15
Dez

15.12.2002

In der Mittagspause des Donnerstags ging ich durch die Stadt zu M.S., wie Manfred Schmidt bald nach seiner Ankunft im Herbst 1972 in Biberach bei den Genossen der politischen Gruppe genannt wurde. In dieser Zeit damals erhielt ich die Kürzel „KD“, wobei ich dann, als es sich etabliert hatte unter jenen, die auch in BC gegen „das Establishment“ waren, oft an KD Wolff, den früheren SDS-Aktivisten und späteren Verleger, denken mußte, dem ich das „KD“ keineswegs streitig machen wollte (und will). Ich ging zu M.S., um mir fünfzig Mark abzuholen, denn er hatte damit begonnen, seine Schulden aus der Karpfengassenperiode, die zunächst bei mir zu Buche geschlagen waren, in längeren Abständen an mich abzustottern, obwohl er kaum Geld, und das aus der Sozialhilfe, hatte, doch verlangte der Stolz, das zu tun. Es war ein heller und kalter Wintertag. M.S. hauste nun, nach einer anderen Zwischenstation, mit seinen Tieren in einer dunklen Bruchbude am Weberberg, in winzigen zwei Zimmern und einer Küche aus Urgroßmutters Zeiten, die zivilisatorischen Standards höhnisch zeigte, wie es auch noch ginge. Mich störten diese Wohnverhältnisse nicht. Er übergab mir das Geld, wir plauderten ein paar Worte, mit dem Bus fuhr ich zum Hühnerfeld. In der Wohnung angekommen machte ich mir etwas zu essen: Blut- und Leberwürste mit Kartoffeln. Meine Mutter sah ich nicht. Am frühen Vormittag war meine Mutter in mein Zimmer gekommen, um mich, der wieder die halbe Nacht „gesessen“ hatte, zu wecken. „Ich lege mich noch einmal hin“, hatte sie in schwachem Ton gesagt. „Tu das“, hatte ich geantwortet, noch im Bett liegend. Ich verzehrte das Mittagsmahl, trank Wein und einen Schnaps dazu. Die Mittagszeit verrann, ich hatte zu gehen. Ich streichelte noch einmal dem Kater über das Fell; er lag auf dem Küchentisch und blickte kaum auf. Ich verließ die Wohnung, ging die Treppe hinab, zur Wohnblocktür hinaus – und hielt inne.
Ein seltsames Gefühl war plötzlich über mich gekommen. Irgendetwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht. Ich kehrte um in die Wohnung, öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter. Sie lag in ihrem Bett, ein Bein war angewinkelt. (Seit wir diese Wohnung bezogen hatten, benutzte sie das „linke“ Bett der Doppelbettkonstruktion; in der Lindelestraße war es das rechte gewesen. Im linken Bett war ihre Mutter, meine Großmutter, gestorben.) Ich trat näher. Ein Grausen stieg in mir auf. Mein ahnungsvolles Gefühl hatte sich nun in einen kalten Zustand des Horrors angesteigert. Ich trat nahe an das Bett heran. Meine Mutter bewegte sich nicht. Die Augen waren halb geöffnet. Ich berührte sie an der Schulter, schüttelte sie ein wenig. Langsam stieg die Trauer und Verzweiflung in mir empor, füllten mich aus. „Mama“, sagte ich halblaut, dann, lauter, noch ein Mal: „Mama!“ Sie bewegte sich nicht. Ihre Augen bewegten sich nicht. Ich berührte sie an der Stirn; sie war schon erkaltet. Meine Mutter war tot. Sie war gegangen – für immer. Kein Leiden mehr, keine fruchtlosen Ermahnungen mehr für den unwirschen Sohn, die Einsamkeit war gewichen, sie ging dorthin, wohin wir alle gehen, wo niemand – ein Gott nur? – von uns weiß, wo auch das Nichts nichts ist. Ihre Augen unter den halbgeöffneten Lidern sahen an mir vorbei, das Leben hatte sich aus ihnen geleert, die Not, die Pein, die Freude, die Erinnerung. Das sind die Blicke der Ewigkeit. Ich stand und sah auf meine Mutter. Es war geschehen, was ich seit vielen Jahren gefürchtet hatte. „Möge dich dein Gott aufnehmen“, sagte ich