KD

30
Aug

30.8.2002

Valérie fuhr mit dem Zug, ich mit Bruno B. nach Berlin. Schon seit 1993 hatte mir Stefan Heidenreich, der jüngere Bruder von Ralph H., den ich 1988 in Biberach über Mario K. kennen gelernt hatte, seine Wohnung im fünften Stock im Hinterhaus Alte Schönhauser Straße 19 (mit Ausblick auf die Berliner Dächerlandschaft) als Logis für meine knapp einwöchigen Urlaube in Berlin angeboten, die ich – auch nicht jedes Jahr in den Neunzigern – im Frühjahr, Sommer, Spätsommer in der Hauptstadt genossen hatte, und zu Stefan fuhren Bruno und ich nun auch Mitte Juli 1996, bei ihm, in der noch unsanierten Wohnung eines ehemals besetzten Hauses, war unser Basislager für die dreitägigen Dreharbeiten. Schon in davor liegenden Jahren war ich mit Bruno nach Berlin gefahren, denn die Fahrt mit dem Benz war unvergleichlich billiger als mit der Bahn. Am späten Nachmittag im Juli parkte er das Auto in der Alten Schönhauser, wir griffen uns die Bestandteile unseres Gepäcks und Equipments und trugen alles die steile Treppe hinauf. Am nächsten Tag (Valéries Aufenthaltsort war ebenfalls in dieser Wohnung) fuhren wir zum Rosenthaler Platz und Bruno stellte den Benz ein paar Meter weiter in der Brunnenstraße ab.Wir drehten Material für die Anfangssequenz unseres Films, wie die Straßenbahnen der beiden verschiedenen Linien sich auf dem häßlichen Platz kreuzten. Das dauerte wieder einige Zeit, bis V. zufrieden war. Um uns brauste der Verkehr, schlichen die Passanten vorüber. Dann nahm V. die Kamera vom Stativ, ich verkürzte dessen Beine und trug es ihr hinterher. Dann machten wir Aufnahmen im Innenhof eines noch immer besetzten und völlig heruntergekommenen Hauses, filmten Graffiti und Müllcontainer und ein rot angemaltes Fensterkreuz in der Fassade. (Auch heute ist dieses Haus nicht saniert und noch bewohnt.) Wir kehrten zum Auto um, das vor dem Eingang zu diesem Hof stand. Bruno erschrak: war es das Fenster auf der Beifahrer- oder auf der Fahrerseite, das halb herunter gekurbelt offen stand? Bruno schloß auf, alles im Auto war in Ordnung. Er und ich atmeten auf. „Das wär’s noch gewesen, wenn mir das Auto geklaut worden wär“, sagte er, für den Moment verärgert. Er hatte sowieso schon in Biberach mit Valérie Ärger gehabt und sich von den Dreharbeiten, für die ich ihn ganz zu Anfang hinzu gezogen hatte, weil auch er ein Filmkenner war, im Juni endgültig absentiert, nur die Fahrt nach Berlin nahm er mir zuliebe noch auf sich. Dann waren für diesen Tag die Drehs beendet, V. nahm sich für Berlin frei. Am dritten Tag stiegen sie und Bruno von der Wohnung hinauf auf das flache Dach und V. filmte von oben, wie ich unten mit einer orange-farbenen Reisetasche durch den kleinen Hof ging: Lost verließ seine Behausung und ging auf ungeliebte Lesereise. V.s Oberkörper mit der Kamera ragte über den Dachrand, der große kräftige Bruno hielt sie an den Beinen fest. „Laß sie bloß nicht fallen“, hatte ich, in Abwesenheits V.s, zu ihm gesagt, „wir brauchen sie noch.“ Anschließend fuhren wir über den Prenzlauer Berg weit hinaus in den Osten, zur Rhynstraße, wo wir an einer Kreuzung weiterdrehten – „sieht aus wie in Rußland“, sagte Monate später beim Einsatz des Films im „Sternchen“ einer der älteren Zuschauer, was ich hörte, weil ich in dem Winkel, den einer der Pfeiler entlang des schmalen Ganges links, hat, stand – , wo wir die bunten Wohnblocks nach Osten hin, die von Mahrzahn, zu Bildern machten, und vor dem S-Bahnhof Lichtenberg, auf der Brücke, die dort die Fahrbahn bildet, filmte V. in Richtung Fernsehturm; der Verkehr flimmert im Film im Dunst eines Sommervormittags vorbei. Am Nachmittag vor der Abreise sollte noch Losts Einstieg in den Zug im Bahnhof Zoo gefilmt werden. V. fuhr wieder im Zug zurück, auch deshalb, weil sie aus dem fahrenden Zug heraus aufnehmen wollte. V. drehte in dem Zeitschriftenladen, der viele Jahre an der Ecke vor dem Bahnhof an der Hardenbergstraße in der sich dort befindenden Ladenzeile die Druckerzeugnisse aus aller Welt verkaufte, wie Lost eine Zeitung für die Reise erwirbt. Als wir dann auf dem Bahnsteig standen und filmen wollten, war der Akku leer. Und in wenigen Minuten fuhr der Zug ab. Ich hastete zu Brunos Auto vor dem Bahnhof, aus dem Kofferraum entnahmen wir die anderen, glücklicherweise aufgeladenen Akkus, ich eilte zum Bahnsteig. Schnell stellte ich einen Schuh auf das Waggontrittbrett, einmal, zweimal, Großaufnahme. Die Ansage, daß der Zug nun abfahre, schallte durch die Halle. Schnell stieg Valérie ein, ich winkte kurz und kehrte um. Während der ICE mit V. noch durch Berlin fuhr, steuerte Bruno über die Potsdamer Straße Schöneberg an. Fuhren wir in Berlin ein, kamen wir immer über die Bundesstraße 1, und auch für die umgekehrte Richtung bis zur Autobahn vor dem früheren Kontrollpunkt Dreilinden nahmen wir sie. Auf der Autobahn drückte Bruno auf’s Gas, wir jagten nach Biberach.
Im Dezember 2001 fiel mir etwas auf, und ich schrieb wieder davon für die Biberacher:
"BC, Brunnenstraße 23
Klaus-Dieter Diedrich spekuliert über das „BC“-Sgraffito in der Berliner Brunnenstraße.

