Freund auf, ging wortlos zur Tür. Konrad schrak auf, rief, warum er schon ginge. Der Freund drehte sich um, lächelte. Dann ging er hinaus.

(Oktober 1984 – Februar 1985)

- Sonnenheller Spätsommertag, mit hellgrauen Wolkenverschleierungen.
18.9.2002

15
Sep

15.9.2002

Nach solch einem selbstromantisierenden Augenblick hat man sich nach Westen abzuwenden und diese ostwärts gerichtete Stätte mit ihren starken Bäumen und dichten Gebüschen und ihren Blumenrabatten durch eben dieses Durchgangstor unter einem Fenster zum Hirschgraben hin, dem spätmittelalterlichen Befestigungsgraben, dicht bewuchert mit hohem und niedrigem Gesträuch und Bäumen verschiedenster Arten, zu verlassen, um über die gerade Brücke, die erheblich jüngeren Datums ist, auf die Plätze und Wege des Gigelbergs zu gelangen, der an dieser Ostseite nicht bewaldet ist, das käme der Ortsbeschreibung nicht zutreffend zugute, aber Baumbestand hat, der in der Schützenfestwoche auf die schwedischen und kaiserlichen Zeltlager samt Kanonen und Speeren und Viehtränken erholsamen Schatten wirft, und umrahmt wird der ganze Gigelberg auch von Bäumen. Keine Schützenfestbuden und -karussells und „Schnee-Expreß“-Bahnen sind nun hier, im Spätsommer, zu sehen, kein zwei- oder dreimastiges Zirkuszelt breitet seine graublauen Planen aus (in den fünfziger und sechziger Jahren kamen noch große bekannte Zirkusse nach Biberach, und während der siebziger und achtziger Jahre wurden diese traditionellen artistischen Betriebe immer kleiner und seltener), und keine Zirkustiere stehen inmitten der Wagenburg des zirzensischen Völkchens; nur Leere und Stille empfangen den jugendlichen Schlenderer, der auf dem Weg ein paar amüsierte oder – seltener – selbstkritische Überlegungen vielleicht zu seinem Schlendrianleben anstellt und sich über die Ortsbezeichnung „Gigelberg“ gar keine Gedanken macht, weil er sie schon mit der frühesten Milchsuppe geschlürft hat und sie die pure selbstverständliche Gegebenheit ist. Warum aber nennt man diese Fläche „Gigelberg“? Was meint dies Wort, der Name? Verdankt er sich den Ghibellinen, der Kaiserlichen Partei des 17. Jahrhunderts? Leitet er sich ab von cucullus, gleich „Gugel“? Die „Gugel“ war eine Zipfelkappe der Bauern und Hausknechte; oder gab das viele Gucken von bekannter Aussichtsstelle die Bezeichnung? Krähte Gallus, der Hahn, krächzte der Nußjakel, der Nußhäher, vom Baum? Spielten Söldner oder fest angestellte Halsabschneider zu oft „Gaigel“, das älteste Kartenspiel, um einen fetten Hahn? In meiner Kindheit war der „Butzegaigeler“, der Purzelbaum (auch schon ein fremdartiges Wort), beliebt. „Auch die ersten Siedler am Gigel-berg in ihren mit Schilf gedeckten Hütten und später die besitzreichen Gräter von Stafflangen und die wohlhabenden stolzen Weber werden dort an der Sonnenseite des Gigelbergs (Weberberg) noch Hühner gehalten und die damals üblichen feisten ‚Kapaunen‘ nicht verschmäht haben“, schrieb einer vor vielen Jahren. Ist der Gigelberg also der „Hahnenberg“, auf dem am Schützenfest nach wie vordem die Hahnenkämpfe um gurrende gackernde „Chicken“ ausgetragen werden und der eine Gockeler dem anderen unter gewissen Umständen an die Gurgel geht? So mancher Hahnrei dürfte jedes Jahr zu „Schützen“ über den Gigelberg schlurfen. Wie dem auch sei: genug davon. (Erst nach Berlin mußte ich übersiedeln, um im Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek Vorstehendes am Beginn dieses Jahres auf der Suche nach anderen Informationen über frühere Biberacher Zeiten zu eruieren.)
- Kühler, aber sonniger Tag mit tiefblauem Äther und weiten Wolkenburgen; oder weißen Wolkengrafschaften. „Wolkenmarmor“, sagt Musil.
15.9.2002