zu ihr; etwas in dieser Art, ich erinnere mich nicht genau; in diesem Schlafzimmer, das für ein paar Sekunden wie aus der Zeit gefallen schien. Ging hinaus, in die Küche, wo der Kater herumstrich. „Panama, meine Mutter ist tot“, sagte ich zu ihm. Ich ging in mein Zimmer; was war jetzt zu tun? Ich ging zurück ins Schlafzimmer, sah auf meine Mutter, schloß ihr die Lider. Noch kamen keine Tränen, die Beherrschung, dies in den Alltag einordnen zu können, war vorhanden. Ich verließ die Wohnung und läutete gegenüber. Eine junge Frau öffnete, ich fragte, ob ich telefonieren könne, meine Mutter sei gestorben. Sie sah mich groß an, ließ mich herein. Ihre zwei kleinen Kinder spielten im Flur. Ich rief den Kinobesitzer an, sagte, was vorgefallen war; ich erhielt zwei Tage Urlaub. Er und meine Mutter hatten einander geschätzt; übrigens waren sie, in verschiedenen Jahren, am selben Tag geboren worden ... Der Arzt, den ich anrief, praktizierte im Nebengebäude. Ich dankte der Nachbarin, gab ihr eine Münze, ging in die Wohnung, die, wie mir unvermittelt bewußt wurde, jetzt mir gehörte, mir allein, von mir bezahlt werden mußte. Wartete in einem Zustand der Unwirklichkeit auf den Arzt. Er kam, trat an das Bett, sah auf meine tote Mutter, die eine seiner Patientinnen gewesen war. Erst kürzlich sei sie noch in der Praxis gewesen, sagte er leise. Ich hörte zunächst kaum richtig hin. Dann verhandelten wir, wie wir diesen Tod deklarieren sollten. Ich hatte schon die zurecht gelegten Kleider wahrgenommen: meine Mutter hatte sie über das Fußende des Bettes gelegt, in ihnen wollte sie bestattet werden; das war offensichtlich. Der Arzt, nervös, fahrig, diagnostizierte als Todesursache Herzversagen. Und das stimmte ja auch, ihr war das Herz gebrochen, über Jahre hinfort. Ich bestärkte den Arzt in seiner Formulierung für den Totenschein. Eine Obduktion käme gar nicht in Frage, ich wollte das nicht, sagte ich ihm. Der Arzt ging. Auch ich trat bald danach aus der Wohnung, ging durch den kalten Nachmittag; Rauhreif an Bäumen und Büschen. Ich ging zu einer anderen Straße unterhalb des Stadtfriedhofs in der Nähe, wo, wie mir bekannt war, ein Bestattungsunternehmen zu finden war, klingelte dort. Beauftragte diesen Dienst. Kehrte um. Meine Erregung hatte den ganzen Körper erfaßt, ich zitterte innerlich. Meine Mama war tot. Kein Abschiedsbrief in der Wohnung zu finden. Die schwarz gekleideten Männer des Bestattungsunternehmens kamen, in gedämpften Worten redend. Sie nahmen meine Mutter aus dem Bett – das war doch meine Mutter ! – und trugen sie, wie ein Stück Holz, wie einen Teil einer Pieta, die Treppe hinunter, ich folgte ihnen ein Stückchen nach, wie kann man einen toten Menschen, wie kann man Mama so durch das Treppenhaus tragen, wie eine Puppe, wie einen Einrichtungsgegenstand, dachte ich entsetzt. Ich flüchtete in die Wohnung. Sie hatten Mama fort getragen – für immer. Sie hatte mich verlassen. „Ich lege mich noch einmal hin“ – das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört hatte. Keine Chancen mehr für Worte von mir. Warum war es nicht möglich gewesen, noch über so vieles miteinander zu sprechen? Irgendwann hätte es doch noch möglich sein müssen.
Später, der Tag dunkelte bereits, man schrieb den 15. Dezember 1983, entdeckte ich in einer Schlafzimmerecke eine der Schachteln. Ich versäumte, Frau H., die langjährige Freundin meiner Mutter, anzurufen. Aber am nächsten Tag war sie in der Wohnung. Sie hatte von Tante E. davon erfahren. Sie fand eine andere Schachtel.
- Wintergrauer Tag.
15.12.2002