Wer hat das nicht schon erfahren: man geht durch eine Straße, eine Stadt, und der „mitlaufende“ Blick bleibt plötzlich an einer Stelle irgendwo im topographischen Gefüge hängen. Etwas irritiert, oder hat das Interesse tieferliegender Bewusstseinsschichten erregt, und erst das dann absichtsvolle Hinsehen verdeutlicht die Situation. Etwas „fiel einem ins Auge“, vielleicht zeigt sich etwas Vertrautes in einem ungewohnten Zusammenhang, den man so oder an solchem Ort nicht vermutet hätte. Dieser Augenblick, im Sinn des Wortes, wirkt wie ein kleiner, feiner Schock, der das im Grunde längst Vertraute in ein Licht rückt, das aus einer rätselhaften Quelle scheint.
Vor einiger Zeit ging ich von meiner Wohnung zur Strassenbahnhaltestelle und mein Blick, der nicht nur mir stets ein wenig voraus ist, schlenderte zur anderen Straßenseite, schweifte weiter, stockte, kehrte um. BC steht dort geschrieben, registrierte er. Zwei große, fette Buchstaben an einem der unansehnlichsten Häuser der Straße: BC. Noch nie zuvor waren sie mir aufgefallen. In jenem Moment jedoch musste ich innerlich bereit gewesen sein, sie wahrzunehmen; hatte plötzlich mein Biberachbewusstsein, das sich in Berlin vernachlässigt fühlte, eine Chance „gesehen“, schnell mal wieder berücksichtigt zu werden?
Bei genauer Betrachtung sah ich nun die kleine Schrift über dem Kaugummi- und Krimskramsautomaten. Dieses Ding erinnerte mich sofort – die Sinnmaschine begann anzulaufen – an jenen Kaugummiautomaten, der viele Jahre lang am unteren Ende der Biberacher Königgasse an einer Hauswand hing, hinter der sich in den ersten Siebzigerjahren am Marktplatz eine Spielspelunke mit Flipperautomaten und Tischfußballgeräten befand, die ich fast täglich frequentierte. Die kleine Schrift an dieser Berliner Wand, wie zur Bekräftigung: „BC 99“, ein Pfeil daneben weist nach vorn, ein anderer Krakel ist unleserlich. Eine Signatur?
In der Malerei und in der Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es den Begriff und die Gattung des Magischen Realismus, der, für die Malerei, 1925 vom Kunsthistoriker Franz Roh eingeführt wurde. Diese Form der Kunst widmet sich zwar der gegenständlichen Welt, verzichtet jedoch darauf, sie wirklichkeitsgetreu, realistisch zu formen. Im Banalen, Nüchternen und Objektiven wird das Geistige und Unheimlich-Unerklärliche zu erfassen versucht. Die Literaturtheorie definiert den Magischen Realismus als „ausgebildete moderne Form des Realismus, die die konkreten Erscheinungen, Bilder und Figuren der Wirklichkeit als Chiffren eines geheimen Sinnes, Symbole des Elementaren auffasst und den realistisch hergestellten Befund ins Innere umschlagen lässt zu einer seltsamen metaphysischen Transparenz“, so G. von Willperts Sachwörterbuch der Literatur.
Urplötzlich enthüllte sich mir das Sgraffito als ein „Zeichen an der Wand“ - Berlin hat ja etwas Babylonisches. Welches Menetekel hatte der unbekannte Sprayer verkünden wollen? BC: Be cool, Berlin Capital, Baby Cinderella, die Initialen seines Namens? War ihm etwa das Autokennzeichen des Landkreises Biberach bekannt gewesen? Ziemlich ausgeschlossen, hier in Berlin-Mitte. Was der Sprayer übermitteln wollte wirst du nie ergründen, sagte ich mir. Oder doch?
Südlich mündet die Brunnenstraße in den Rosenthaler Platz, wo 1996 die Anfangssequenz des Films „Lost in Illusions“von Valérie Lasserre und mir gedreht worden war, aus der hervorgeht, dass der Protagonist Lost in dieser Gegend wohnte. Damals hatte ich freilich „nicht im Traum daran gedacht“, dass ich selber, der ich im Film den Schriftsteller Lost darstellte, eines Tages gerade hier wohnen würde ... Von der Brunnenstraße führt die Veteranenstraße hinauf zum Prenzlauer Berg. 1999 war ich, aus Biberach kommend, zunächst in die Veteranenstraße gezogen. Um die Ecke stand, vermutlich, schon dieses „BC 99“ mit dem Pfeil nach vorn.
Als ich aus der Tram stieg, hatte sich das dunkle Menetekel also aufgehellt. Jemand – und wer war dieser sprayende Hauptstadtprophet? Lost in Nacht und Nebel? – hatte eine Beschwörungsformel hier angebracht, die besagte, dass 1999 ein Weg „nach vorn“ aus Biberach fortführen würde. Für wen oder was geht zunächst nicht aus ihr hervor; aber man hatte mich ja schon 1996 und auch in den Jahren danach, während meiner Berlin-Besuche, in diesen Straßen gesehen, in denen auch von Biberach geredet wurde. Jedenfalls hatte jemand etwas geahnt, oder provoziert.
Jemand? Nein. Berlin selbst hatte die Lockung an eine seiner Wände geworfen, um mich auch wirklich anzuziehen – nachdem die Stadt meine Absicht, hier leben zu wollen, aus meinen in der Luft schwebenden Gesprächen gehört hatte. Die beiden Großbuchstaben dienten als Blickfang für jenen Augenblick, der mir das Sgraffito zukommen lassen würde, denn ich sollte es eines Tages sehen und enträtseln, um zu wissen, dass Berlin mein Vorhaben mit einer magischen Botschaft unterstützt hatte.
So baut man sich die – imaginäre – Welt, in der das Wünschen noch stets half.“


- Keine nennenswerte Witterungsveränderung.
30.8.2002

29
Aug

29.8.2002

In der nordwestlichen Ecke (auch vor ihr stapelte sich das Baumaterial), im Sand des wie ausgeschlachtet wirkenden Hohlraums des Erdgeschosses standen nun die Scheinwerfer und leuchteten die Ecke aus; vor die rohe staubige Backsteinmauer war ein Hocker in den Sand gestellt worden, und diese Mauer war für das kerkerhaft-krude Ambiente, das Lost umgeben sollte, genau die richtige Deko. Es dauerte wieder eine Weile, bis das Licht so fiel, wie V. es wünschte. Ich saß abseits, schon etwas erschöpft, es ging auf vier Uhr zu. Im höhlenhaften Museum roch es nach Alter und Bau. Wie unbeteiligt sah ich den Vorbereitungen für die zu drehende Szene zu, sinnierte in mich hinein. Ich saß auf einem kleinen Holzstapel; Achim, der Standfotograf, blitzte Aufnahmen vom Set. Raphael ging vorbei. „Ich muß jetzt gehen“, sagte er leise mit seiner schönen Stimme. Ich dankte ihm, daß er so lange Ausdauer gezeigt hatte. Der Junge mußte in wenigen Stunden zur Schule und jetzt noch nach Äpfingen, zu einer kleinen Ortschaft nördlich von Biberach, radeln. Ich sah ihm versonnen nach. Auch andere vom Team und auch die Darsteller der „linken Gruppe“ waren längst gegangen. Ich hatte es aufgegeben, V. davon zu überzeugen, daß wir alle inzwischen müde waren und daß die Aufnahmen nun nichts mehr erbringen würden. Sie wollte aber diese Szene unbedingt noch filmen. Dann war die Reihe an mir, auch einmal etwas Produktives beizutragen. Ich zog das Hemd aus, das Unterhemd, setzte mich auf den Hocker, ließ die langen Haare verzweifelt-resigniert vom gesenkten Kopf hängen; übte das mehrfach. So schwer fiel mir das nicht. Herbert, immer noch Mephisto, stand seitlich hinter mir, schlug mir spöttisch eine Haarsträhne zurück, während er – ich sah es in diesem Augenblick nicht, wußte aber, wie es aussehen mochte – sardonisch grinsend mir seinen Text, Mephistos höhnische Sentenzen, ins rechte Ohr säuselte. Erster Take, zweiter Take, dritter ... Mich fror auf sehr unangenehme Weise. Ich wurde ungehalten. Valérie stand gebeugt hinter der auf das Stativ aufgesetzten Kamera und wollte immer noch eine Aufnahme mehr. Ich wurde wütend, erhob mich plötzlich, brüllte: „Mein Hemd!“ Jemand von den im Halbdunkel außerhalb der Szene Stehenden reichte es mir, ich zog es über. Valérie protestierte. „KD, wir müssen das noch machen!“ „Ich friere, verdammt noch mal, und ich habe keine Lust dazu, mich zu erkälten, das ist der Sache nicht dienlich, wenn ich demnächst ausfalle!“ Solche Worte, und noch einige dazu, schleuderte ich von mir. Die Umstehenden sahen betreten drein. „Noch zwei Takes, dann ist aber Schluß!“, befahl ich herrisch, zog das Hemd aus, hockte mich hin, Herbert stellte sich wieder in Positur. Rasch waren nun die beiden Aufnahmen beendet; ich zog mich an und sah sehr wohl, wie sauer „meine“ Regisseurin war. Das Team beeilte sich jetzt, alles abzubauen, hinaus zu tragen in einen schon hell aufdämmernden Morgen. Das geschah, ohne daß viel geredet worden wäre. Mein Auftritt war wohl unpassend gewesen. V.s Freund, der als „Supervisior“ auch bei anderen in jenen Wochen entstehenden Filmen des städtisch/baden-württembergischen Kulturprojekts behilflich war und in dieser Nacht beim Lichtaufbau geholfen hatte, und der mir in einer Januarnacht von 1996 auf dem sonst menschenleeren Marktplatz der Stadt zugesichert hatte, daß ich Ausschnitte aus seinem Film, in dem der brennende „Strauß“ zu sehen war, haben könne, fuhr mich vor den Wohnblock auf dem Hühnerfeld. Ich sagte ihm, daß ich wüßte, daß mein Verhalten vorhin Valérie wahrscheinlich nicht gefallen hatte; ich würde sie nachmittags anrufen. Er meinte, das sei vielleicht eine gute Idee. Mit dem Lift stieg ich hinauf in den fünften Stock und legte mich ins Bett. Am späten Nachmittag stand ich in der Telefonzelle am Eingang zum Mali-Weg – zwischen Mali- und Braith-Weg rinnt der von steilen Böschungen gesäumte „Ratzengraben“, vor und auf dessen abfallenden Wänden im Jahr 1996 noch mehr Bäume und Sträucher als im inzwischen renaturierten Zustand ihr Blattwerk verbreiteten – und versuchte, Valérie mit einer Entschuldigung zu besänftigen; aber ich hörte nur das Freizeichen und nicht ihre Stimme.
- Stetige Hitze, blauer Äther, blaßweiße Wolken.
29.8.2002

