KD

13
Sep

13.9.2002

Einige Male in dieser kommunistisch inspirierten Zeit trafen wir von der SDAJ- und DKP-Gruppe zu Wochenendsitzungen in der Wohnung von Hans-Bernd. S. in einem Neubau in Reute, einem Flecken zwei Kilometer westlich von Biberach, in einer Mulde gelegen, zu der aus der Stadt eine verschlängelte Landstraße zwischen den Feldern hinausführt, zusammen. H.-P. war, bevor er sich unserer Gruppe angeschlossen hatte, bei den „Naturfreunden“ Mitglied gewesen und war es nach wie vor; eingetreten in diese Organisation in seiner Heimatstadt G, die sich zwischen Bergkämmen der Schwäbischen Alb erstreckt (in der ich als Knabe mit meiner Mutter zweimal in den Sommerferien bei einer Bekannten meiner Mutter aus dem religiösen Umfeld für zwei Wochen mich aufgehalten hatte). Er war ein netter hübscher junger Mann, jünger als ich, mit langen Haaren, lebhaft im Verhalten und selbstbewußt, dem anderen Geschlecht zugetan. Leider, wie ich ab und zu dachte. An Samstagen, die mir, mit einer Ausnahme, als sonnige Tage im Frühjahr oder Sommer oder Spätsommer im Gedächtnis scheinen, hielten wir sechs, sieben Leute uns in seinen Räumen auf, diskutierten über ein Thema, das ausführlich als an den abendlichen wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Sitzungen in den Nebenzimmern diverser Gaststätten – im „Grünen Baum“ in der engen Schulstraße mit seinem stockkonservativen Publikum beispielsweise oder im „Schwarzen Adler“ (der im Jahrzehnt danach zum „Tweety“, einer Jugendkneipe, wurde), im aufragenden „Gasthaus zum Biber“ am Fuß des Gigelbergabhangs vor den „Biberstäffele“ (einer steilen Treppe hinauf zum Gigele), die im Besitz der „Brauerei Zum Biber“ am Weberberg war – besprochen werden konnte, und wenigstens einmal fuhr ich auf dem Soziussitz des urig-alten Motorrads, mit dem „Kiki“ G. durch Biberach und die Landschaften drum herum brauste, die Hände hinter mir ins Gestänge des Gepäckträgers verkrallt, hinüber in das Dörfchen; die langen Haaren flatterten im Fahrtwind. Wir tranken bei diesen Zusammenkünften in der Regel Bier; ein Kasten wurde herangeschafft, der wurde geleert. Manchmal stand auch eine Flasche Wein auf dem Tisch, um den wir uns versammelten, um die neuesten politischen Ereignisse und Entwicklungen – im Sinn des SDAJ- und des DKP-Vorstandes – zu diskutieren und zu überlegen, wie sie in „konkrete politische Aktionen und bewußtseinsbildende Maßnahmen umgesetzt“ werden konnten; oder einer von uns hielt ein „vertiefendes“ Referat zu einem bekannten Thema, anschließend wurde darüber diskutiert. Es gab auch etwas zu essen; einmal kochte Dieter H., der damals um die fünfunddreißig Jahre alt war und aus Ulm kam, in Biberach zur Arbeit ging, ein linker Gewerkschafter, in den fünfziger Jahren Ostermarschierer, der nicht unseren Organisationen angehörte, aber, trotz ihm wichtiger „inhaltlicher Differenzen“, uns freundschaftlich verbunden war, seine berühmte mexikanische Bohnensuppe, die wir abends – die Unterlagen, Bücher, Papiere, Stifte, Zeitungen, darunter natürlich die „UZ“, das Zentralorgan der DKP, und die Zeitschrift „elan“, die die SDAJ herausgab, waren zur Seite geräumt – uns aus einem großen Topf in die Teller schöpften und mit Weißbrot dazu genüßlich verzehrten. Wir lobten den Koch für diesen politischen Eintopf, der scharf und rot und lecker schmeckte; das Bier – oft „Alpirsbacher Klosterbräu“ – netzte die gereizten Kehlen vortrefflich. Der mexikanische Bohneneintopf mit viel roten Pepperoni darin evozierte auch eine sinnliche Erinnerung: daran, daß so mancher kommunistische Exilant während der Naziherrschaft Aufnahme am Popacatepetl gefunden hatte; darunter Trotzki, dessen „Permanente Revolution“ zumindest ich gelesen hatte, der freilich in einer orthodox-kommunistischen Organisation sehr suspekt, wenn nicht gleich streng verboten war, und wie es angeblichen „trotzkistischen Abweichlern“ in der UdSSR und in der DDR ergangen war, wußten wir; und wir hielten es für grundfalsch. Anders als in den K-Gruppen Usus verurteilten wir den Stalinismus, wir hielten Dschugaschwili für einen Totengräber der sozialistischen Ideen. Uns schwebte ja immer ein freiheitlicher Sozialismus vor, so manches an der DKP belächelten wir nur und fanden es durchaus kontra-produktiv. Den alten Stalinisten, die, aus der KPD-Zeit gekommen 1968 die DKP aufgebaut hatten, nun in der Parteiführung saßen, standen wir insgeheim distanziert gegenüber, äußerten das jedoch nicht in der Öffentlichkeit. Stalin verabscheuten wir, und daß Mercator, einer seiner Agenten, Trotzki den Eispickel in den Kopf gebohrt hatte, gefiel uns auch nicht. Sowieso waren wir gar nicht so verbohrt.
- Sommerlich warm, nicht mehr so drückend heiß. Kondensstreifen und Zirrhusschleier und Haufenwolken über der steinernen Stadt.
13.9.2002