14
Dez

14.12.2002

In den ersten Monaten des Jahres 1990 versuchten der Philosoph Kraft, der Maler Pavle B. und ich – Stefan H. in Berlin gehörte auch zu den Initiatoren – ein „Kreatives Forum“ in der Biberacher Kreisstadtkunstszene einzurichten. Der Veranstaltungsort dafür war das große Maleratelier von Pavle in einem der Gebäude auf dem Grundstück von Uli G. am Bismarckring (in einem der Häuser hatten sechzehn Jahre zuvor Falk, Gerd und Heinrich gewohnt, und 1990 wohnte Heinrich nach wie vor im Dachgeschoß), das sich in der Bebauung zur parallel zum Ring verlaufenden Mondstraße ausbreitete. Das Atelier in einem lang gezogenen Backsteinbau (eingeschossig, mit einem Dachboden aber) erstreckte sich längs des linken oberen Endes der Mondstraße (wenn man von unten, von der Wieland-Straße, die ansteigende kleine Straße hinaufgeht) und hatte einen kleinen büroartigen Raum innerhalb dieses Ateliers, in dem Pavle saß und las oder einen Whisky zu sich nahm, wenn er eine Pause einlegte. Den ersten der Abende, die über’s Jahr folgten, bestritt ich, eingeleitet mit der Lesung von Celans „Todesfuge“ und eigenen poetischen Versuchen, dann las ich eine im Jahr 1979 oder 1980 entstandene längere Geschichte, die von der Lektüre einiger Prosawerke Stifters angeregt worden war. Eine größere Anzahl von Neugierigen und Kunstinteressierten – Künstler, Lehrer, der Lokalchef des Ortsblattes (Redakteur D.) und andere – saßen auf Holzstühlen an groben Holztischen, tranken Bier und Wein und hörten sich das an. Zwei Tage später lobte der Zeitungsmann diese „neue Initiative“ in der Stadt und wir planten die nächsten Abende. In einem zeigten zwei blutjunge Gymnasiasten, Christoph H. und Lukas S., ihren zweiten Amateurvideofilm, wieder, wie schon ihr erster, der 1989 im „Sternchen“ gespielt worden war und viel Volk zum Kinogehen veranlaßt hatte, eine Agentenfilmpersiflage. Ein anderes Mal trug Kraft etwas vor, danach sprach der Künstler Heilig über die seiner Meinung nach unzulässige Art der Altstadtsanierung samt pastellfarbengeschönter Fassadengestaltung. Herbert Meise – der etliche Jahre später in unserem Film den Mephisto mimen sollte – trug seine skurril-schwarzen Minidramen vor. So kam der Herbst herbei. Er traf mich in niedergeschlagener Stimmung an. Mein schöner Kater, der so einen guten Charakter hatte, war sehr krank geworden. Er, der alle die Jahre seit 1976 mein treuer Gefährte gewesen war, hatte stark abgenommen, die Konsultation der Tierärztin hatte keinen hinreichenden Befund ergeben, aber ich fürchtete das Schlimmste. Anfang November hielt Klaus Leupolz im VHS-Gebäude einen satirischen Vortrag über Zombies. Der Weitgereiste, der auch Lateinamerika kannte, sich im Lande Panama auf dem Isthmus auf einem Schiff als Smutje eingeschifft hatte, fand die Zombies jedoch eher unter der westeuropäischen Alltagsbevölkerung als auf Haiti und in der Dominikanischen Republik („Papa Doc“ Folterstaat), und wäre ich – Meise und ich hatten uns mit Theaterschminke zu Zombies hergemacht, und vor lauter Kummer fühlte ich mich wie ein Untoter – mit meinen Gedanken nicht immer bei meinem armen Kater gewesen, der in den diesem Tag vorgelagerten Stunden sich schon immer wieder im unteren rechten und schubladenfreien Bereich des Schreibmaschinentischchens verkrochen hatte, wie es Tiere tun, wenn sie sterben, hätte ich mehr schmunzeln können; so aber hockte ich verzweifelt auf dem Stuhl, während die andere Zuhörer vor sich hin grinsten. Während der sich anschließenden Zusammenkunft in einer Gaststätte um die Ecke bewegte ich mich wie in Trance; betäubt von dem Gedanken, daß ich am nächsten Tag den Kater einschläfern lassen wollte. Doch ich wollte es gar nicht tun müssen. Alles in mir widersetzte sich diesem Gedanken, und doch wollte ich das Tier nicht länger leiden lassen. Aber litt er denn? Gab es kein Mittel, ihn gesund zu machen? Seine grünen großen Augen waren jetzt schwarz, aber kein Laut des Klagens war zu hören. Sehr dünn war er geworden, mein „Dicker“. Hatte er Krebs? Mit gedämpftem Bewußtsein hockte ich in der angeregten Runde und fürchtete mich vor dem folgenden Tag. In der Nacht streichelte ich den Kater, und er verkroch sich wieder in den Hohlraum, den der Schubladenteil des Schreibmaschinentischchens unten wegen der vor Jahren schon herausgenommenen Laden bot. Ich betäubte mich mit Whisky, nachdem ich in der Wirtschaft schon etliches an Alkohol konsumiert hatte. Die Nacht schwand ..., ich schlief dem Morgen entgegen, der graue Anfangsnovembertag legte sich über das Land, am Nachmittag fuhr Thomas G., der zuhause zu erreichen war – am Abend zuvor hatten wir vereinbart, daß ich ihn anrufen