28
Aug

28.8.2002

„Wir drehen die Szene jetzt, die Atmosphäre hier inspiriert mich!“, sagte Herbert Meise mit Nachdruck neben mir. Unwirsch hatte ich davon gemurmelt, die zwei noch vorgesehenen Szenen an einem andern Abend abzudrehen, um dem finster-hallenden Gebäude entfliehen zu können. Das war, ich sah es ja auch ein, nicht vernünftig. Nach Herberts Entgegnung schickte ich mich also mürrisch darein, daß die Nacht lang werden würde. Der Set wurde an die Südwand des Stockwerks verlagert. Hinter Baumaterialhaufen aus Balken und Brettern stellten die Lichtleute die Scheinwerfer auf eine uralte Balkenkonstruktion, in die sich Herbert zur Lichtprobe hinaufsetzte. Sabine hatte seine Mephisto-Maske perfekt gestylt, geschminkt und mit Hörnchen in den schwarzen Gel-Haaren versehen, schmal- und scharfgesichtig hockte H. mit mephistophelischem Lächeln auf dem dicken Balken. Valérie sah durch den Kamerasucher. Nach mehrmaliger Positionskorrektur ging’s los. Erster Take, Raphael schlug die Klappe. „Du bist gescheitert, gesteh’s dir ein! Was mich erheitert! Nun bist du klein!“ Die Worte von Losts ganz persönlichem Teufel kamen scharf akzentuiert über die schwarzen Lippen. Das wiederholte sich ein paar Mal. Beim letzten Take pustete Herbert zu einem Lost endgültig den Niedergang verheißenden Spruch die flaumigen Federn, die er vor der Aufnahme in die Handflächen bekommen hatte, mit einem dämonischen Mephistogrinsen davon. Das war das Ende des Films; am ersten Drehtag aufgenommen. Und fast hätte dieser Teufel mit seinem zynischen Gerede vom Scheitern Losts ja auch recht behalten; denn diese allererste Drehnacht schon hatte das Filmprojekt an den Rand des Mißlingens gebracht; und ich, der ich den Lost gab, wäre daran schuld gewesen, wenn es so gekommen wäre.
Mitternacht war vorüber, die Dreharbeiten dauerten an. Valérie nahm ihren Job sehr ernst, ich wurde inzwischen ernsthaft säuerlich, obwohl ich sah, daß etwas heranwuchs. Schaudernd dachte ich daran, daß ich in der nächsten, der dritten in dieser Nacht zu drehenden Szene mit nacktem Oberkörper die Aufnahmen über mich ergehen lassen mußte. Die Dreharbeiten im oberen Stockwerk waren beendet, das Team schleppte die gesamte Ausrüstung und Ausstattung die zitternde Treppe hinab. Zumal der Tisch in der Morgenfrühe abtransportiert werden mußte. Ich sah ja, daß ich nicht der einzige war, der unter den niedrigen Temperaturen zwischen den alten Mauern leiden mußte, und niemand beklagte sich. Doch ich kann Kälte nun einmal schlecht ertragen. Auch aus einem anderen Grund war ich schlechter Laune: ich hatte mir von Valérie noch einmal en passant anhören müssen, ich solle mich mit meinen Regieeinfällen bitte zurückhalten. Und das gefiel mir nicht.
- 30° C.; nach 20.30 Uhr Gewitter, das aber nicht richtig nach Mitte gelangte. Etwas Regen.
28.8.2002

27
Aug

27.8.2002

Am Abend vor zwanzig Uhr des Montags nach dem vorletzten Juniwochenende im Jahr 1996 ging ich zum Braith-Mali-Museum in der Innenstadt, das in jener Zeit saniert und neu ausgebaut wurde; ich ging zum ersten Drehtermin des Films, den ich mir ausgedacht hatte. Das Team war, ohne Valérie und mich, schon mit einigen Vorbereitungen beschäftigt gewesen, die auch den Transport des Equipments und der Ausstattungsutensilien in die Höhe des dritten Stockwerks dieses alten Gemäuers umfaßten. An die provisorische Bautür führte ein breites Brett als Ersatz für Treppenstufen oder einer gemauerten Schräge heran, und über dieses Brett wurde alles, was an Gegenständen für den Film im Hof abgelegt worden war, neben anderem die schweren Beleuchtungsteile für das Filmlicht, in einen weiten, dunklen, von ein paar Baulampen notdürftig erhellten Raum mit aufgerissenem und sandigem Boden (und in diesem großen Raum standen viele Baumaterialien) geschleppt und eine aus einfachen Brettern ohne Geländer zusammengezimmerte Bautreppe, die sich mit Treppenabsätzen aus der Mitte des Raums in Zickzacklinie nach oben streckte, hinaufgetragen. Die Treppe federte unter jedem Tritt. Die Team-Mitglieder, die, wie alle Darsteller, unentgeltlich schufteten, waren fleißig und unermüdlich, und als Valérie eintraf (ich unterhielt mich mit zweien der Darsteller über ihre Rollen), war alles auf den ebenso schwingenden, für Bauzwecke eingezogenen Bretterboden im hohen Gewölbe des dritten Stocks unter dem Dach hinaufgebracht worden. V. und ich begutachteten den Set: vor einem Dachgaubenfenster stand ein hölzerner Wirtshaustisch, um ihn waren etliche einfache Stühle gestellt worden und daneben, außerhalb dieses Drehorts, ein Kasten Bier, und soeben dekorierte Sabine den Tisch mit Aschenbechern und Biergläsern. Allmählich war für den Dreh alles fertig. Die jungen Mitglieder der „linken Gruppe“ nahmen am Tisch Platz, Bier wurde in die Gläser gefüllt, V. erteilte Instruktionen, hockte sich schließlich – Raphael malte die Einstellungsnummer auf die Holzklappe – hinter ihre Hi8-Videokamera, alles Reden erstarb neben und hinter mir; Raphael sagte die Einstellungsnummer, schlug die Kappe vor der Kameralinse; „action!“ Es brauchte mehrere Wiederholungen der Szene (die eine Sitzung der linken Gruppe im „Strauß“ darstellen sollte, doch nie tagten wir von der SDAJ und DKP im „Strauß“, dort trafen wir uns nur zum geselligen Beisammensein), bis die Regisseurin zufrieden war. Im ausgehöhlten Gebäude war es kalt, nur halbwarme Tage und kühle Regennächte hatten das ausgedehnte Museumshaus auskühlen lassen, und mich fror ständig. Ich nahm Martin Heiligs Ledermantel, den er, wie eine Schlaghose und T-Shirts aus den Siebzigern, der Produktion ausgeliehen hatte, und hängte ihn mir über die Schultern, über die Lederjacke, die ich sowieso schon trug. Ich bin kälte-empfindlich. Außerdem war meine Laune angekratzt, denn Valérie ließ sich nicht viel von mir sagen. Wir hatten Co-Regie vereinbart und ich merkte schnell, daß das nicht funktionierte. Der Film war doch meine Idee! Ich nahm es hin, weil ich sah, daß etwas geschaffen wurde, das aus meiner Phantasie und meiner Erinnerung entstand; und freute mich ja doch. Der „Strauß-Film“, so hieß das „Projekt“ vorläufig in Ermangelung eines besseren Titels, wurde gedreht! Die „linke Gruppe“ setzte sich aus den Realpersonen Philip Kühn, Markus Kimpel, Ralf Heidenreich, Klaus Grimm – aus Konstanz, er spielte den Gruppenhäuptling – und seiner Freundin, deren Namen ich vergessen habe und der nun aus dem Nachspann des Film zu sehen wäre, hätte ich einen Videorecorder und sähe ich den Film jetzt an, zusammen, und der Tisch, an dem sie tagte, ähnelte natürlich nicht im entferntesten an einen der „Strauß“-Tische. In der Szene wird ein Genosse der Gruppe, der am Sinn der Zusammenkünfte zweifelt und der mehr Zeit für seine anderen intellektuellen Bedürfnisse haben will, von den anderen Gruppenmitgliedern rhetorisch niedergemacht, wobei Philip Kühn, wieder ein hübscher junger Mann, der mir natürlich gefiel, den Wortführer spielt. Und auf diese Weise war es in unserer wirklichen Gruppe freilich nicht zugegangen. Zwei Stunden hatte es gedauert, bis diese eine Szene endlich abgedreht war. Mich fror, und der Tee ohne Rum wärmte mich kaum. Meine Stimmung verdüsterte sich.
- Sommer wie gehabt.
27.8.2002