12
Sep

12.9.2002

Eines Freitags im Frühjahr 1975 fuhr ich nachmittags mit dem Zug von Stuttgart nach Biberach und saß bald nach der Ankunft mit den Genossen um den großen ovalen Tisch im „Strauß“ und ließ mir berichten, wie es um die Vorbereitungen für die Solidaritätsveranstaltung für Chile stand. Gut, war zu hören. Die Genossen vor Ort hatten gut gearbeitet. Wir tranken unser Bier, rauchten und besprachen Einzelheiten, gingen dann auseinander, um uns am nächsten Vormittag am Infostand vor der Schranne wieder einzufinden. Flugblätter wurden verteilt, Broschüren lagen aus. Die Jusos und die Gewerkschaftsjugend waren dabei. „Aktionseinheit“ war das Gebot der Stunde. Wir versuchten, Passanten in Gesprächen von den Ereignissen zu informieren. Die meisten machten einen Bogen um uns, einige blieben stehen, mißtrauisch vorsichtig, andere schimpften, andere unterstützten sogar unser Anliegen. Wenige, sehr wenige, von den Älteren. Dafür sammelten sich junge Leute an und viele von ihnen kamen am Abend in die WG-Aula, alter Biberacher Ort linken Geschehens, um sich die beiden Filme anzusehen, die wir für diesen Tag bei einem linken Verleih bestellt hatte; 16-mm-Projektion. Ich legte die Filme ein und saß neben dem Gerät, trank Bier. Die Aula war gut gefüllt. Jemand von unserer Aktion sagte vor dem ersten (Dokumentar-)Film ein paar Worte. Dann sahen wir die Bilder von der Aufbruchstimmung in Chile während der kurzen Tage der Regierung Allende. Nach den Filmen informierten wir das Auditorium über Einzelschicksale nach dem Putsch, soweit wir über sie verfügen konnten. Eine Diskussion schloß sich an. Eine in Chile gebürtige Dame, eine Ärztin in Biberach, deren Name es mir nicht wert ist, auch nur in Initialen hier vorkommen zu dürfen, vertrat jetzt das Pinochet-Regime und verteidigte den wie eine dunkle Nacht über das südamerikanische Land herabgesunkenen Faschismus, der sich Milton Friedmans Rezepte für einen „reinen“ Kapitalismus umgehend zu eigen machte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde all das schnell vergessen, so wie sie in ihrer Anfangszeit viel vergessen wollte. In den achtziger Jahren gelangten kurze, dann auch längere Artikel, in denen die Gräuel der Folterer und Mörder detailliert beschrieben wurden, in einige Gazetten, wurden vergessen. Dann traten die Generäle ab, eine fragile Demokratisierung begann. Amnestie für Folterer und Mörder. Als P. zu Ende der neunziger Jahre in britischer Edelquarantäne saß, gab es Hoffnung, ihn endlich zu erwischen. Aber die stolzen Engländer trauten sich nicht recht, ihn im eigenen Land zur Verantwortung zu ziehen und ließen ihn laufen. Nun schiebt er Senilität vor, der greise Mörder, und verlebt in Ruhe, in Chile, seine alten Tage und seine Rente; wie die alten Mörder von Deutschland es taten.
- Sehr warm, spätsommerlich prächtiges Wetter.
12.9.2002

11
Sep

11.9.2002

Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär unter dem General Pinochet und mit Unterstützung der CIA gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung von Präsident Salvador Allende. Ich hörte am frühen Nachmittag aus dem Radio davon und machte mir sofort Stichworte für ein Flugblatt, das am nächsten Tag in der kleinen Stadt an der Riß verteilt werden mußte. Am Telefon der unteren Mieter vereinbarte ich dann mit dem jungen Genossen Roland A., Auszubildender in einer großen ortsansässigen Firma und nicht aus Biberach, daß ich sogleich zu ihm kommen würde (glücklicherweise war er aus irgendeinem Grund zuhause und nicht in der Firma, und ich mußte das wissen, sonst hätte ich ihn nicht antelefoniert), damit wir gemeinsam dieses Flugblatt ausarbeiten konnten. Warum textete ich es nicht allein? Weil die Genossen bei der ersten Erörterung dieses Vorfalls unverzüglich miteinbezogen werden mußten und weil – aber dessen bin ich mir nicht sicher – bei ihm die Matrizenabzugsmaschine stand und die Matrizen und die nach Azeton riechende Flüssigkeit, die für die Abzugsprozedur benötigt wurden, lagen. Wir waren elektrisiert: faschistischer Putsch in Chile! In flammenden Formulierungen empörten wir uns gegen diesen verbrecherischen Akt. Unsere Gedanken waren bei den Genossen in Chile, wir konnten uns vorstellen, wie es ihnen in diesen Stunden erging. Am folgenden Tag verteilte die SDAJ-Gruppe die Flugblätter auf dem Marktplatz. Die Bürger und Kleinbürger waren an diesen unmenschlichen Vorgängen nicht interessiert und äußerten höchstens ihre Zustimmung zum Putsch. Sowas kannten wir ja. In den Septemberwochen gingen in anderen Städten linke Gruppen und Organisationen, sogar die Jungsozialisten, wenn ich mich nicht täusche, auf die Straße, und hieß der Vorsitzende der Jusos damals nicht Gerhard Schröder? „Freiheit für Luis Corvalan!“, lautete eine der Hauptforderungen auf den Transparanten der DKP und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend. Corvalan war der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles und war sofort ganz im Süden Chiles interniert worden, während gleichzeitig die „Colonia Dignidad“, eine von Deutschstämmigen bewohnte Siedlung, eine der schlimmsten Folterstätten wurde. Damals galt die uneingeschränkte Solidarität den Opfern der faschistischen Diktatur und des USA-Imperialismus, der hinter den rechts-radikalen Offizieren die Fäden zog. Auch ein Herr Dr. K., deutschstämmiger Jude und damals Außenminister der Vereinigten Staaten, war maßgeblich daran beteiligt. Aus Opfern werden zuweilen Täter. Dieser Dr. K. war ein Dr. Seltsam der besonderen Art. Nach dem 11. September 2001 sagte er ja einmal mehr, die USA würden ihre Freunde nach ihrem Verhalten beurteilen. Die Mörder-Generäle schienen demzufolge recht gute Freunde gewesen zu sein. Viele Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, Studenten wurden im September 1973 und in den Monaten danach bestialisch gefoltert und umgebracht. Auch dieser Terror-Krieg war ganz im Sinne der reaktionärsten Kapital- und Regierungskreise in den USA; übrigens wohl auch in der so sehr demokratischen Bundesrepublik. Wenn man nun heute der Opfer des Attentats auf das World Trade Center in New York vor einem Jahr gedenkt, und auch dieses Verbrechen war schrecklich, und wer es beging, weiß man noch immer nicht und will man vermutlich inzwischen auch gar nicht mehr wissen, weil es unschöne Fragen zu seiner Instrumentalisierung aufwürfe, und es wird auch neue Verbrechen gebären, sollte auch der Ermordeten und auf immer spurlos Verschwundenen in Chile gedacht werden; das fällt aber, außer einigen wenigen neben mir, niemandem ein.
- Ein sonniger Septembertag.
11.9.2002