würde, wenn ich ihn tatsächlich an diesem Tag brauchen würde – , den Kater und mich zur Tierärztin nach Ummendorf (eine stattliche ländliche Gemeinde südlich von Biberach). Der Kater sträubte sich in meinen Armen, wie er es immer getan hatte, wenn wir in einem Auto gesessen hatten. (Schon zwei Jahre zuvor hatte ich ihn einmal schnell zu dieser Tierärztin gebracht, weil sein ganzes Fell am Darmausgang verklebt war und er nicht mehr seine Notdurft hatte verrichten können. Damals war höchste Eile geboten gewesen.) Und dieses Mal ... (Als ich ihn von der Karpfengasse 24 im Sommer 1978 in einer Reisetasche, die neben mir auf einem Bussitz gestanden hatte, transportiert hatte und ich an der Haltestelle vor dem gelbgrünen Wohnblock mit der Wohnung meiner Mutter darin, die ab diesem Monat auch wieder die meine zu werden begann, ausgestiegen war, hatte sich der Lümmel doch hurtig aus der natürlich nicht geschlossenen Tasche herausgewunden und war mit langen Sätzen über den Gehweg entfleucht; ich war, selber große Sätze machend, ihm hinterhergejagt und hatte ihn am Nackenfell ergreifen können. In die Tasche hatte er nicht mehr wollen, also hatte ich ihn, der ganz schön groß war und mühelos auf der Platte des Holztischchens, das Herbert K. mir bei seinem Auszug aus der Karpfengasse eineinhalb Jahre davon überlassen hatte, nach etwas hatte fischen können, wenn er sich auf den Hinterbeinen erhob, in den Armen, ihn gut festhaltend, in die Wohnung, zu der es glücklicherweise nur ein paar Schritte gewesen waren, getragen.) „Können wir nicht doch noch etwas machen?“, fragte ich, in hoffnungsloser Stimmung, die Tierärztin, „was hat er denn nur?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sehen Sie, es ist ja gar nichts mehr an ihm dran“, entgegnete sie in nicht eben gefühlvollen Worten. Panama hüpfte über den Tisch und floh vor dem Tod. Ich mußte ihn einfangen. „Nehmen Sie ihn auf die Knie und streicheln Sie ihn“, sagte die Veterinärin. Ich brach in Tränen aus, als sie die beiden Spritzen setzte. Ich streichelte und fühlte, wie mein armer Freund schlaffer wurde. Es war schrecklich. Thomas verließ den Raum. „Ich konnte den Anblick nicht ertragen“, sagte er ein paar Tage später. Ich wartete. Mein Kater war tot. Ich trug ihn ins Auto. Ging zurück, um die Tierärztin zu bezahlen. Sie schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung. Vielleicht haben Sie ja mal wieder ein Tier, und dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin, falls nötig.“ Ich dankte ihr, nun gefaßter. Während der Rückfahrt, als Panama auf meinen Beinen lag, glaubte ich plötzlich, noch eine Regung zu spüren; aber er war tot. Ich bahrte ihn in der Wohnung in einem Karton, der auf dem Teppich mitten im Zimmer stand, auf. Ich mußte zur Arbeit. In einer Pause telefonierte ich mit Elian, die mir den Kater im Sommer 1976 geschenkt hatte. Sie wohnte wieder in ihrem Elternhaus in Reinstetten östlich der Stadt. Ob sie eine Stelle wüßte, wo der Kater seine Ruhestätte bekommen könnte. Sie sagte, ich solle anderntags kommen. Nachts betrachtete ich den toten Kater. Vierzehneinhalb Jahre waren wir zusammen gewesen. Ich fotografierte ihn. Als Grabbeigaben legte ich eine Dose Katzenfutter und eine Minipackung Milch in den Karton. Mit der IBM schrieb ich ein Gedicht, das ich dazu legte. Ich machte keine Kopie davon. Dieses Gedicht war nur für Panama.
Am Nachmittag des nächsten Tages konnte ich für drei Stunden der Kinoarbeit fern bleiben. Ich holte einen Spaten aus dem Anbau am „Filmtheater“. Thomas und ich fuhren nach Reinstetten. Dort im Gastraum der stillgelegten Wirtschaft, die Elians (und Joachims) Eltern betrieben hatten, tranken wir ein paar Gläser Trollinger auf den Kater. „Dann brechen wir jetzt auf“, sagte die alte Freundin. Wir erreichten in zwei Autos ein abgelegenes Waldstück in der Nähe des Dorfes und gingen eine kleine Strecke auf einem Weg hinein. Oberhalb seines Verlaufs, an einem Hang, grub ich ein Loch aus, in dem der Karton Platz hatte. Ich senkte ihn in die Erde, schüttete die ausgehobenen Brocken der oberschwäbischen Krume darüber, trat alles fest, pflanzte etwas Gras und Gesträuch darauf, damit die Stelle nicht zu erkennen wäre. Regnerisch war es an jenem Tag. Ich hoffte, das Aufgepflanzte würde anwachsen. Wir fuhren in die Stadt zurück. Meine Stiefel waren mit Lehm beschmiert, ich wischte sie ab, als ich den Spaten in den Geräteanbau stellte. Ging ins Kino und führte Filme vor.
An die Zeilen des Gedichts, das ich in jener Nacht schrieb, konnte ich mich nie mehr erinnern. Es war für alle Zeit nur für Holden Panama Johnson geschrieben worden.
- Unangemessen heiteres Wetter.
14.12.2002