14
Sep

14.9.2002

In jener Zeit, in der das geschah und in der es mir ein heimliches Vergnügen war, mit H. in der Spielhalle eine Mittags- oder Nachmittagsstunde zu verflippern, verlief mein Weg zurück zur Lindelestraße fast jeden Tag vom Marktplatz über den westlichen Teil des Weberbergs und von ihm eine steinerne Treppe hinauf unter die dicken Zinnen, die, von unten betrachtet, dem damals grauen Weißen Turm vorgelagert erschienen, und unterhalb der Zinnen kommt man durch ein Tor in dem von oben nach unten sich erstreckenden Teil der Stadtmauer auf einen schmalen Weg, der in scharfer Serpentinenlinie zwischen duftenden Büschen und Blumen hinauf auf die Höhe führt, vorbei an den Zinnen, die sich vor dem Eingang zum Weißen Turm, einer massiven, von einem ebensolchen Vorhängeschloß gesicherten Holztür (durch die, wie mir ein Jahrzehnt früher schon bekannt gewesen war, die katholischen Pfadfinder vom Stamme des Hl. Georg ein- und ausgegangen waren) als die Mauerbegrenzung des Vorplatzes des Turms darstellen, wo der Blick zum alten Stadtgarten und über die Theaterstraße zur Kolpingstraße und zum Hand des nördlichen Mittelbergs schweifen konnte, und ganz oben auf dieser „Schillerhöhe“ genannten Aussichtsstelle verharrte ich dann manchmal in meinem Gang und sah über die Altstadt , über die vielen karmensinroten Biberschwanzdächer, zwischen denen die Türme der Stadtpfarrkirche und des Ulmer Tors und etwas weiter Richtung Südosten das Wohnhochhaus der Firma Liebherr und das der Firmenleitung ein Stückchen zur Seite hin aufragen; im Tal hat Biberach nur diese hohen Gebäude; oder man könnte noch den in den sechziger Jahren entstandenen lang gestreckten Betonbau des Landratsamts dazu zählen, der aber nicht als Hochhaus, sondern nur als höheres Verwaltungsgebäude zu bezeichnen wäre. Zweifellos ein Maler-Szenarium, wie die Häuser sich unten drängen, Häuser, deren Fassaden mir seit vielen Jahren vertraut waren, Häuser darunter, da drunten, in die ich oft, in dieses da und in das dort, ging, oder Häuser, die ich, wenn sie Behörden oder Geschäfte in sich hatten, in die ich nur sporadisch eintrat, wie zum Beispiel das Amtsgericht oder das Finanzamt oder ein von mir nicht frequentiertes Lokal, lange Zeit nur von ihrem äußeren Erscheinungsbild gekannt hatte, bis ich eines Tages doch Anlaß hatte, gehabt hatte, sie zu betreten. Ich war mit den innenstädtischen Gebäude- und Straßenlagen auf geradezu natürliche Weise so vertraut, daß ich viele Dächer oder sichtbare Häuserfassaden und Häuserteile auch von oben zu identifizieren imstande war; „da ist der Strauß, dort die Stadtbücherei, das Museum (sowieso unübersehbar), das Lokal ...“; usw. Ich verleugne nicht, beim Blick auf diese schöne Dächerlandschaft und die gewußten Straßen dazwischen immer so etwas wie ein Heimatempfinden in mir aufsteigen gefühlt zu haben. Gleichzeitig war die Enge, in der sich unten die Stadttopographie drängte, mir oft ein Ärgernis gewesen und ein Hinweis auf die nicht allzu große Weite, die sich dort in manchem Kopf in diesen Häusern – erstrecken durfte, darf man nun eigentlich nicht schreiben. Hätte ich nicht gewußt, daß Biberach nicht nur an der Riß und am Stadtbach (der noch zuasphaltiert war) und am Ratzengraben entlang und in den Flächen dazwischen stand, sondern über die umliegenden Hügel auch noch sich ausbreitete, ich hätte mich gerieren können als ein allzu spät gekommener spätromantischer Poet, der auf dieser Anhöhe – die freilich eher klassisch-idealistischen Charakter hat, eingedenk des schwäbischen Genius‘, dessen metallenes Relief hinter mir über dem Durchgangstor in der Stadtmauer mich beobachtete – womöglich noch in die Stimmung zum Versemachen hineingeraten wäre. Biberachia dieser Art gibt es ja. Ich konnte mich im „Strauß“-Poem dennoch nicht enthalten, diese „Blickstimmung“ zu erwähnen. Zweifelsfrei ist dieser Ort einer der lyrischsten, den „Riß-Athen“, wie sich die ehemals als Oberamtsstadt firmierende Ansammlung von Gebäuden und Menschen aus stolz-bürgerlichem Mund titulieren ließ und läßt, einem empfindsamen Gemüt anzubieten hat; und er wäre, mit seinen beiden hohen Türmen – Weißer Turm, Gigelbergturm – und dem historischen Gemäuer, das sie verbindet, ihre Akropolis gar?
- Vormittags sonnig, nachmittags zogen rasch graue Wolken auf, aus denen der Regen fiel, bis es Abend wurde; oder nicht einmal ganz so lange. Kühler geworden.
14.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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