26
Aug

26.8.2002

Im August 1996 drehten Valérie Lasserre und ich die letzten Szenen unseres Films „Lost in Illusions“, assistiert von Sabine R., die für die Ausstattung zuständig war. Sabine, gelernte Dekorateurin, die in den achtziger Jahren in München für die damals berühmte Gruppe „Münchner Freiheit“ das Bühnenbild erstellt hatte, war zwei Tage, bevor Valérie und ich den Nachtdreh hinter uns brachten, beim Chefdekorateur des Kaufhauses X – so hieß es wirklich, letztes Jahr wurde es geschlossen – vorstellig geworden, mit der Bitte, am Abend, für den der Dreh geplant war, die breiten hohen Schaufenster an beiden Fronten, zum Parkplatz und zur Saudengasse hin und entlang des Bürgersteigs der Rollinstraße, länger als üblich beleuchtet zu lassen; denn wir wollten unsere Aufnahmen nach zweiundzwanzig Uhr drehen, weil wir auch das große Ziffernblatt einer Normaluhr, die nur wenige Meter vom Kaufhaus entfernt steht, mit seiner Zeitanzeige brauchten und ihre Zeiger mußten im Film aus bestimmten Gründen des Anschlusses an die Geschichte, die er erzählt, eine Zeit nach zweiundzwanzig Uhr angeben. Wir trugen Stativ, Videokamera, Kabel von der Wohnung in der Innenstadt, in der Valérie bei ihrem damaligen Freund U. Stöckle, einem Journalisten und Filmemacher, lebte, vor das Kaufhaus und begannen mit dem Dreh. Im Licht der Schaufenster gucke ich in diese hinein, was allmählich mit Musik unterlegt ist (wurde natürlich später hinzugefügt). Das Kameraauge guckt – mein subjektiver Blick, der Blick des Filmprotagonisten – die Normaluhr an. Dann männliche, stumme Schaufensterpuppen. Ich wußte nicht mehr, ob ich in der Szene, die dieser in der Filmhandlung vorangestellt ist, die weiße Schiebermütze aufhatte, denn diese Szene war Wochen zuvor gedreht worden, und Raphael, unseren Continuity-Mann, hatten wir für diesen Drehtermin in einer lauen Augustnacht nicht hinzugezogen. Ich setzte die Kappe auf, scherte mich nicht um dieses Detail. Die zweite location befand sich nur ein paar Meter entfernt, wir überquerten die Rollinstraße, verharrten vor den beiden gelben Telefonzellen. Sabines Unterstützung wurde nicht mehr gebraucht, sie fuhr nachhause. Valérie – zierlich, sehr hübsch, um etliche Zentimeter kleiner als ich, mit einer großen dunkel gelockten löwenkopfähnlichen Haarhaube – und ich quetschten uns in eine der engen Telefonzellen. Lost, also ich (oder wer?) mußte eine Nummer in Berlin anrufen. Das tat Lost. Ich wählte nicht die Nummer von Losts Lover in Berlin, Lost wählte die Nummer meiner Kusine im Prenzlauer Berg. Denn mir war bekannt, daß sie in diesen Augusttagen irgendwo in nördlichen Ländern ihren Urlaub verbrachte. Wir benötigten das Tüüt-tüüt am anderen Ende, an dem niemand abheben durfte. Wir wiederholten die Szene, auch in ihr mußte ich nur gucken, zunächst erwartungsvoll, dann zunehmend enttäuscht. Das fiel mir ja nicht schwer. Dann war die Szene fertig. Valérie nahm die Kamera vom Auge. Nun waren tatsächlich alle Szenen des Films abgedreht. Ich hatte nichts mehr für den Film zu tun, Valérie standen viele Stunden Schnittarbeit am Computer bevor. Ich war doch froh, daß wir bis jetzt durchgehalten hatten; denn während der Dreharbeiten war es mehr als einmal zu – nun ja, Spannungen zwischen meiner talentierten Co-Autorin, Kamerafrau, Regisseurin und Schnittmeisterin gekommen. Nun, seit wir beide seit einigen Jahren in Berlin leben, verstehen wir uns sehr gut.
- Gleichmäßiges ruhiges Sommerwetter.
26.8.2002