13
Dez

13.12.2002

In einer anderen Nacht, in einem viel späteren Jahr, ganz am Ende des Januars von 1996, saß ich im Einzimmer-Appartment – ich sage doch eher „Einzimmerwohnung“ dazu, alles andere klänge ja nur übertrieben – wieder über einer Lektüre, als das Telefon klingelte. Am frühen Abend des hinter der Mitternacht versunkenen Tages war ich bei Klaus Leupolz gewesen, der beabsichtigte, am folgenden Tag zu einer Australien- und Asienreise aufzubrechen, um noch einmal die Länder, Regionen und Stätten zu sehen, die er als jüngerer Mann in den sechziger und siebziger Jahren bereist hatte. Sein jüngerer Bruder Helmut, der die Fünfzig überschritten hatte, war anwesend gewesen; wir kannten uns schon, von einer Begegnung bei Klaus L. einige Zeit zuvor; sie hatten noch Details für die mehrmonatige Abwesenheit von Klaus besprochen, und ich war hinzugekommen, um ihn zu verabschieden. Anschließend war ich ins „Cafe Weichardt“, nur ein paar Schritte vom Leupolz-Haus entfernt, gegangen, wo ich Jürgen Kraft, den Philosophen, sah; er hatte mich danach in die Amriswilstraße gefahren. Ich saß über einer Lektüre, über welcher, das weiß ich nicht mehr, als das Telefon seine absonderliche Lautfolge absonderte. Ich hob ab, verwundert, wer zu solch fortgeschrittener Stunde noch anrief. „Mir ...isch ... was ... passiert ...“, hörte ich die leise und gequält sich anhörende Stimme von Klaus, den ich, seine Abreise am nächsten Tag bedenkend, längst schlafend wähnte; ich erschrak. Mühsam, stockend, erklärte er mir, daß er auf der steinernen Kellertreppe gestürzt, aber nun oben in der Wohnung sei. „Verhalte dich ruhig“, sagte ich, „ich rufe den Notarzt an.“ Ich erkannte sofort, daß er dazu kaum in der Lage war, und telefonierte mit dem Roten Kreuz. Sie sagten, sie kümmerten sich umgehend um den Verletzten. Ich rief Klaus an, er konnte abheben, ich teilte ihm mit, der Arzt und die Helfer kämen sofort; ob er in der Lage sei, ans Fenster zu gehen und den Hausschlüssel hinunterzuwerfen? Er sagte undeutlich, das sei möglich. Ich versicherte ihm, daß ich in einer halben Stunde wieder beim Notdienst anriefe, um zu erfahren, ob der Transport ins Krankenhaus auch vollzogen sei. Wie dieser Sturz hatte geschehen können, wußte ich nicht. Ich hoffte nur, daß alles klappte. Nach der Frist telefonierte ich mit den Leuten vom Roten Kreuz. „Ja, wir haben den guten Mann ins Krankenhaus gebracht“, sagte der Diensthabende in der Riedlinger Straße, wo sich die Rettungsstelle befand, „dort wird er jetzt untersucht.“ Ich war erleichtert, fragte mich aber, was genau vor sich gegangen war. Beunruhigt legte ich mich zur Nachtruhe nieder. Am nächsten Tag fuhren Thomas G. und ich zum Krankenhaus, fanden das Zimmer, in dem unser Freund untergekommen war. Er lag im Bett, mit einem Verband um den Kopf; die rechte Gesichtshälfte war rot und bläulich, er hatte Abschürfungen und Prellungen erlitten. Erklärte, immer noch mit einiger Mühe formulierend, er habe noch einmal nachsehen wollen, ob das Wasser auch wirklich abgestellt worden sei (nachts war es frostig), bevor er abreise. Plötzlich sei er gestürzt. (Stand die mittlere Wohnung seines Hauses zu dieser Zeit auch unvermietet leer? Ja. Die im ersten Stock war inzwischen auch unbewohnt, aber noch belegt; der lang-jährige Mieter, Herr G., war im Januar ins Krankenhaus oder Pflegeheim gekommen, im Alter von mehr als achtzig Jahren.) Ich ging hinaus auf den Krankenhausgang und wartete darauf, daß einer der Ärzte vorbeikäme. Einer kam, ich fragte, was diagnostiziert sei. Ob ich zur Familie gehörte? Ich sei ein sehr guter Freund. „Bedaure“, entgegnete der etwa dreißigjährige Arzt, „Sie sind nicht befugt, Auskünfte zu erhalten.“ Aber sagte vage, sie hätten etwas im Kopf entdeckt. „Sicherlich ein Anzeichen für einen Schlaganfall?“, hakte ich nach. Das stelle sich noch heraus, er könne darüber nichts sagen. Er ging weiter, ich betrat das Krankenzimmer und sagte von dieser halben Auskunft nichts. Nach einer Weile verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, übermorgen wieder zu kommen. Nach ein paar Tagen wurde Klaus L. nach Ravensburg ins Elisabethen-Krankenhaus verlegt. Manfred S. und ich fuhren hin. Er konnte wieder gehen, saß mit uns in der Cafeteria, verzehrte auch ein Stück Kuchen. „Operation“, sagte er. Ein Hirntumor war festgestellt worden. Ich war entsetzt, Manfred sah betreten drein. Klaus ließ sich nichts anmerken, wie es seine Art war. Er nahm es hin. Er wurde operiert. Danach besuchten M.S. und ich ihn wieder. Eine halbrunde Narbe war in der Schädelhaut zu sehen. Haare hatte er ja fast keine mehr gehabt. Sonst keine Zeichen der Krankheit. Er saß mit uns in der Cafeteria. Wir redeten über Biberacher Begebenheiten. Er blieb noch einige Zeit in der Klinik, kam dann zurück in seine Wohnung. (Die Anspannung vor der fix und fertig geplanten Reise hatte den Tumor wohl aktiviert und der, beziehungsweise die Situation im Kopf, hatte dann den Sturz verursacht. „Einen Bollen haben die da rausgeholt ...“, sagte er zu M.S. und mir. Er ging zum Einkaufen, besuchte meine Lesung im März. Im April flog er, allein, mit kleinem Gepäck, nach Australien, zu Freunden von früher. „Wann, wenn nicht jetzt?“, sagte er in den Tagen davor zu mir. Er rief mich im Mai an, vom Flughafen in Sidney, er fliege nun nach Malaysia. Dort trampte er durch den Dschungel. War in Kuala Lumpur bei Bekannten. Er hatte Adressen in dieser Weltgegend. In Thailand suchte er den Tempel auf, in dem er vor Jahrzehnten als buddhistischer Mönch auf die vierte Stufe der Erkenntnis gelangt war. Nach fast drei Monaten war er zurück. Auch in Asien sei es nicht mehr so wie damals in den Sechzigern, sagte er enttäuscht. Aber so manches kleine Abenteuer hatte er noch einmal erlebt. In englischer Sprache schrieb er einen mehrseitigen Text darüber. Ich tippte ihn im Sommer von 1997 in den Computer (ein altes gebrauchtes Ding, das ich Jahre zuvor von Ralph H., Stefans Bruder, übernommen hatte). Mein Nadeldrucker war kaputt. Raphael S. druckte den Text auf seinem Gerät aus. Nach diesem Sommer dehnte sich das Gliablastom trotz zweiter Operation aus. Klaus bekam Cortison. Er wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte.
- Sonnig und kalt. Minus 3 Grad.
13.12.2002