8
Sep

8.9.2002

Zu Beginn des Septembers 1976, einem sonnigen September, wurde in Biberach an der Riß die letzte linke Aktion veranstaltet. Die wurde nicht von der SDAJ-/DKP-Gruppe angeleiert, die es zu dieser Zeit vielleicht auch gar nicht mehr gab, und ich muß das deshalb so schreiben, weil ich seit meiner Rückkehr aus Stuttgart im Herbst des Jahres davor und dem Einzug in die Karpfengasse keine Verbindung mit ihr hatte. (Doch, noch einmal sah ich Genossen von einst, wobei das „einst“ gar nicht so lange zurück lag, aber für mich war dieser Lebensabschnitt klar beendet: Mit Claus M., dem jüngeren Bruder jenes halbgöttlichen Prinz-Eisenherz-Frisur-Jungen, der mir auch gefiel und noch zur Schule ging und mir viele Jahre danach einmal im Kino mit seinen Kindern über den Weg laufen sollte, und wir redeten dann ein paar Minuten miteinander, hockte ich in einem Raum in der Karpfengasse, ein paar Häuser entfernt von meiner Bude, in einer der wöchentlichen Sitzungen – die offenbar doch stattfanden – , in der mir vertraute Gesichter noch anwesend waren, für eine Zeitlang dabei, bis mir das, was gesagt wurde, was beschlossen werden sollte, was ich so und so ähnlich in früheren Jahren selbst so gesagt hatte, doch zu langweilig wurde, und C.M. und ich stahlen uns wieder davon und gingen wie geplant ins Kino.) Ich kann nicht sagen, wann diese „Doppelgruppe“ aufgelöst wurde, wann die letzten Aktivisten einsahen, daß die ganze Chose keinen Sinn mehr abwarf. In der Öffentlichkeit war von der Gruppe nichts mehr zu hören und zu sehen. Aber vielleicht achtete ich auch nur nicht mehr darauf. Ich war mit anderen Problemen, die mein Sexualleben betrafen, vollauf beschäftigt und verspürte grundsätzlich kein Bedürfnis mehr, missionarischer Sektierer zu sein. Die proletarischen Massen hatten keinerlei Interesse für die schönen Ideen und die Überwindung ihrer Entfremdungssituation gezeigt; sollten sie zusehen, wie sie klar kamen. Ich vernahm keine Gewissensrufe wegen meines genießerischen kleinbürgerlichen Spätbohèmelebens. –
Die letzte linke Aktion wurde vom KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, einer seltsamen Vereinigung maoistischer Provenienz, veranstaltet. Im Hauchler-Studio – wir erinnern uns vage, daß seine Existenz mir am Anfang der siebziger Jahre Freunde zugeführt hatte: Manfred S., Falk Ch. B., Gerd K., Gerold A. (der von der Bundeswehr seinen Abschied als Unteroffizier genommen hatte, zur Umschulung nach Biberach geschickt worden war, in Manfreds Agitprop-Singgruppe mitgesungen, im ehemaligen Zimmer von Uli W. gewohnt und nach Abschluß seiner Ausbildung die Stadt verlassen hatte) – lernten 1976 drei Herren die in diesem Institut gepflogenen Erweiterungen der Schwarzen Kunst; einer von ihnen hieß Rolf S., er war der „Chefideologe“ des Drei-Mann-Grüppchens, ein langer dürrer Mensch mit scharfer Nase, der mit einem Mal in Herberts Karpfengassenzimmer saß. In einer Kneipe hatten sie sich wohl gesehen, und unvermittelt wurde Herbert linkspolitisch. Meinen früheren Aktivitäten hatte er nicht viel abgewinnen können. Ich wunderte mich. Die beiden Genossen-Kumpel des Hauchler-Schülers saßen bald auch im Haus. Irgendetwas tat sich. Schließlich hörte ich, daß die Aktion „Freiheit für Zimbabwe“ vorbereitet wurde. Über den KBW hatte ich mich in den Jahren, die hinter mir lagen, nur lustig gemacht, seine politischen Maximen und Doktrinen waren gar zu putzig, und mehr noch traf dies auf den Jargon zu, der dort mit hoher Dosis Emphase und Pathos – einer größeren noch als bei meinen „Orthodoxen“ – abgelassen wurde. (War nicht der jetzige Bundesumweltminister in jener Zeit dort Mitglied?) Ich war nun – wenn überhaupt noch links – „freier Linker“, denn die DKP hatte mich aus ihren Reihen ausgeschlossen (nehme ich an), ich äußerte mich jedoch nicht mit linken Ansichten, ich war auf Abstand zur Weltveränderung gegangen. Ich erklärte mich also zu meiner eigenen kleinen Überraschung bereit, ein paar Handlangerdienste für diese Aktion beizusteuern. Und andere aus dem Freundes- und Szenekreis unserer WG, die mit linker Politik – mit Ausnahme weniger Insassen – nicht eigentlich etwas zu tun hatte, stießen dazu. Nicht weil sie über Nacht links geworden wären, sondern aus jugendlichem Erlebnisdrang. Die Sache war einmal etwas anderes als nur im „Strauß“, im „Rebstock“, im „Schwanenkeller“ zu hocken. An einem milden Samstagvormittag klappte ich mit Markus M. zwei Tapeziertische auf dem Marktplatz aus und das Infomaterial des KBW wurde ausgebreitet. Die ersten Flugblätter gegen das rassistische Regime der weißen Regierung im südafrikanischen Land fanden tatsächlich Abnehmer aus der Passantenschar. Einiges Szenevolk sammelte sich um den Infostand und seine Betreiber an, Grüppchen standen herum, brave Biberacher Bürger verhielten kurz den Schritt und eilten dann weiter, oder ohne kurz zu stutzen, an den „Spinnern“ vorüber. Andere blieben sogar stehen und ließen sich in einen kurzen dialogischen Schlagabtausch verwickeln. In der Nähe des Infostandes war ein quadratisches (oder rundes) Schild auf einer Staffelei aufgebaut, im Schild waren die Konterfeie des weißen Regierungschefs des südafrikanischen Staates (hieß er nicht Smith?) und anderer Reaktionäre aufgeklebt, auf die durften mit handtellergroßen Spielzeugarmbrüstchen (das sollte aber keine Anspielung auf das „Biberschießen“ während des Schützenfestes sein) kleine Pfeile mit Saugnäpfen dran abgeschossen werden. War das nicht richtig militant und revolutionär-gewaltsam? Auch ich Kriegsdienstverweigerer ließ Pfeile losschnellen. Fotos wurden gemacht (auf einem von ihnen ziele ich gerade, angetan mit meiner schwarzen Jacke, und schwarze Hosen trug ich dazu, die sieht man auf diesem Foto aber nicht), von unseren Leuten, von der Polizei. Der „Aufruhr“ war ja vorbei, „68“ halb vergessen; auch die RAF-Terroristen der ersten Generation saßen in Stammheim und anderswo in Einzelhaft hinter Gittern (in meiner Stuttgarter Zeit war ich einmal mit der Straßenbahn am Stammheimer Knast vorüber gefahren). Helmut Schmidts SPD/FDP-Pragmatistenregierung steuerte die Bundesrepublik nach rechts. Wir lebten im Herbst der Rebellion. Auch ich schmetterte das alte KPD-Lied vom Roten Wedding mit der in den ersten siebziger Jahren beliebten neuen Zeile gegen „die Genscherpolizei“ – Genscher war Innenminister – nicht mehr. Am frühen Nachmittag wurden Infostand und Zielscheibe abgebaut und das Transparent mit der kämpferischen „Losung“ kam zusammen gefaltet in einen Karton. Abends spielten zwei zusammen gewürfelte Mannschaften Fußball auf dem Platz oben am Lindele. Wacklig stand der Infostand nebst Scheibe und Losung nun hier am Spielfeldrand. Der Kaffeeausschank – die Einnahmen gingen in den Solidaritätsfond – wurde spärlich frequentiert, die Schriften und Werke zur Revolution – nicht nur die vom Dicken mit der Warze – noch sparsamer gekauft. Wurde etwas verkauft? War nicht mein Bier; das ich aus der Dose süffelte. (Der gepriesene Führer der zimbabwischen Revolution Mugabe entpuppte sich, wie alle Leute solchen Schlages, in den Jahren nach der weißen Regierung als sehr unangenehme Figur und Schwulenfeind; immer, wenn in der Presse etwas über sein Regime erscheint, und ich weiß die bürgerliche Presse nach wie vor richtig zu lesen, erinnere ich mich für zwei Sekunden an jenen Tag im September 1976 und bin froh, daß ich nicht allzu viele Sympathien vergab.) Ich war mit Fotoapparat von der Karpfengasse zum Lindele hinauf gestiegen und hatte das alte Lindelestraßenhaus, das nun saniert war, dem aber seine ockergelbe Farbe gelassen worden war, gesehen. „Vor einem Jahr“, dachte ich, „habe ich hier noch gewohnt.“ Ich fand es doch seltsam, daß ich nun vorbeizugehen hatte.
- Wieder gab es für Berlin einen heißen Sommertag.
8.9.2002

