3
Dez

3.12.2002

Warum blieben mir von meiner Kindheit nur so wenige, und so vage, wie hinter einer Glaswand, in dem sich etwas spiegelt, das auch nicht zusammen zu bringen ist, und die die Gestalten und Räume, die hinter ihr schemenhaft existieren, erst recht verunklart, liegende Erinnerungen? Ist es doch bedauerlich, und mehr als das: traurig – wenn man vom Heute aus das Kind, das gewesen zu sein man der Unwahrscheinlichkeit, die man dabei empfindet, wenn man daran denkt, nicht ganz abstreiten kann, nicht betrachten kann. Ich wüßte doch gern, wie ich ausgesehen und wie ich bestimmte Wörter und Sätze ausgesprochen hatte, und die wenigen Fotografien, dich ich von mir im Kindesalter, also von einem Alter unter zehn Jahren, denn nur diese Lebensjahre gehören in meiner Vorstellung zur „richtigen“ Kindheit, besitze, vermitteln mir überhaupt gar keine Einsicht in mein kindliches Benehmen und Wesen und Empfinden und Sehen und Denken; irgendetwas muß ich doch schon in solchem Alter gedacht haben, und warum bleiben uns solche Kindheitsgedanken nicht erhalten, mit Ausnahme freilich einiger weniger. Andere Leute mögen aber einen größeren Erinnerungsschatz aufbewahrt haben; Sätze, in denen sich ein paar Gedanken in außerordentlichen Situationen oder Plötzlichkeiten geformt hatten und die schließlich in den Jahren des Älterwerdens sich nicht hatten von den Myriaden von Gedanken, von denen die überwältigende Mehrzahl sowieso nichts taugte (ich spreche nur von mir), die seither durch das Hirn schwebten, überlagern lassen. Aber auch diese prägnanten, vielleicht sogar prägenden Gedanken stehen mir zumindest gar keine zur Verfügung, jedenfalls nicht so unmittelbar abrufbar, und wenn sie das nicht sind, dann gehören sie vermutlich nicht zu dieser besseren Sorte von Gehirntätigkeit. Mir bleiben aus der Kindheit eher einige Bilder und Szenen, wie ich eine ja zu Beginn dieses Jahrs der Aufzeichnungen geschildert habe, vor dem inneren Auge. (Wieso schreibt man eigentlich nicht: Augen?) Und im Erinnerungsempfinden oder in den erinnerten Gefühlen, wobei en passant die Frage nach den Unterschieden zwischen Empfindung und Gefühl aufkommt, die man sich besser in Musils großem Buch annähernd beantworten läßt. Blieben also die visuellen Eindrücke besser als die sie doch wohl begleitenden und einordnenden Gedankenfetzen, -sätzen in meiner Innenwelt haften? So hängen die Gemälde der Alten Meister im Zwinger zu Dresden noch immer groß und prächtig in meinem Gedächtnisraum (auch ich hatte sie damals nur einmal, an einem Nachmittag in den frühen sechziger Jahren, betrachtet), aber das, was die Erläuterungen der Museumsführerin dazu an „Denkerischem“ in mir hervorgerufen hatten, ist mir gänzlich entflohen. Ich dachte – diese Möglichkeit sollte nicht ganz ausgeschlossen werden – wahrscheinlich gar nichts; oder nicht so viel, und von dem nichts, was der Aufbewahrung wert gewesen wäre? Aber das waren ja zwei Stunden einer, meiner, Zeit, die am Ende der eigentlichen Kindheit stattfanden und gehört demzufolge nicht mehr hierher. Eine Szene in den fünfziger Jahren ist sehr deutlich geblieben: meine Großmutter, meine Mutter und ich sitzen in einer Hochsommernacht am Küchentisch und meine Großmutter murmelt Gebete, während vor dem mit einer Gardine verdunkelten Fenster ein heftiges Unwetter donnert und blitzt und kracht und kaum enden will. Für mich war diese Naturentladung das Urgewitter, der Prototyp eines Gewitters gleichsam, meines Lebens, und sie hatte eine kräftige Impression in mein kindliches Gemüt geblitzt, und für Kinderjahre danach hatte ich immer ein etwas mulmiges Gefühl – oder „nur“ eine Empfindung? – , wenn diese sommerliche Erscheinung über die düstere Hemisphäre zuckte und – ein Phänomen, das mich faszinierte – zeitverzögert dann der Donner hin- und herrollte, von einer Ecke des Firmaments in die andere. So denkt und fühlt man sich in einem beginnenden Winter in glückliche Sommer zurück; die auch ihre Schatten hatten.
- Ein scheinbar immerwährendes Grau liegt auf diesen Tagen.
3.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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