12
Dez

12.12.2002

Und noch etwas sagte meine Mutter in jener Nacht zu mir: „Ich will doch auch, daß du glücklich wirst.“ Es war dies ein Satz, der sich aus dem Gespräch heraushob; das nicht nur eine nicht besonders bedeutende Wendung hin zur Gottesfrage genommen hatte, sondern auch, wahrscheinlich, weil ich, unglücklich über Tills Unauffindbarkeit und verweigernde Haltung, eben auf das Glücklichsein auch kam, und ich, erbittert und vom Wein nicht gemildert, sagte, daß ich mir schon einen anderen „angelacht“ hätte; sie hatte vom Affärchen mit T. natürlich nicht die geringste Ahnung gehabt; und es stimmte auch gar nicht, was ich da behauptete. Wieso sagte ich es dann? Um mir selbst eine Illusion aufzubauen? Es war einer dieser Augenblicke, in denen man sich selber einredet, es müsse doch so sein. Ich vermutete in jenen Jahren, daß meine Mutter sich Vorwürfe machte, daß ich „so“ geworden sei, eben diese „Neigung“ hatte, schon immer gehabt und nicht erst „erworben“ hatte, denn sie hatte einmal herausgelassen, was sie in meiner Erziehung falsch gemacht habe. „Nichts“, hatte ich darauf geantwortet, um ihr wenigstens diesen Kummer auszureden. Es gebe verschiedene Theorien darüber, niemand wisse im Grunde darüber etwas Verbindliches, etwas Gültiges, es sei eben, wie es sei, und keiner könne auch dafür. Was aber in jener Nacht zutage trat, war, so begriff ich es auch sofort, ihre Akzeptanz meiner „Veranlagung“. Es muß lange in ihr gearbeitet haben, bis sie sich zu dieser mütterlich-liebenden Einstellung hatte durchringen können. Ich wußte auch, daß sie seit Jahren darunter litt (eine Sorge und Enttäuschung mehr), daß aus mir „nichts wurde“, wie es ganz offensichtlich den Anschein hatte. Obwohl sie nie ein Wort darüber verlor, konnte ich mir denken, daß sie meine Filmvorführerexistenz nicht eben als das ansah, zu dem ich in ihrer Vorstellung befähigt war. Sie dachte, ich sei vom Weg abgekommen und fände nun nicht mehr auf einen anderen; oder dachte sie das nicht? In jener Zeit benahm ich mich nicht immer so, wie ein Sohn, mit seiner Mutter, die zudem leidend war, umgehen sollte. Ausbrüche von Jähzorn ließen sie in Tränen zurück. Ich haßte mich dann nur noch mehr. Es war eine sehr schwierige Zeit. „Früher warst du so nett, und jetzt bist du so böse“, hatte sie an einem Tag irgendwann vor dieser Nacht traurig gesagt. Mein Gemüt war verfinstert. Und ich wußte ja: an dieser Entwicklung war ich selber schuld; insofern man schuldig wird, wenn man versucht, andere Wege als die Herde zu gehen und an etwas festzuhalten, trotz aller Widrigkeiten, das man als seine Lebensbestimmung sieht. Meine Mutter war aber auch halbwegs froh, daß ich wenigstens diesen Job hatte, wenn er auch kaum Geld einbrachte. Das war das Unbefriedigende an dieser Arbeit: keine Zeit mehr und dennoch kein ausreichendes Geld zu haben; denn natürlich zahlte ich vom kargen Gehalt, das weit unter tausend D-Mark betrug, meine Schulden ab, und was ich hatte, wurde versoffen, oder, selten genug, in Bücher investiert. „Ich werde nie glücklich werden“, war meine Antwort auf ihre Hoffnung, und ich fürchte, so kam es auch. Wobei man sich freilich darüber unterhalten kann, was als „Glück“ zu bezeichnen wäre; was dem einen als Glück gilt, ist für einen anderen nur eine abgeschmackte Selbstverständlichkeit, nicht des Redens und Schreibens, in Form von Liebesbriefen vielleicht, wert; jeder hat seine eigene Vorstellung vom Glück und seinen Ingredienzien, wenn er sie nicht sowieso unerfragt sofort aus den Klischees des Alltäglichen nimmt.
- Schönes Wetter, kalt, blaue Dämmerung.
12.12.2002