7
Sep

7.9.2002

Am 7. September 1979 gab ich in den Räumen der Töpferei am Weberberg, die dem Geburts- und Elternhaus der Leupolz-Geschwister gegenüber liegt, zu meinem achtundzwanzigsten Geburtstag eine Party; eine Lesungs-Party mit Jazz live. Robert G., mit dem ich über Charles, meinen Zimmernachbarn in der Karpfengasse 24 bekannt geworden war (der nach einem Praktikum in einem Architekturbüro in Rotterdam zu einem Zweitstudium nach Berlin gegangen war), hatte mir in den Wochen zuvor das freundschaftliche Angebot unterbreitet, meine Party doch in seinen Werkstatträumen stattfinden zu lassen. Im Frühjahr jenes Jahres, in dem ich depremiert und äußerst schreibunlustig gewesen war, hatte er mir eines Tages vorgeschlagen: es wäre doch amüsant, wenn er und ich, jeder für sich, kurze Geschichten nach einem Thema, das wir uns wechselseitig stellen könnten, schrieben, so entstünden bestimmt ein paar Texte. Ich ließ mich, nicht ganz überzeugt vom Nutzen dieser Schreibtherapie, auf sie ein. R., ein schlanker junger Mann, etwas jünger als ich, gut aussehend mit langen dunklen Haaren und mit ruhigem Wesen, und ich verfaßten also kurze Texte und überreichten sie bei der nächsten Begegnung einander. Ab und zu kam er ins „Sternchen“ zu einem Film, dann fanden dort die Übergaben statt. Oder ich besuchte ihn in seinem Laden, in dem kunstvoll geformte irdene Gefäße und zierliche Figuren in Regalen und auf Tischen und Fensterborden für die Käufer aufgereiht waren. Die beiden Räume dufteten nach Ton, Lehm, Erde, Holz. Vier oder fünf dieser kleinen Geschichten wurden auf’s Papier gesetzt, eine hatte den Titel „Pfefferminztee bei Gesina von Woyski“, und die las ich am Abend des 7. Septembers im hinteren Raum, und andere. Aber bevor es dazu kam, kauften Charles (der noch vorlesungsfreie Zeit hatte) und ich im strahlend-schönen Vormittag in einem sehr großen Supermarkt im Stadtteil Birkendorf, unterhalb des Talfeldes (auf der Talfeldseite hinter der Straße, die nach Ulm führt, frißt eine Erdwunde am Hang: eine der Kiesgruben nahe der Stadt), alles ein, was an so einem Abend aufgetischt werden mußte. Im Einkaufswagen schob ich Bier-, Wein- und Schnapsflaschen, Salzgebäck, Baguettes, Wurst, Käse, Oliven, Tomaten, Gurken, Butterstücke und dies und jenes zum blauen 2CV-Citroen, den Charles damals fuhr, ein lustiges Automobil, das längst nicht mehr das Straßenbild aufheitert. Meine langen Haarsträhnen baumelten herum, als ich alles im Kofferraum verstaute, während Charles ein Foto von der Szene machte. Es ist natürlich noch bei den Akten. Wir schaukelten – die 2CVs waren gut gefedert und gerieten zuweilen in eine Wippenbewegung – durch die Biberacher Innenstadt zum Weberberg, wo ich die Sachen in einem kleinen Nebenraum zum Vorderraum, der als Ausstellungsraum benutzt wurde, deponierte und mich bald hinauf zum Hühnerfeld fahren ließ. Am frühen Abend, schon etwas angeschickert, aber Törnung hatte ich ja meistens im Kopf, wanderte ich geruhsam durch die spätsommerlich eingetönte Luft, auf Straßen, auf denen ich da und dort links oder rechts abbog; die Rosen blühten ab und andere Blumen und Gewächse gaben mir ihre Düfte ab. Im Nebenraum der Werkstatt bereitete ich die Häppchen zu, schnitt, schmierte, belegte, legte zur Seite. Auf großen Platten stapelten sich die dekorierten Baguettescheiben. Hin und wieder ein Schlückchen Wein dabei, so machte das Spaß. Die Jazzband kam und baute ihr Instrumentarium auf. Markus M. und seine Mannen. Die ersten Gäste traten nach zwanzig Uhr ein und ich bekam Geschenke oder auch nicht und das war auch nicht so wichtig, nur eines: einen guten Abend zu haben. Die Räume füllten sich, zu den Snacks und den Getränken wurde gegriffen, Zigarettenrauch kräuselte zur Decke empor, die Band spielte ein erstes Stück. In den engen Mauern wurde es laut. Das Schlagzeug polterte, das Saxophon schrillte, die Gitarrenriffs jaulten durch die Mauern und die offene Tür hinein in die kleine Stadt. Auf einem winzigen Podest an der hintersten Wand stand mein Tischchen, hinter das ich mich auf den Holzstuhl klemmte und Geschichten ins Mikrofon nuschelte. Ich las vier Texte, darunter auch „Der Wartende“. Jeweils nach einem Stück Lesung legte die Band wieder los, auf deren Musik die Zuhörer sicherlich mehr warteten als auf meine kleinen Zugaben. Stefan K. drückte mir später am Abend sein Geschenk in die Hand: hübsch mit Geschenkpapier umwickelt: ein solider Backstein. „Der Grundstein zu deiner Karriere“, schmunzelte er; dies entsprach ganz seinem ironischen Temperament. Ich nahm ihn dankend entgegen und bewahrte ihn immer sorgfältig auf, aber das mit dem Grundstein funktionierte irgendwie nie. Vor zwei Jahren und einigen Monaten, bei meinem Umzug von der Veteranen- in die Brunnenstraße, gelangte er mir wieder in die Finger, und er wird stets bei den Akten bleiben.
- Sonnig, warm, nachmittags deckten weißliche Wolken eine vorüber wandernde Schicht unter’s Blau. Mild-sonniger Abend.
7.9.2002