25
Aug

25.8.2002

Der Jazzclub florierte; und ich lernte neue Freunde kennen. Die Kaltenbach-Brüder, Stefan und Bernhard. Kurt, der Älteste der drei Brüder, hatte mich an einem Dezembertag im Jahr 1974 in seinem Auto aus Stuttgart, wo er Metallurgie, wie ich glaube mich zu entsinnen, studierte, mitgenommen. Wir begegneten uns danach nur zwei- oder dreimal im Lauf von zwanzig Jahren. Bernhard, selbstbewußt und konservativ, saß im Frühjahr 1976 vor meinem Schreibtisch in der Karpfengasse, sechzehn Jahre alt, und wollte wissen, von was ich eigentlich lebte. Ich erzählte ihm von meinem abgebrochenen Studium, von Bafög-Geld, von meinen Schreibereien, was ihn alles nicht sehr überzeugte. Dennoch befreundeten wir uns. Mit ihm und Stefan, dem etwas älteren Bruder – beide trugen ihre Haare lang – und der Karpfengassen/Jazzclub-Clique saß ich im „Strauß“; das alte Umfeld der politischen Zeit war fast verschwunden. S. und B. machten Jazzrockmusik mit einer eigenen Gruppe, S. spielte Leadgitarre und sang, B. drosch auf’s Schlagzeug ein. Anton W., ein verschlossener junger Typ, machte sich stoisch an seinem Bass zu schaffen; gut, wie man sagte. War nicht noch ein vierter Mann dabei? Aber wer? Irgendwann beim Rotwein rückte ich damit heraus, daß mein Erzeuger jahrzehntelang in der Firma, die der Vater von Bernhard und Stefan und Kurt leitete, gearbeitet hatte. B. und S. waren eloquent und ironisch und ihre Freundschaft war mir angenehm. Beide hetero, S. verbändelte sich mit Karin R. von den „R.-Sisters“, wie die drei hübschen Schwestern in unserer Clique hießen, und irgendwann fing B. an, sich für die ältere Christina in der Karpfengasse zu interessieren. 1978 waren sie dann liiert. Auf einer Sommerparty im Hause K. tauchte wieder ihr Bruder auf, wir unterhielten uns über Literatur. Ich hatte zwar ein Auge, manchmal auch beide Augen, auf B. geworfen, doch stand von Anfang an fest: keine Chancen. Ich wollte es lange nicht richtig wahrhaben. Ich litt etwas, und manchmal etwas mehr. Ende der Siebziger beruhigte sich das Gefühl. B., dem es nicht verborgen geblieben war, konnte damit wenig anfangen, wir blieben aber befreundet, er distanzierte sich nicht, wie es so mancher andere in so einem Fall für nötig hält. Unsere Freundschaft als Beteiligte der Kleinstadtszene, die sich vor allem aus der Begeisterung für die Rock- und Jazz-Musik heraus definierte, beruhte auf der natürlichen Sympathie, die sich überall in den menschlichen Beziehungen entwickeln kann, auch wenn die erotischen Präferenzen divergieren. Stefan, den alle nur Steff nannten, zog mich zuweilen auf gutmütige Weise auf: „Na, wie steht’s denn mit der Liebe?“, und das war nun ganz allgemein auf meine Situation als Schwuler in der kleinen Stadt gemünzt. Auch er sah mir an, daß es meistens nicht sehr gut damit stand, wollte mich mit seinem Spruch auch nicht verletzten, vielmehr glaubte ich eine Spur Mitgefühl darin zu entdecken.
An einem Nachmittag – noch immer schien der Hochsommer über die Stadt zwischen den Hügeln und Anhöhen, nach dem 20. August 1977 –war ich im Kaltenbach’schen Haus an der Westseite des Talfelds, dem Stadtteil, der sich oben hinter dem steilen bebauten Hang, der die Innenstadt nach Osten hin begrenzt, an ihm entlang zieht, von S. und B. zum Kaffeetrinken eingeladen; ich sah vom Fenster aus hinab in den Talkessel mit dem Turm des „Ulmer Tors“ und dem der Stadtpfarrkirche, die aus den dicht an dicht liegenden roten Dächern hervorragten; auf der gegenüberliegenden Talseite stieg der Gigelberg mit dem Stück der historischen Stadtmauer auf, die links vom runden Weißen Turm, der zu jener Zeit grau war, begrenzt ist, rechts vom höheren schlanken, mit rechteckigen Mauern hinaufstrebenden Gigelbergturm beschlossen wird, und in der Mitte dieser Aussichtsanhöhe, der „Schillerhöhe“, läßt ein hübsches Törchen den Flaneur zum ehemaligen tiefen Wehrgraben, zum Hirschgraben (vom Kaltenbach’schen Fenster nicht einzusehen, aber in meiner topographischen Fantasie setzte ich den Weg dort drüben fort) durch und auf dem von Baumkronen überdachten Weg, der über eine Brücke verläuft, kommt man auf den eigentlichen Gigelberg. Ich schätze es ja immer, eine gute Aussicht zu haben, und daß ich sie in meiner kleinen Wohnung hier in Berlin nicht habe, schmerzt mich oft; ich setzte mich dann an den Tisch, Steff servierte den Kaffee, und ein Zopfbrot mit Butter gab es auch dazu. Wir tranken den Kaffee, bestrichen das Zopfbrot mit Butter, aßen es, plauderten, als Stefan, der frischen Kaffee aus der angrenzenden Küche hereinbrachte und eine Zeitung in einer Hand hielt, mich fragte: „KD, ist das dein Vater, der hier drinsteht?“ Ich wußte nicht, was er meinte, sah fragend auf. „Hier, die Todesanzeige“, sagte Steff und reichte mir die Zeitung. Ich war baff. Mein Erzeuger war gestorben. „Der kalte Kacker!“, rief ich perplex aus. Die beiden Brüder sahen mich eigenartig an. „Na, KD ...“, sagte Steff. „Immerhin war er dein Vater.“ Ich starrte auf die Anzeige. Sie war von der Konkubine meines Erzeugers ins Lokalblatt gesetzt worden. Ein Schauer rieselte mir den Rücken herunter. Ich bereute meinen unbewußten Ausruf nicht, und ein seltsames Gefühl von freierem Leben, das mit einem anderen, für das mir kein ganz passendes Wort einfällt, das aber etwas Triumphalisches an sich hatte, einherkam, stieg allmählich in mir auf. Ich war kühl und auf seltsame Weise euphorisch, von der exorbitanten Nachricht aufgeputscht; wie vor etwas Neuem, das man noch nicht kannte und das aufregend war. Ich stand auf. „Ich muß in die Karpfengasse“, sagte ich, oder etwas in der Art. Wer saß noch am Tisch mit dabei? Kein anderes Gesicht als das der beiden Brüder schwebt mir vor dem inneren Auge. Bestimmt ein anderer Musiker erlebte diese Szene mit. „Meine Mutter wird bald da aufkreuzen oder ist schon da“, fügte ich an. Ich verabschiedete mich und ging durch den schon schattiger werdenden frühen Abend durch die Stadt. Dort brauchte ich nicht lange zu warten, bis meine Mutter, dunkel gekleidet, in mein Zimmer trat; in das größere an der Vorderseite des Hauses. „Weißt du es schon?“, fragte sie mit müdem Gesicht. Ich bejahte und nannte auch den Ort, an dem die Nachricht an mich heran gekommen war. Sie nickte nur. Es war eine jener Situationen, in der keiner weiß, was er eigentlich sagen soll, mit Sätzen darin, in denen Beerdigungsmodalitäten vorkommen. Jeder kennt sie oder wird sie kennenlernen. Wir texteten eine eigene Trauerannonce. Meine Mutter hatte sie vorformuliert. Sie erschien zwei Tage später. Ich verhandelte mit meiner Mutter, deren Verbitterung mit den Jahren fast ganz in Gleichgültigkeit aufgegangen zu sein schien, über die für mich unmögliche Forderung, zu diesem Anlaß endlich zum Friseur zu gehen. Wir einigten uns darauf, daß ich meine Mähne nur um eine bestimmte Länge kürzen ließ. Ich war dennoch ungehalten. Warum sollte ich mich, nur weil „der Alte“, wie meine Mutter und ich den Verstorbenen titulierten, das Zeitliche hinter sich gelassen hatte – „nach mir die Sintflut!“, habe er einmal in den fünfziger Jahren ausgerufen – in meinen Persönlichkeitsäußerungen, zu denen unzweifelhaft lange Haare gehörten, einschränken lassen? Warum ein Zugeständnis machen? Verwandtschaft väterlicherseits kam nach vielen Jahren aus Göttingen zur Bestattung auf dem Stadtfriedhof. Sie ging mich nichts mehr an. Die Zeremonie brachte meiner Mutter eine weitere öffentliche Demütigung ein, als die Gefährtin meines Erzeugers als erste vor dem Grab den ersten Erdwurf mit der Schaufel ausführen durfte; darauf hatte man sich offenbar in Verhandlungen, die die Göttinger führten, geeinigt. Dann erst schippten meine Mutter und ich Erde über den Sarg. Mit steinernem Gesicht trat meine Mutter zurück, ich warf, weil es nun einmal Sitte ist, das, was ich auf die Schaufel bekam, hinab. Ich trug eine sorgsam aufgesetzte Miene der Ungerührtheit. Händeschütteln am Ende der Veranstaltung; dann verzog ich mich sofort ins „Alte Haus“ und nahm etwas Alkoholisches zu mir. Ich weiß gar nicht, was meine Mutter danach tat. – Jahre vergingen; über vier Ecken hörte ich, nach so langer Zeit, von einem Bekannten, bei der Beerdigung meines Vaters habe ich ja, wie ihm zugetragen worden sei, weil er jemandem gesagt hatte, daß er mich kenne, einen sehr unbeteiligten Eindruck gemacht. Ich zuckte mit den Schultern.
- Der Sommer bleibt heiß.
25.8.2002