11
Dez

11.12.2002

Im Herbst 1983 hatte sich der Zustand meiner Mutter, nach einem trügerischen inneren Aufschwung im Sommer 1982 und danach, wieder verschlechtert. Ihre Depression, ihre Selbstvorwürfe und die Vorwürfe vermutlich auch an ihr früher Nahestehende (auch an mich, die sie mir gegenüber nicht äußerte, die ich nur zweimal über Dritte erfuhr), die sie sich wegen der christlichen Demutshaltung ja nicht erlauben durfte, wie ich ihre Lebenseinstellung einschätze, hatten sich zu einem unauflöslichen Syndrom selbstquälerischer Verzweiflung zusammengeballt, und sie verfiel zusehends auch körperlich. Aß kaum noch, lag in ihrem Bett, auch auf der Coach im Wohnzimmer, „schlafen, schlafen ...“ Ich hätte mich intensiv um sie kümmern müssen und war dazu nicht in der Lage. Seit Jahren schon fühlte ich mich von ihrem immerwährenden Krankheitszustand fast belästigt und krankte selbst an solchen Gedanken und verstohlenen Empfindungen, die ich mir kaum eingestehen durfte; ich litt mit ihr und wollte doch nicht auch noch wegen der Lebensmüdigkeit meiner Mutter verzweifeln müssen; ich war oft unleidig und verhalten aggressiv gegenüber meiner Mitwelt, in mir brodelte die Unzufriedenheit mit meinem Leben, mit dem Job, der mir kaum Luft für meine literarischen und erotischen Bedürfnisse ließ, mit der Enge des Kaffes Biberach, in dem es keine jungen Schwulen gab, mit meiner komplizierten Art, die Verhältnisse zu sehen und immer ergründen zu wollen, wo doch die ganze Welt nur besinnungslos drauflos lebte und tat, was sie für richtig hielt, ohne Rücksichten auf meine feineren Gefühle und moralischen Ansprüche. Längst vereinsamt durch ihre schlechte Verfassung, obwohl noch nicht ganz ohne Bekanntschaften, wußte sie – aber letztlich konnte und kann ich das wiederum nicht genau wissen – nicht, wie sie mit ihren Gefühlen für ihren Sohn, an dem sie inzwischen sehr wohl sein Leiden an den Verhältnissen erkannt hatte, und daß er nicht zu den einfach gestrickten Leuten gehörte, umgehen sollte; einerseits versuchte sie sich, wie so viele Mütter, unbewußt an ihr Kind zu „klammern“, andererseits war ihr klar, daß ich mein eigenes Leben zu leben hatte und der Ablösungsprozeß, von meiner Seite seit Jahren Stück für Stück betrieben, und von ihrer Seite aus unumgänglich war. Und sie akzeptierte das auch, versuchte es jedenfalls, hatte mir ja in den Siebzigern alle die Freiheiten gelassen, die ich beansprucht hatte, aber tiefinnerlich konnte sie es nicht, wie auch ich das nicht wirklich konnte. Wir hingen aneinander auf immer schmerzlichere Weise. Ich übernachtete wieder häufiger in meinem Zimmer in der gemeinsamen Wohnung, weil ich mich auch von der Kinoatmosphäre distanzieren wollte, weil ich nun „Kino“ oft kaum ertragen konnte; meine vieljährige Sympathie und Leidenschaft für „Kino“ hatte gelitten. Im Herbst 1983 hielt ich mich fast nur noch tagsüber für einige Minuten in der „Kinokammer“ auf, wie es die Arbeit eben erlaubte. Außerdem war es kalt geworden und ich hatte nicht das Geld für die genügende Menge Briketts, die notwendig gewesen wäre, die kleine Bude durchgehend zu beheizen. Nach der Arbeit mußte ich, sofern es sich zeitlich noch lohnte, durch die Kneipen ziehen, in den tiefen Samstagabendnächten stand ich, mit einem Glas Rotwein in der Hand, im Flackerlicht der Diskothek „Wurzelmax“ in Warthausen, bis ich eine Rückfahrgelegenheit in einem Auto hatte. Martina G., Schwester von Thomas G., mit der ich vom „Storchen“ nach Warthausen gefahren war, fragte mich in einer dieser Nächte, wie es meiner Mutter gehe. „Schlecht, aber das ist mir egal“, antwortete ich roh. Ich war voller Zorn und Verachtung für alle Welt. In einer anderen Nacht im späten November kam meine Mutter in mein Zimmer, sie konnte eben nicht schlafen, die Unruhe ließ sie durch die Wohnung streifen, sie sah nach, was ich tat. Ich saß an der IBM – aber stand sie nicht auf dem Schreibmaschinentischchen vor dem Dachfenster der Kinokammer, wie immer in jener Zeit, oder hatte ich sie mittlerweile wieder in die Wohnung geschafft? – und tippte, nachts nach zwei Uhr, noch an einem Text herum, Kater Panama lag schlafend unter der Schreibtischlampe neben der Schreibmaschine, Zigarettenrauch hing im Zimmer, die Rotweinflasche war halb voll. „Du sitzt ja noch immer“, sagte meine arme Mutter, die abgemagert war, und ihre Gesichtszüge – die in ihrer Jugend so hübsch und ebenmäßig gewesen waren, wie ich sie auf ihren Fotos vor langer Zeit gesehen hatte – waren sehr scharf geworden. Sie dauerte mich zutiefst. „Und rauch nicht so viel, du wirst noch krank werden“, sagte sie mit schwacher Stimme. Ich stand mit dem Weinglas in der Hand auf und trat beruhigend an sie heran. „Irgendwann muß ich doch was machen“, entgegnete ich, halb resigniert, weil ihre Ängste mich eben nicht kalt ließen, und ich konnte sie ihr aber auch nicht nehmen, „sonst kommt ja nie etwas zustande.“ Wir gerieten plötzlich, ich weiß nicht mehr wie, in ein kurzes Gespräch über den Segen, der zu einer Arbeit gehöre und Gott, und dieses Thema konnte ich nicht leiden. Mußte sie mir noch immer damit kommen, wo ihr meine Ansichten dazu seit langem geläufig waren? Von solchen Äußerungen fühlte ich mich peinlich berührt. „Es gibt keinen Gott“, sagte ich und trank einen Schluck. Meine Mutter – wieso mußte ich ihr das antun? – trug ihren Schmerz und ihre Trauer im Gesicht, als sie sprach: „Wenn du wüßtest, wie weh mir das tut, wenn du so etwas sagst. Natürlich gibt es Gott.“ „Geh nun schlafen“, sagte ich zu ihr, „geh schlafen“. „Du aber auch bald“, forderte sie bittend und verließ das Zimmer. Ich trank die Flasche leer, tippte dazu ein bißchen auf der IBM – wenn ich denn tippen konnte, und wenn nicht, las ich weiter in einer Zeitung, nur dieses nächtliche Gespräch, gespensterhaft, blieb in meiner Erinnerung – , verfluchte den Umstand, daß es ja tatsächlich schon wieder so spät war und ich nichts mehr machen konnte und um neun Uhr wieder aufzustehen und mit dem Stadtbus zum Kino zu fahren hatte, um dort Maschinen zu putzen und andere sinnlose Zeitverschwendungen zu praktizieren.
- Schönes Sonnenwetter, blauer Himmel, kalt.
11.12.2002