5
Sep

5.9.2002

Im Wielandturm, einige Meter vom Hauptgebäude des Schlosses von Warthausen auf der Anhöhe vor einem steil abfallenden bewaldeten Hang abseits gelegen, über dem westlichen Ortsteil der Gemeinde Warthausen – die sich nördlich vier oder fünf Kilometer von Biberach entfernt im Tal der Riß (ein Bach eher als ein Flüßchen, der jedoch Geologen nicht ganz unbekannt sein sollte, gab er doch einem regionalen Erdzeitalter den Namen „Rißeiszeit“) nach dieser und jener Richtung nicht allzuweit ausbreitet – , unter und zwischen hochgewachsenen Bäumen, die im Sommer ihr Blätterwerk in diesem Bereich des ausgedehnten Anwesens ausspreizen und den Weg zum Turm beschatten, war ich zum ersten Mal Ende der siebziger Jahre, oder schon in ihrer Mitte, als U.G., jener, dem jenes Haus- und Hofgelände, in dem 1974 Freunde von mir wohnten, am oberen Ende des Bismarckrings neben dem Autohaus M. gehörte (zweifellos besitzt er es noch immer), im zweiten der beiden Stockwerke, in einem Raum mit quadratischem Grundriß, ein sommerlich-abendliches Fest ausrichtete, auf dem ich mich aber kaum länger als eine Stunde aufgehalten haben mochte. Ich trank nur ein Glas Rotwein, redete small talk mit beiläufigen Bekanntschaften und kümmerte mich nach einer Stunde darum, von jemandem mit Auto in die Stadt zurück mitgenommen zu werden. Zum zweiten und dritten Mal saß ich zwischen den beige-weiß getünchten Wänden, als Mario K. dort wohnte; Mitte der achtziger Jahre. Mario, mittelgroß, dunkelhaarig, mit einem schmalen ansprechenden Gesicht, damals noch von ein paar Zukunftsjahre von seinem vierzigsten Geburtstag getrennt, von zuweilen heftig reagierendem impulsiv-wilden Charakter, mütterlicherseits aus einer berühmten Familie mosaischen Glaubens, von der viele von den Nazis umgebracht worden waren, stammend, väterlicherseits von serbischem Blut, lebte im Wielandturm als Dichter und Angestellter derer von Koenig-Warthausen und führte Besucher, denen die Geschichte des Schlosses und Wielands Beziehung zum ihm etwas sagte und die einmal am Ort sich umsehen wollten, durch die Gänge, Hallen, Räume, ins Wielandzimmer. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts war der schon damals weithin berühmte Dichter, dessen Geburtsort Oberholzheim etliche Kilometer von Biberach entfernt im Oberschwäbischen ein beschauliches Dorf auch heute ist, nach dem Schulbesuch in Biberach und Magdeburg, nach Aufenthalt in Erfurt, Jurastudium in Tübingen und Gast im Hause von Bodmer in Zürich, wo er auch als Hauslehrer wirkte, Senator und Kanzleiverwalter in Biberach und begann 1761 mit seinen Besuchen bei Friedrich Graf von Stadion (einem Günstling des Fürstbischofs von Mainz) und Georg Michael von La Roche, dem Sekretär des Grafen, der seit 1754 mit Wielands erster Liebe Sophie La Roche verheiratet war, auf Schloß Warthausen, wohin er sich gern von der ungeliebten Verwaltungsarbeit im nicht immer dankbaren Biberach in ein eigenes Zimmer zurückziehen konnte und an den Lustbarkeiten eines kleinen Rokoko-Hofes teilnahm. 1769 verließ W. Biberach – „von Biberach erlöset zu sein, wäre Glückseligkeit ...“ – wegen einer Professur in Erfurt, 1772 berief Anna Amalia ihn an den Hof zu Weimar als Prinzenerzieher. Danach Freundschaft mit Goethe, Schiller, Herder etc.. etc., „Teutscher Merkur“, Romane, Erzählungen, Dichtungen.
1986 oder ein Jahr danach, als Klaus L. und ich Mario Katz auf einer Party von Jürgen K., dem Philosophen, zum ersten Mal begegneten (und wenn ich mich nicht irre, war mit ihm der schon sehr alte amerikanische Stummfilmschauspieler Norman P. auf der Party anwesend), war dieser ehemalige Wasserturm des Schlosses, der den Dichternamen trug, Marios Domizil. Das Dorf unterhalb des Schlosses lag nicht in tiefem Schnee, als Leupolz, Thomas G. und ich K. besuchten, sondern im hellsten Sommerlicht, das durch die Blätterdecke über dem Kiesweg funkelte, und wir kamen nicht spätabends, vielmehr spätnachmittags an. Jahre waren seit der Party von U.G. vergangen, aber ich entsann mich des Ambientes, das sich nun während Marios Anwesenheit freilich verändert hatte: Schreibtisch, Bett, kleine und große Schränke innerhalb der eingegrauten weißen Mauern, die vollgestopfte breite Bücherregalwände (mit einer Bücherleiter, denn die Bücherreihen reichten bis unter die Decke hinauf) nicht überall verdeckten, und Bücher lagen da und dort herum; im Raum im zweiten Stockwerk. Wein und Gläser standen auf dem Tisch, über Literatur und das Schloß wurde gesprochen, über Wieland.
- Haufenwolkenlandschaften unter der Ätherbläue. Fast noch heiß. Die Dämmerung ist von 20 Uhr an schon fast ganz dunkel.
5.9.2002