24
Aug

24.8.2002

Mein Vater sprach im Sommer 1976 von seinem Schäferhund, den er sich nicht ins Haus, sondern auf’s Anwesen in einen Hundezwinger geholt hatte, und davon, wie er ihn im Schäferhund-Verein dressierte. Denn den gab es auch und den gibt es nach wie vor, wie ich auf meinem Spaziergang, den ich am 30. Juni dieses Jahres vom „Café Kolesch“ an der Gymnasiumstraße mittags über die Wieland-, die Mond-, Garten-, die Lindelestraße hinauf zum Lindele, zu dessen höchstem Punkt, und auf anderen Wegen, auf seinem Kamm hinab zum Krummen Weg lustwandelnd unternahm, feststellte, denn in dem Waldstückchen, das an dieser Seite des Lindeles, an dessen Westseite, eine kleine schattige Zone bildet, durch die ein enger Pfad dem Spaziergänger einen Weg bietet, liegt eine Kiesgrube – die ich wieder entdeckte, in der Tilmann F., seine Schwester, andere Knaben und ich vor vierzig Jahren herumkletterten, von deren oberem Rand wir mutig hinabkletterten – , die nun ganz von Bäumen umstellt ist und die in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Bestandteil des Wäldchens wurde, das sie in einen düsteren Ort verwandelte, und in ihr stehen eine Hütte, Balkenwände für die Hundedressur, eine Absperrung, dahinter liegt eine Hundebahn ähnlich der Sprintbahnen für die Spezies Homo s. auf Sportplätzen, und ein Schild, auf dem der Hundesportverein – in dem vermutlich auch andere Hunde neben der Rasse der Schäferhunde abgerichtet werden – auf sich aufmerksam macht, auf dem der hinlänglich bekannte Satz zu lesen ist, Unbefugten sei der Zutritt nicht gestattet. Ich habe nichts gegen Hunde; das war, als ich im Garten des Hauses F., das vor der Kiesgrube, vor dem Wäldchen, steht, und ich sah, als ich weiterging, auch diesen Namen noch auf dem Schildchen am Tor zum Garten, mit T. mit Steckendegen focht, anders gewesen. In der Alpenstraße hatte mich ein Hund, den ich streicheln wollte, gebissen, und danach mied ich es, durch die Alpenstraße, in der ich übrigens auch ein paar Mal das Haus des Musiklehrers und -direktors Knörrlein betrat, zu gehen, und als ich zu jener Zeit nachmittags bei F.s war, bat ich doch einmal den Vater von Tillmann, mich nachhause zu fahren, weil ich befürchtete, dem Hund zu begegnen. Aber dieser Respekt vor Hunden verschwand dann irgendwann in jenem Alter. (Vor Agathe, der Collie-Hündin von Manfred S., allerdings war ich viele Jahre später in der Karpfengasse auf der Hut; sie hatte die unangenehme Eigenschaft des Wadenkneifens an sich, wenn man nicht aufpaßte. „Gathe, laß das!“, war ein Sätzchen, das ich hin und wieder aussprechen mußte, wenn ich bei Manfred in seiner Bude hockte oder mit ihm und dem Hund in der Stadt unterwegs war.) Und als die Freundschaft mit T. versiegte, wurden auch die Gänge hinauf zu den oberen Straßen des Lindeles weniger. Mein Erzeuger hatte also von seinem Hund geredet, ich von meinem – tierischen – Kater, den Elian mir im Juni 1976 ins Karpfengassenzimmer getragen hatte: ein kleines schnelles Langhaarbündel mit großen grünen Augen, das sofort zu mir unter die Bettdecke gekrochen war, denn ich hatte natürlich noch im Bett gelegen, als Elian hereingekommen war. (Ich wechsle ins Imperfekt.) Das Katerchen war wenige Wochen alt und stammte von einem Bauernhof südlich von Biberach, auf dem E. sich vielleicht nach alten Möbeln umgesehen hatte. Da ich ihr einmal gesagt hatte, ich fände Katzen interessanter als Hunde (sie besaß die Dogge Donna, ein schwarzes Tier, das mir bis zur Hüfte reichte, schon), hatte sie den kleinen Kater ziemlich spontan vom Bauernhof zu mir gebracht. Nun hatte ich Verantwortung für das Tier. Ich kaufte eine Plastikschüssel mit niedrigem Rand, sie wurde das Katzenklo, „Whiskas“-Futter und Katzenstreu und stellte auch ein Schüsselchen mit frischem Wasser neben den Teller mit dem Futter in eine Ecke des Zimmers. Ab diesem Tag roch es nach Katze bei mir. Ich taufte den Kater in den Tagen danach auf den Namen „Holden Panama Johnson“, nach dem Haupthelden eines meiner Westernromane, dem, der in all den Jahren bei mir liegen geblieben ist. „Holden“ kam vom amerikanischen Schauspieler William Holden, der in Sam Peckinpahs Films „The Wild Bunch“ den Boß einer Banditentruppe verkörpert. Sabine R. und Herbert K. nannten Panama stets nur „Holden“. Panama wurde mein Lebensgefährte. Es stellte sich heraus, während er zu einem veritablen Halbangora-Kater heranwuchs, daß er klug war und einen guten Charakter hatte. Fast immer in jenem Sommer ließ ich das Fenster zum Blechbalkon hin offen, um ihm das Gehen und Kommen zu ermöglichen; die Gangtür zum Balkon war fast nie geschlossen. Er wetzte, wenn ihm nach Ausflug war, dann den Flur des ersten Stockwerks entlang, die Treppe hinunter, auf dem Flur des Erdgeschosses nach hinten ins Haus, kratzte dort elegant die Kurve, sauste die Kellertreppe hinab, durch einen Raum im Keller, dessen Fenster nur von einem Gitter und keinem Glas gesichert war, und quetschte sich durch dieses Fenster nach draußen auf den schmalen Gehweg, flitzte zu Katerabenteuern davon, von denen ich nie erfuhr, von denen er ein paar Mal aber kleinere Wunden, die glücklicherweise nicht so gravierend waren, daß ein Tierarzt besucht werden mußte, davontrug.
- Heiß etc.
24.8.2002

23
Aug

23.8.2002

Am ersten Tag eines Monats oder am ersten Arbeitstag ging ich von 1963 bis 1967 oder 1968 von der Lindelestraße zur Firma „Kaltenbach & Voigt“, „KaVo“, am Bismarckring, um das Unterhaltsgeld von meinem Erzeuger in Empfang zu nehmen. Die im Verlauf dieser Jahre in ihrem Häuschen vor dem großen Parkplatz hinter dem Eingangstor sitzenden Portiers kannten mich bald und sagten zuweilen joviale Sätze wie: „Grüß Gott, wieder zum Papa?“ Ich entgegnete ein kurzes „Ja“ oder nickte nur stumm. In den frühen Sechzigern betrat ich dann das älteste Gebäude des umfassenden Firmengeländes links vom Eingang, an der Bleicherstraße gelegen, das vor dem Einzug der Firma KaVo im Jahr 1947 zu einer Fabrik mit dem Eigentümernahmen „Schmitz“ gehört hatte. Um die Hintergründe der Ansiedlung von „Kaltenbach & Voigt“ in Biberach nun nicht noch einmal schreiben zu müssen, folgt ein Artikel, den ich im Frühjahr 2000 verfaßte, der aber erst ein Jahr danach in der lokalen Zeitung erschien:

