12
Sep

12.9.2002

Eines Freitags im Frühjahr 1975 fuhr ich nachmittags mit dem Zug von Stuttgart nach Biberach und saß bald nach der Ankunft mit den Genossen um den großen ovalen Tisch im „Strauß“ und ließ mir berichten, wie es um die Vorbereitungen für die Solidaritätsveranstaltung für Chile stand. Gut, war zu hören. Die Genossen vor Ort hatten gut gearbeitet. Wir tranken unser Bier, rauchten und besprachen Einzelheiten, gingen dann auseinander, um uns am nächsten Vormittag am Infostand vor der Schranne wieder einzufinden. Flugblätter wurden verteilt, Broschüren lagen aus. Die Jusos und die Gewerkschaftsjugend waren dabei. „Aktionseinheit“ war das Gebot der Stunde. Wir versuchten, Passanten in Gesprächen von den Ereignissen zu informieren. Die meisten machten einen Bogen um uns, einige blieben stehen, mißtrauisch vorsichtig, andere schimpften, andere unterstützten sogar unser Anliegen. Wenige, sehr wenige, von den Älteren. Dafür sammelten sich junge Leute an und viele von ihnen kamen am Abend in die WG-Aula, alter Biberacher Ort linken Geschehens, um sich die beiden Filme anzusehen, die wir für diesen Tag bei einem linken Verleih bestellt hatte; 16-mm-Projektion. Ich legte die Filme ein und saß neben dem Gerät, trank Bier. Die Aula war gut gefüllt. Jemand von unserer Aktion sagte vor dem ersten (Dokumentar-)Film ein paar Worte. Dann sahen wir die Bilder von der Aufbruchstimmung in Chile während der kurzen Tage der Regierung Allende. Nach den Filmen informierten wir das Auditorium über Einzelschicksale nach dem Putsch, soweit wir über sie verfügen konnten. Eine Diskussion schloß sich an. Eine in Chile gebürtige Dame, eine Ärztin in Biberach, deren Name es mir nicht wert ist, auch nur in Initialen hier vorkommen zu dürfen, vertrat jetzt das Pinochet-Regime und verteidigte den wie eine dunkle Nacht über das südamerikanische Land herabgesunkenen Faschismus, der sich Milton Friedmans Rezepte für einen „reinen“ Kapitalismus umgehend zu eigen machte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde all das schnell vergessen, so wie sie in ihrer Anfangszeit viel vergessen wollte. In den achtziger Jahren gelangten kurze, dann auch längere Artikel, in denen die Gräuel der Folterer und Mörder detailliert beschrieben wurden, in einige Gazetten, wurden vergessen. Dann traten die Generäle ab, eine fragile Demokratisierung begann. Amnestie für Folterer und Mörder. Als P. zu Ende der neunziger Jahre in britischer Edelquarantäne saß, gab es Hoffnung, ihn endlich zu erwischen. Aber die stolzen Engländer trauten sich nicht recht, ihn im eigenen Land zur Verantwortung zu ziehen und ließen ihn laufen. Nun schiebt er Senilität vor, der greise Mörder, und verlebt in Ruhe, in Chile, seine alten Tage und seine Rente; wie die alten Mörder von Deutschland es taten.
- Sehr warm, spätsommerlich prächtiges Wetter.
12.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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