4
Sep

4.9.2002

Die Aufzeichnungen erreichen nun also, wie es mir gestern so unterlaufen ist, die späten siebziger Jahre, aber wir waren ja schon in den achtziger und neunziger. Zeit vergeht, und die zwei Tumoren in den Lymphknoten wachsen. In meinem Alter stirbt mann an Aids, nicht an Krebs. Aber lassen wir das. Oder auch nicht, denn die Furcht vor dem Virus, das keine Moral kennt, hielt mich seit zwanzig Jahren von sogenannten Abenteuern ab. „I live like a monk“, sagte Jean Démelier vor zehn Jahren zu Klaus L. und mir. Auch er war im Alter, das ich inzwischen erreicht habe, wohl auch ein erotisch reduzierter Mann. Ich will ihm das jedoch nicht unterstellen, folgere nur aus seinen verhaltenen Klagen über dieses nicht ganz unwichtige Thema. Die Zeit zwischen Sommer 1978 und Januar 1981 nenne ich für mich „die dunklen Jahre“, und als sie noch währten, empfand ich sie schon als solche. Mein Leben verfinsterte sich stärker, Resignation und Depression fochten mich an, ich zweifelte an meinem Schreibvermögen wie nie zuvor. Wenig Geld, noch weniger als in den Zeiten davor, mit einer ausgeprägten Affinität zum Alkohol (die noch lange andauern sollte), fünfzehntausend D-Mark Schulden, die mir der Status als Hauptmieter der Karpfengasse 24 eingebracht hatte, und Biberach, obzwar etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, war für mich in sexueller Hinsicht Flach- und Niemandsland. Die Nervenkrisen meiner Mutter gingen tiefer. An Flucht war zu denken, sie wahrzumachen unmöglich. Berlin, das war der Fluchtpunkt, von dem geredet werden konnte. Und warum diese Stadt? Keine andere deutsche Stadt konnte je mein Interesse auf sich so heranziehen wie diese, in der sich furchtbar Vergangenes ereignet hatte, in der aber längst das größte Freiheitsversprechen für Männer, die junge Männer mögen, etabliert war. Und Berlin interessierte mich immer auch wegen seiner Vergangenheiten. Schlesien war ja mal preußisch, und da ich sehr viel mehr von meiner Mutter als von meinem Erzeuger in mir habe, ist dieses Stück Unbewußtes womöglich in mir drin? Gibt es den Typus des Oberschwabenpreußen? In dem mehr Oberschwäbisches als Preußisches waltet? Aber Biberach/Riß, oder Biberach an der Riß, wie amtlich der Name lautet, hatte nicht allein an einem Frühlings- oder Spätsommernachmittags des Jahres 197... , der eine bestimmte, monatsbedingte Bewegung von Isothermen und Isotheren über unseren Kontinent brachte, vor, mich nicht so schnell ziehen zu lassen. Wie verwünschte ich an manchen Abenden, und mehr noch in den Nächten, die Enge des Städtchens und demzufolge sein mangelhaftes Angebot an hübschen Jungs! Es war ja nicht auszuhalten! Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, und ich will mich mit dem geschätzten Vers keinesfalls über „die Biberacher Situation“ lustig machen. Denn es gab einen Fluchtpunkt, der näher lag als die große Stadt und mir sehr vertraut war: das Kino.
- Nicht mehr gar so heiß, angenehme sommerhafte Wärme.
4.9.2002