KaVo-Jahre in Berlin und Potsdam – eine Spurensuche
Das Dentalunternehmen „Kaltenbach & Voigt“ ist einer der bekanntesten großen Arbeitgeber in Biberach. Klaus-Dieter Diedrich suchte in Berlin und Potsdam nach den Anfängen der seit 1946 in Biberach ansässigen, seit Jahrzehnten weltweit operierenden Firma.
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Science Fiction-Buchpräsentation der Berliner Festspiele GmbH in der pittoresken Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums des Universitätsklinikums Charité und war plötzlich und ungewollt selber auf einer Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Denn kaum hatte ich das Museum betreten, fiel mein Blick auf einen durch sein Alter schon wieder fremd futuristisch anmutenden Zahnarztstuhl. Neugierig las ich das Erklärungsschildchen, und tatsächlich: „Zahnarztsessel von Kaltenbach & Vogt, 1930.“
Der falsch geschriebene Name „Vogt“ stach mir ins Auge, denn diesen Namen kenne ich seit Kindertagen. Mein Vater hatte 1929 als Zwanzigjähriger bei KaVo angefangen und war der Firma als Werkzeugmachermeister und später Leiter der Werkzeugabteilung bis zur Pensionierung treu geblieben. In seinen jüngeren Berufsjahren bei Kaltenbach & Voigt war er, wie er mir einmal, viele Jahre später in Biberach, sagte, so etwas wie der persönliche Assistent des Firmenmitbegründers Voigt gewesen. KaVo hatte seinen Sitz zunächst in Potsdam gehabt und ihn nach Kriegsende nach Biberach verlegt, soviel war klar. Der Vater war einer jener sieben Leute gewesen, mit denen KaVo in Biberach neu begonnen hatte. Aber wo genau hatte er zuvor für die Firma gearbeitet?
Der Firmengründer, Alois Kaltenbach, 1887 in der Nähe von Freiburg i. Breisgau geboren, macht sich 1909 in Berlin als Instrumentenbauer selbständig. Im Berliner Landesarchiv erfahre ich, dass mit dem Mechanikerkollegen Richard Holz als Kompagnon die „Mechanische(n) Werkstätten Holz & Kaltenbach“ entstehen, die im Lauf der Zeit dreißig Mitarbeiter beschäftigen und als Geschäftsanschrift die Schützenstraße 7 in Berlin-Steglitz haben. Ab 1914 steht nur noch Kaltenbachs Namen im Berliner Stadtadressbuch.
Von 1919 an wird der Betrieb in Potsdam weitergeführt, mitten im Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe des imposanten friderizianischen Marstalls, in dem seit Jahren u. a. das Filmmuseum Potsdam untergebracht ist. Bernhard Kaltenbach (41), gebürtiger Biberacher und Rechtsanwalt in der renommierten Berliner und Potsdamer Kanzlei Seeberg & Stabreit, der mit seiner Familie und zwei Mietparteien seit 1995 das zwei Jahre zuvor rückübereignete Wohnhaus der Kaltenbachs in Potsdam bewohnt, sagt:
„Mit dem Berliner Richard Voigt gründete mein Großvater nach seinen Jahren in Steglitz dann in Potsdam, in der ehemaligen Mammonstraße, heute Werner-Seelenbinder-Straße, die Firma Kaltenbach & Voigt. Im Betriebsgebäude wohnte die Familie auch während der ersten zehn Potsdamer Jahre. Mein Vater, der später in Biberach lange Jahre Geschäftsführer der Firma war, wurde dort geboren. Das Unternehmen produzierte“, so Kaltenbach, „schon damals zahnärztliche Instrumente und Geräte nicht nur für das Inland, sondern auch für den Export. Vor 1939 waren etwa 230 Mitarbeiter im Betrieb. In den letzten Kriegswirren kamen Voigt und der Prokurist Peter Picard ums Leben, der Betrieb wurde teilweise zerstört.“
Alois Kaltenbach lässt die Schäden beseitigen, doch als wieder gefertigt werden kann, müssen Reparationsleistungen an die Sowjetunion abgeführt werden. In weiser Voraussicht dessen, was auch kam, schickt Kaltenbach als umsichtiger Firmenchef den technischen Betriebsleiter Erich Hoffmeister in die Westzonen des besetzten Deutschlands, um dort nach einem geeigneten zweiten Standort für das Unternehmen zu suchen. Schließlich findet Hoffmeister in Biberach die günstigsten Bedingungen.
1946 etabliert sich „Kaltenbach & Voigt“ als Neugründung mit den besagten sieben Mann unter der Leitung von Hoffmeister als neuem Mitgesellschafter am Bismarckring. Unterdessen wird der Potsdamer Stammbetrieb weitergeführt. Alois Kaltenbach bekommt einen Hinweis, die inzwischen zur DDR gewordene „Ostzone“ besser zu verlassen: ein politisch motiviertes Gerichtsverfahren gegen ihn sei in Vorbereitung.
„Mein Vater vermutet“, sagt Bernhard Kaltenbach, „dass mit dem Auslaufen der Reparationsleistungen um 1950/51 der ‚Schutz‘ des Unternehmens durch die Besatzungsmacht Sowjetunion entfiel und der Weg zur Enteignung damit frei war. Aus einem vorgeschobenen Grund wurde mein Großvater, zum Glück in Abwesenheit, denn meine Großeltern waren bereits 1951 nach Biberach geflohen, 1952 als ‚Kapitalist‘ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“
KaVo-Potsdam wird 1952 nach der Enteignung zum „Volkseigenen Betrieb Dentaltechnik Potsdam“. Diesen Betrieb verkaufte die Treuhand nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 an einen Investor; nach einigen Jahren wurde die Fertigung eingestellt. Rechtsanwalt Bernhard Kaltenbach kümmerte sich um die Rehabilitierung seines 1971 verstorbenen Großvaters und um die anstehenden vermögensrechtlichen Fragen.
Ich gehe zum früheren Fabrikgebäude, das auf eine neue Verwendung wartet und stelle mir vor, wie mein Vater durch diese Türen ein- und ausgegangen war. Wenn die Jahre der Firma KaVo anders verlaufen wären – hätte ich Biberach je gekannt?


Oft trafen mein Vater und ich uns in einem kleinen muffigen düsteren Zimmer, in dem an einer Wand Aktenschränke standen und für diesen Hauptzweck war der Raum ja auch gut geeignet. In den Gängen, die von einem neongelb-grauen Licht gleichmäßig ausgefüllt waren, roch es nach Metall, Maschinen und ihrem Öl, eine Mixtur, die wohl auch für andere Maschinenbauunternehmen typisch ist. Mein Erzeuger, der an manchen dieser Nachmittage schon auf dem Flur aus der entgegengesetzten Richtung auf mich zukam, in einen nicht zugeknöpften grauen Meistermantel gekleidet, setzte sich auf den einfachen Stuhl, ich mich auf einen zweiten am Tisch, auf den das mal sonnige, mal regenbleiche Licht über der Bleicherstraße durch das Fenster hereinschwappte, und er griff nach ein paar einsilbigen Worten, die wir wechselten, zu seiner Brieftasche im Jackett unter dem Mantel. Ich steckte die Geldscheine mit einem „Danke“ in eine Innentasche meines Anoraks oder meiner Jacke und dachte mir in den Jahren nach der Jahrzehnthälfte dabei immer öfter, daß dieses Geld mehr sein könnte. Im Auftrag meiner Mutter führte ich einmal, 1967, eine Verhandlung um Erhöhung des Unterhaltsgeldes, die mit der unwirschen Bemerkung „Ich kann nicht mehr zahlen!“ schließlich abgetan war. Verständlich diese Äußerung, denn sehr wahrscheinlich fraßen die Abzahlungsraten für das Haus, das er und seine Gefährtin, mit der er in „wilder Ehe“ zusammenlebte, sich im Hagenbucher Weg am anderen Ende der Stadt gebaut hatten, einen beträchtlichen Teil seines Gehalts auf. Und mir war das Betteln um Geld schon damals unangenehm und würdelos vorgekommen, und so war es auch später. Dennoch war ich in bestimmten Situationen auf das Geld meines Erzeugers angewiesen: bei der Vorfinanzierung meines Gerichtsverfahrens gegen diesen Staat, in der Mitte der Siebziger dann, um einmal die Leasing-Raten für die IBM bezahlen zu können, die in der Karpfengassenzeit zu einem von mir nicht aufzubringenden Betrag angewachsen waren. Nach der Pensionierung saßen wir 1976 und 1977 zwei- oder dreimal im „Café Lieb“ und unterhielten uns „von Mann zu Mann“ über Alltägliches, aber nicht nur: sehr sparsam redete mein „Alter“ über Vergangenes aus seinem Berufsleben, und das auch nur ein Mal; über die Gründe der verkorksten Ehe – seine Frau war immer „deine Mutter“ – äußerte er, wenn das Gespräch doch an die Nähe dieser vergangenen Verhältnisse geraten war, nie etwas und wir wechselten auch rasch das Thema. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, von ihnen aus seiner Sicht etwas zu erfahren. Ich hätte das Gesagte sowieso in Zweifel gezogen, denn obwohl ich sehr wenig von ihm wußte, hatte ich doch in früheren Jahren geahnt, daß er sich die Wahrheit so zurecht legte, wie sie ihm in den Kram paßte. (Die Papiere, die ich bei den Unterlagen meiner Mutter hier in Berlin erst entdeckte, bestätigten dies.) Wir saßen beim Kaffee, vielleicht verspeiste ich ein Stück Kuchen mit Sahne, rauchten „Kurmark“-Zigaretten – nach einer Weile zogen wir beide eine Schachtel dieser Marke aus einer Tasche, weder er noch ich wußten, daß der andere diese Sorte qualmte – , er erzählte von seinem Schäferhund, den er sich – „man muß ja mal raus“ – ins Haus geholt hatte. In dieses Haus setzte ich übrigens nie einen Fuß. Ich ging aber ein einziges Mal daran vorbei, um mir das einmal anzusehen. Er war dick geworden, mit rundem Gesicht, in dem der immer sich zurückhaltende, doch vorhandene Zug ins „Asiatische“ – „er sieht jetzt aus wie ein Buddha“, hatte meine Mutter zu Beginn der siebziger Jahre gesagt – nun stärker ausgeprägt war, mit noch wenigen grauen Haaren zwischen den dunklen saß er am Tisch; Zeige- und Mittelfinger (er hatte fleischige Finger) waren vom Nikotingelb gefärbt. Er war nicht besonders gesund, wie er in einem Nebensatz herausließ. Ich saß mit ellenlangen Haaren ihm gegenüber, mit Oberlippenbärtchen, in Jeans und T-Shirt. So verplauderten wir, eigentlich unangestrengt, weil alle kritischen Bereiche sorgfältig umgangen wurden, eine Stunde, bis wir uns vor dem Café trennten. Er sagte mir im Juli 1976, wie er in den letzten Tagen des Krieges in Potsdam, die sowjetische Armee hatte sich unaufhaltsam nach Berlin voran gekämpft, den im Chaos der Kriegshandlungen umgekommenen Mitinhaber der Firma „Kaltenbach & Voigt“, eben Voigt, gemeinsam mit einem Kollegen heimlich begraben habe; ich war zunächst beeindruckt, wurde dann skeptisch. Konnte diese story glaubwürdig sein? Ich denke aber, daß er in diesem Fall die Wahrheit sagte, denn alles, was mit seinem Beruf zu tun hatte, war ihm wichtig. Im Frühjahr 1977 mußte ich ihn wegen meiner Finanzen noch einmal treffen. Im „Lieb“ erklärte ich die Lage. “Du wirst noch im Gefängnis landen“, sagte er etwas ungehalten. Über meinen Studienabbruch verloren wir kein Wort. Es schien ihm gleichgültig zu sein, was ich aus meinem Leben machte. Er wußte, daß ich ein bißchen vor mich hin schrieb, das wurde nie thematisiert. Sich herauszuhalten war das beste, was er tun konnte. Wieder saßen wir vor Kaffeetassen. Er zog drei Schuldscheine über je DM 500,- hervor, legte sie auf den Tisch, ich unterschrieb sie. Er gab mir das Geld. Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah.
- Sonnenstarkes ruhiges Sommerwetter.
23.8.2002