3
Sep

3.9.2002

Im Frühjahr 1978 war ich schon sechsundzwanzig Jahre alt und die Frage „Wie geht es weiter?“ baute sich vor mir auf. Ich nahm sie nicht sonderlich ernst, überlegte mir jedoch, daß ich vielleicht etwas aus meinem schon vieljährigen Interesse für „Film“ machen könnte. Ich forderte mit einem Brief vom 26.10.1978 die Bewerbungsunterlagen der Filmhochschulen in München und Berlin an und mahnte sie, weil sie nicht kamen, am 1.1. und 24.1.1979 noch einmal an. Die Papiere trudelten endlich ein und ich „bearbeitete“ sie, fotografierte das Pissoir im „Alten Haus“; es war wohl irgendetwas Schwules, wofür dieses Pissoir in Biberach gar nicht geeignet war ... Eine Geschichte in zwanzig Fotos oder weniger entstand; die gefiel aber in München nicht und die Texte zu anderen Themen (insgesamt war da wohl auf vier „Themenschwerpunkte“ einzugehen) gerieten bestimmt auch nicht nach den Vorstellungen des dort auswählenden Gremiums. Im Juli kam die Ablehnung. Ich saß in meinem schmalen Zimmer in der Hermann-Volz-Straße und zuckte mit den Schultern. Dann nicht. Ich trank weiterhin Wein und Whisky und marschierte jeden Abend „in die Stadt“ hinunter, zum „Alten Haus“, dessen Namen sich von der grauen unansehnlichen Fassade herleitete, und stellte mich dort an den Tresen. Friedel, der noch junge Wirt, Ende Zwanzig, kannte mich als guten Gast. Fast alle, mit denen ich damals Umgang hatte, gingen inzwischen in diese Kneipe. Sie blieb mein Stammlokal bis 1982.
Irgendwann 1979 verlangte ich dann die Unterlagen der DFFB in Berlin, die wurden mir zwei Monate später zugeschickt. Die Themata, die in Berlin für zeitgenössische gehalten wurden, waren – ganz beendet waren die Siebziger noch nicht – gesellschaftskritisch getönt. Ich schrieb meine Meinung über Fassbinders „In einem Jahr mit dreizehn Monden“ auf ein paar Seiten und füllte auch alles andere aus. Ich würde diesen Text über den Fassbinder-Film nun gerne einfügen, finde ihn aber zur Stunde nicht. Stattdessen fällt mir ein Brief von H.J. Alpers vom 23.5.1979 in die Hände, in dem er auf meine Anfrage – die Verbindung zur den Science Fiction-Kritikern und -schreibern war noch nicht völlig abgerissen und blieb konstanter, als ich vor einigen Monaten zu wissen glaubte –, ob er mir in seiner Eigenschaft als Herausgeber für einen bestimmten Verlag Übersetzungsaufträge vermitteln könne, mitteilt, sein Mitarbeiterstamm reiche aus; „immerhin, wie der Zufall es will, habe ich gerade jetzt ein paar Stories, die SCHNELL übersetzt werden müssen. Ich sende Dir deshalb beiliegend: FOUND (Asimov), CHIMERA (Buckley), THE TAXMAN (Robinett) ....“ Ich machte mich an die Arbeit. Als ich damit fertig war – manche Zeilen hatte ich im Vorführraum des „Urania“-Kinos auf’s Papier gekritzelt – brachte mir der Postmann den ablehnenden Bescheid aus Berlin. „Irgendwann“, das schwor ich mir, „mache ich doch noch einen Film!“
- Das Hochdruckgebiet bleibt über Berlin.
3.9.2002

1
Sep

1.September 2002

Die Tage der chaotisch gewordenen WG in der Karpfengasse waren im Frühjahr 1978 gezählt. Plötzlich hausten Leute in den Kammern des obersten Stockwerks, deren Gesichter mir zwar bekannt waren, über deren Einzug aber nie gesprochen worden war und die nicht zu denen gehörten, die hier etwas zu suchen gehabt hätten. Mir war’s wurscht, ich soff ständig nachts in den Kneipen, war frustriert bis in die Knochen hinein. Endzeitstimmung machte sich bemerkbar: die Mieten wurden nur noch von drei oder vier Bewohnern gezahlt, auch ich hatte wieder kein Geld dafür. Ich fristete mein ungut gewordenes kleines Leben, das hauptsächlich den Kneipenbesuchen gewidmet war (immerhin las ich mit einiger Regelmäßigkeit), von spärlichen Zuwendungen, die meine arme Mutter, die doch selbst nicht viel hatte, mir ab und zu gab. Ich war in meine erste wirkliche Lebenskrise geraten. Wie ging man damit um? Im Mai oder im Juni flatterte die Kündigung des Mietverhältnisses für das Haus auf meinen Schreibtisch. Der ausstehende Betrag war beträchtlich, und mehr als das: astronomisch hoch. Das Gefühl, das sich im Bauch ausbreitete, nennt man „mulmig“. Ein Zustand zartest aufsteigender Irrealität umfing mich für einige Stunden, bis er mit der Unterstützung von ein paar kräftigen Drinks verscheucht war. Ich wußte ja, was auf mich zukam: alle Mietschulden landeten bei mir. „Irgendwie bewältige ich das auch noch“, redete ich mir besänftigend zu. Ich informierte die Hausbewohner. Die, die illegal sich eingenistet hatten, waren am schnellsten wieder verschwunden. Zwei, drei Leutchen gaben mir maulend zu verstehen, ich habe die WG herunterkommen lassen. Ich verwies auf die Mietschuldner, von denen mir einer im Januar frank und frei erklärt hatte: „Ab sofort zahle ich nichts mehr!“ Er war den Murrenden wohlbekannt. Fakt war Fakt; das Haus mußte bis Mitte Juli spätestens geräumt werden. Ich hatte ja das Zimmer in der Hermann-Volz-Straßen-Wohnung, andere machten sich auf die Suche. In den Tagen nach dem Schützenfest klopfte ich – andere Bewohner waren schon fort – bei Heinrich S. wieder an, ob er meinen Krempel transportieren könne. Ich kam wieder bei Muttern unter; was sie nicht ungern sah, nie war sie damit einverstanden gewesen, daß ich „in dieser Bude“ hauste. Mir paßte es nicht, doch mußte ich mich der Notwendigkeit fügen. So verstauten wir meine Möbel im VW-Bus, in zwei Fuhren brachten wir alles auf’s Hühnerfeld und stellten das meiste davon in den Keller, in dem meine Mutter selbst die leeren Pralinenschachteln aus der Lindelestraßenzeit noch aufbewahrte. Bei dieser Aktion war ich natürlich auch nicht sehr nüchtern; ich hatte die Beifahrertür schlecht geschlossen, während der Fahrt schwang sie auf, ich sagte „Huch!“ und Manfred S. – der ein paar Sekunden des Auszugs mit seiner Super-8-Kamera filmte – packte mich eben noch rechtzeitig am Arm und zog mich ins Fahrerhaus zurück, wo wir zu dritt vorne hockten. Panama der Kater hatte sich in jenen Tagen einen Ausflug gegönnt; so ging ich jeden Tag hinab in das nun öde und leere Haus, in dem noch allerlei Kleinkruscht herumlag und zurückgelassen wurde, um ihn in die Finger zu bekommen. Ich machte mir wieder Sorgen um ihn. Tatsächlich erschien er eines sonnigen heißen Tages im Haus, als ich in ihm herumstrich, zu dessen Fenstern Sonnenstrahlen hereinstachen und wie durchsichtige Messer den von meinen Schuhen aufgewirbelten Staub durchschnitten und in dem außer dem Staub nur noch Erinnerungen in den Räumen schwebten. In meinem Zimmer, in dem es eineinhalb Jahre lang nach Katzenpisse gerochen hatte (Katzen und Kater markieren ihren Bereich), und dieses etwas strenge Odeur war geblieben – lag seit Tagen eine große Tasche. Ich packte das gar nicht so leichte Tier und verfrachtete es in die Tasche, ließ den Reißverschluß etwas offen und transportierte den Kater rasch mit dem nächsten Bus zur Wohnung. Sie war nun Panamas neues Zuhause. Nicht lange danach, Ende Juli, spazierte ich in einem Sommertag hinab zur Stadtmitte zum Büro des Hausbesitzers, der im Grunde, als Eigentümer einer kleinen Baufirma, ein Faible für „Lebenskünstler“ (gehabt) hatte, und übergab die Schlüssel. „Da wohnt aber noch immer einer!“, schnaufte er kurzatmig. „Der muß ganz schnell raus, sorgen Sie dafür!“ Ich wußte von nichts. Es stellte sich heraus, daß Manfred als einziger der alten Mannschaft oben unter dem Dach mit seinen Tieren geblieben war. Er fand keine Unterkunft, arbeits- und mittellos, wie er war. Wenn ich mich richtig entsinne, blieb er sogar noch bis in den August hinein, bis er endlich eine neue Bleibe gefunden hatte. An einem der Nachmittage, in denen ich auf Panama den Kater gewartet hatte (eine Schüssel mit Futter und eine mit Wasser wurde täglich aufgefüllt), war ich mit meiner Instamatic durch die Räume gegangen und hatte fotografiert; die Reste von fünf Jahren Freakleben. Diese letzten Dokumente einer freien Zeit wurden dann im Fotoladen irgendwann einmal fortgeworfen, denn ich hatte nie genug Geld, um sie abzuholen. Warum habe ich nicht einmal auf ein paar Gläser Wein verzichtet? Heute bedauere ich, diese Fotos mir nicht vorlegen zu können und ärgere mich über meine Wurschtigkeit.
- Nach wie vor sommerlich.
1.September 2002