22
Aug

22.8.2002

Im oberen Bereich des zur Gartenstraße hin sanft abfallenden Gartens bockten H. und ich in der Realschul- , auch noch in der Wirtschaftsgymnasiumszeit (auch er besuchte diese Schule) die grün gestrichenen beiden Teile der Preßspantischtennisplatte auf, die in einem Kellerraum des neuen Hauses lagerten. Als erste „Bauteile“ trugen wir die zwei Holzböcke hinaus, stellten sie ins Gras oder auf die Kiesfläche an der Rückseite des Hauses, dann packten wir die Plattenteile und trugen sie in den Garten, legten sie auf die Böcke, schoben sie, die an der einen Plattenhälfte Zapfen und an der anderen Zapfenlöcher hatten, zusammen, dann wurde das grüne Tischtennisnetz über die Mitte der ganzen Platte gespannt und festgeschraubt. Es gab Tage, in denen ging ich ohne Tischtennisschläger nicht aus dem Haus. Und war schlechtes Regenwetter, bauten wir die Platte in einer der beiden Garagen unter dem Ladengeschäft auf; in der anderen stand der jeweils neue Opel von Herrn K., in dem auch ich so manchen Samstag oder Sonntag mit auf’s Land fuhr, zu einem Gehöft zwischen Biberach und Ochsenhausen, oder bei Tannheim (das war etwas weiter entfernt), wo Herr K. frische landwirtschaftliche Produkte für die kommenden Geschäftstage einkaufte und im Kofferraum verstaute. Er war ein großer, etwas nervöser Mann, der mir in den ganzen sechziger Jahren fast jeden Tag begegnete. Frau K. war eine echte Schwäbin mit Herz und Verstand, kleiner als ihr Mann; sie bekam in den sechziger Jahren noch einen zweiten Sohn. Mit den K.s verstand ich mich die ganzen Jahre über sehr gut. Manchmal sah ich dort auch fern, „Am Fuß der blauen Berge“ oder eine andere Vorabendsendung; bei K.s und Frau H. sah ich fern, denn zuhause gab’s damals noch kein Gerät. H. und ich spielten sehr oft Tischtennis und brachten es beide zu einer gewissen Meisterschaft. Ich war selbst erstaunt über meine Reaktionsfähigkeit. Stundenlang schlugen wir den leichten weißen Ball knapp über’s Netz oder auch mal ins Abseits, auf eine Plattenkante, zählten unsere Punkte. Je länger wir spielten, desto rasanter flog der Ball hin und her. Noch immer habe ich das unregelmäßige Geräusch des Ballaufschlags im Ohr. Bis in die Dämmerung hinein standen wir auf der Wiese oder auf dem Kies und schnitten den Ball an und spielten mit Vor- und Rückhand, zogen den Ball vor dem Bauch aus unerreichbar erscheinender Tiefe oder fingen ihn irgendwo über dem Kopf ab und knallten ihn wieder auf die jeweils gegenüberliegende Tischseite. Mein Interesse an diesem Spiel verlor sich, als H. plötzlich die Sportlehrer unserer Klasse zum Tischtennisspielen auf elterlichem Grund und Boden einlud; mit denen stand ich eher auf Kriegsfuß. Nach dem Abitur versandete auch unsere Jugendfreundschaft. Wir entwickelten Interessen, mit denen der jeweils andere nichts anzufangen wußte. In den Jahrzehnten danach begegneten wir uns in weiten Zeitabständen zwei oder drei Mal zufällig; obwohl wir beide in der kleinen Stadt lebten. H. ist am Wirtschaftsgymnasium in Biberach Lehrer geworden. Mitte der Siebziger griff ich noch zweimal zum Tischtennisschläger bei anderen Freunden; damit hatte es sich dann.
- Heiß; am späteren Nachmittag zog sich der Himmel zu, blaugrau die Wolkendecke, von ferne etwas Grollen.
22.8.2002

21
Aug

21.8.2002

Als ich zwölf und dreizehn Jahre alt war, hielt ich mich oft in den Gärten der Familie K. auf. (Auch in früheren und späteren Jahren.) Hinter dem kleineren Haus der K. an der Gartenstraße, in dem in der Mitte der fünfziger Jahre ihr Lebensmittelgeschäft untergebracht war, erstreckt sich ein rechteckiger Garten, unmittelbar hinter dem Haus ein kultivierter Streifen, der von einem schief stehenden alten Zaun von einer Wiese abgeteilt war, in der hohe Obstbäume ihre Schatten warfen. Neben zwei großen Schuppen seitlich hinter einem unteren – denn das Gelände steigt dort, wie überall am Lindelehang, an – Rasenstück und ungefähr in der Mitte des gesamten Gartenbereichs befand sich ein alter Hühnerstall und die Produkte der Insassen aß auch ich zuhause. Noch vor meinem zehnten Lebensjahr bauten die Eltern meines Freundes Helmut ein großes Haus im oberen Teil ihres Besitzes an der Probststraße, dem auf der östlichen Seite ein Flachbau angegliedert wurde: der neue größere „Spar“-Lebensmittelladen. H. und ich fläzten ab und zu auf dem mit Teerpappe abgedichteten Holzdach des Hühnerstalls, rauchten heimlich erste Zigaretten und plauderten über die Schule oder unsere Freunde; oder kletterten im Astwerk der neben den Schuppen stehenden Bäume herum, errichteten auch einmal ein sehr provisorisches Bretterbaumhaus unter einem der Wipfel. Unter uns stolzierten, gackerten und kackten die Hühner, wenn wir zwischen den engen Brettern hockten und wahrscheinlich eine abenteuerliche Phantasie ausheckten. Eine Hecke trennte das große Gartengrundstück vom westlichen Nachbarn, den B.s; zwischen ihrem gepflegten Garten und dem der K.s, dem ein bäuerlicher Charakter zu eigen war, bot ein unbebautes Stück Garten (eher eine Wiese) allerlei Pflanzen und Blumen eine ungestörte Ausbreitungsfläche. Auf ihr entstand Mitte der siebziger Jahre das Haus der Lehrerfamilie W., das „Schneckenhaus“, wie es seiner ungewöhnlichen Architektur zufolge bald genannt wurde; eines der ungewöhnlichsten Gebäude der Region, dessen Ana-Malerei-Innengestaltung der Kunstmaler Heilig ausgeführt hatte; eine architektonische Besonderheit, die in den Architekturbüchern erschienen ist und zuweilen Fachpublikum in die Gartenstraße lockt.
- Sommer.
21.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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