31
Aug

31.8.2002

Der junge Rauschgoldengel, der zwanzig Jahre früher im Mai 1976 eines Abends vor meinem Schreibtisch saß (auch er), war der Typ, dem ich im Sommer zuvor die langen Haare zerwühlt hatte. Er rauchte eine Zigarette und sagte: „Freunde können wir werden, aber Sex ist nicht drin.“ Ich nahm es zur Kenntnis und wollte ihn dennoch kennenlernen. „Von was lebst du eigentlich?“, wollte er – auch er, meine Existenzform ließ wohl solche Fragen aufkommen – wissen. Er sah die rote IBM, die vor mir auf der Schreibtischplatte behäbig ruhte. Ich tätschelte sie und entgegnete: „Schreibe ab und zu etwas.“ „Honorare?“ Ich zuckte, von dieser unangenehmen Frage gestört, die Schultern. „Manchmal“, war die Antwort. Es stimmte ja. Manchmal hatte ich für das Geschriebene Geld erhalten. Das letzte Mal, daß dies wahr geworden war, lag allerdings ein Jahr oder länger zurück. „Ich warte in diesen Tagen auf meine Bafög-Nachzahlung.“ „Aber du studierst doch nicht.“ „Nicht mehr.“ Die Rückmeldefrist für das Sommersemester war abgelaufen. Der junge Typ war neugierig. Ich erzählte, vom Wein animiert, eine ganze Menge, er trank wenig. Was er sagte, machte mir klar, daß er was im Kopf hatte. Das war schon mal etwas. Mal sehen, was daraus wird, dachte ich, als er ging und vor dem Karpfengassenhaus auf sein Mofa stieg. Wir sahen uns dann hin und wieder, auch im „Strauß“, mir war es angenehm, mich mit ihm zu unterhalten, sein schnelles Denken fand ich nicht weniger attraktiv wie sein Äußeres; zuweilen ging er mir auf die Nerven, wenn meine erotische Unruhe ins Leere laufen mußte. Viel wurde daraus nicht. Er wurde – leider – mein Favorit, allerdings nur in platonischer Weise. Viel sagen ließ er sich auch nicht. Auch er stammte aus gehobenem Hause und das trat aus jedem Satz hervor. Besonders „progressive“ Ansichten hatte er nicht, was mich immer wunderte, denn mir war unverständlich, wie man als intelligenter junger Mann sich in reichlich konventionellen Strukturen wohl fühlen konnte. War auch das nicht ein Zeichen dafür, daß die linke Zeit der Siebziger in Agonie lag? Noch fünf Jahre zuvor wäre er (vielleicht) bei Demos mitgelatscht. Später schaffte er sich eine Freundin, die ein paar Jahre älter als er war, als er noch immer zur Schule ging, an, was meine ersten Eifersuchtsgefühle evozierte, die ich gelegentlich schlecht im Griff hatte. Einmal waren beide bei mir, in der Zeit, in der ich das große Zimmer bewohnte; sie begannen vor meinen Augen mit Zärtlichkeiten, und für einen flotten Dreier war ich nicht zu haben, ich schmiß sie wütend raus. Sie nahmen mir das aber danach nicht übel, im März 1978 grillten wir zu dritt im noch nicht warmen Sonnenlicht vor der Stadt und auch in die Wohnung dieser Freundin wurde ich, in kleiner Runde, zum Essen eingeladen, zu der Zeit, als das „Sternchen“ schon eröffnet war und ich einmal nach so einem Essen dort in der Zwanzig-Uhr-Vorstellung saß. Er schrieb mir Postkarten aus den USA und Frankreich, trennte sich von der Freundin, die die Stadt verließ, machte sein Abitur; meine Gefühle waren abgeflaut, endlich, und als er zum Studium ging, war auch diese manchmal für mich schwierige Freundschaft Vergangenheit geworden.
- Sommerwetter, nachmittags der blaue Äther stärker von Wolken abgedeckt.
31.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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