10
Dez

Bild: Peter Waibel

Peter-WaibelRIMG0017

9
Dez

9.12.2002

Auf der anderen Seite des kleinen Dachbodenflurs, von dem aus diese Kammer zu betreten war (rechts vor ihrer Tür ging ich manchmal in die enge Toilette hinein), liegt der sehr viel größere Teil des Dachgeschosses, ein langer Raum, in dem das Observatorium eingebaut worden war. Das „Filmtheater“ vorne an der Waldseerstraße war in den Jahren 1939 bis 1941 erbaut worden; die lange Bauzeit erklärte sich daraus, daß zu Kriegsbeginn die Rohstoffe knapp geworden waren. Ein Luftschutzbunker befindet sich noch heute unter dem Kino. Das „Urania“-Kino war am 31. Dezember 1955 mit dem vom Kinoerbauer, Filmregisseur und Astronomen Anton Kutter Mitte der fünfziger Jahre fertig gestellten Film „Das Lied von Kaprun“ eingeweiht worden. Anton Kutter war der Erfinder des „Kutterschen Schiefspieglers“, was Sternguckern etwas sagen dürfte. Die Sternwarte war zunächst von einem Professor Strauß – wie oft denke ich an die Gaststätte gleichen Namens! – und Anton Kutter in Pullach – Kutter sen. hatte sich während seiner Zeit bei den Bavaria-Studios oft in München aufgehalten – errichtet und einige Jahre später, als wegen der unklaren Nachatmosphäre über der kleinen Großstadt München die Sicht ins Weltall nicht mehr möglich gewesen war, zeitgleich mit dem Bau des „Urania“-Kinos an die Saudengasse geschafft worden, wo sie für etliche Jahre, bis in die Sechziger, noch in Betrieb blieb, freilich nur für Privatforscherzwecke. Dann war eine Sternbeobachtung auch in Biberach, wegen der zunehmenden Helligkeit des nächtlichen Stadtgebiets, neben anderen Gründen auch, nicht sinnvoll, die Sternwarte hatte ausgedient. Ihre silber glänzende Kuppel charakterisiert das Gebäude. „Urania“, „Sternchen“, „Stardust“ – diese Kinonamen leiten sich natürlich aus dem astronomischen Interesse des Regisseurs Anton K. ab, den ich noch als alten Herrn zuweilen sah, als ich Ende der Siebziger meine Vorführerexistenz allmählich begann. Also besitzt dieses Kino einen mythologischen „Urgrund“. Urania, die Muse der Sternkunde, wacht über ihm, und da Uranismus in früheren Zeiten das Wort für „Homosexualität“ war, paßte ich ja ganz gut in dieses Haus ... Auch in der Liebe tat sich hier etwas, unter der Dachschräge ..., und vielleicht, weil „Urania“ der Beiname der Aphrodite, der Göttin der Liebe, ist? Übrigens schuf Anton Kutter 1937 einen der ersten „utopischen“ Filme: „Weltraumschiff 1 startet“. Es startete und landete nach dem Flug zum Mond am Bodensee, weil dort die Zeppelin-Werke standen. Ich führte die alte Kopie einmal im „Sternchen“ vor, sie knatterte und schnatterte in der Lautstärke eines startenden Zubringerschiffs, dessen Antrieb nicht weiß, ob er nun auf volle Kraft schalten oder den Start abbrechen soll. Dann wurde sie wieder sorgfältig, denn sie ist eine echte Rarität, in ihre braune Schachtel gelegt und aus dem Vorführraum getragen.
- Sonnig, blaue Atmosphäre, Kälte.
9.12.2002

8
Dez

8.12.2002

Dösen ... Im hohen Sessel, der etwas nach hinten wippen kann, wegdösen ... Sehr fern, wie durch die undurchlässigen Okulare eines Fernglases, die Halb- und Viertelsfiguren, die heranschleichen, nein: nur ihre Stimmen, nur eine Idee von ihnen; sie sind gar nicht, nie, ausgeformt, ausgebildet in der Schwärze, in seltsamen Wortkombinationen, plötzlich in einer sich sehr sinnvoll vom Beobachter in der oberen Ferne, von dem man nun noch immer weiß, daß er doch das eigene Ich ist, anhörenden Äußerung einander Vorschläge machen, Pläne schmieden, deren Sinn noch nicht erkannt werden kann, und kommen andere Stimmen hinzu, vage Umrisse in der gleichbleibenden Schwärze dieses fremden, fernen Marionettenspieltheaters, das winzig klein ist, nur bruchstückhaft in einem anderen, entrückteren Zeitverlauf zu entdecken... Schwere, wohlige Schwere; größere Bestandteile des halb schlummernden Bewußtseins sinken immer tiefer in die schwarze Welt hinein, zu den Stimmen, den nur da und dort fertigen Umrissen ... Man sagt etwas zu ihnen, denkt sich ihnen zu, sie hören offenbar nichts ... – „Ich habe hier gewohnt“. „Ja.“ „Ich kann mich nicht entsinnen.“ –
... In einer Nacht im Jahr 1979 nahm ich aus der Kneipe, in der ich mich zu dieser Zeit bevorzugt aufhielt, einen jungen Mann mit in die Wohnung, die meine Mutter und ich seit Herbst 1975 auf dem Hühnerfeld hatten; in mein Zimmer. Seit einiger Zeit kannte ich ihn, der um fünf oder sechs Jahre jünger als ich war, und mit dem ich mich über Literatur und Film unterhalten konnte und der eigentlich nicht der Typus war, der mich erotisch ansprach, aber wir kamen gut und freundschaftlich auf einer unverfänglichen Ebene miteinander aus; bis wir an jenem Abend, aufgrund welcher Ursache auch immer, auf das schwule Thema zu sprechen kamen, ein Wort das andere ergab, was eine gewisse unterschwellige Stimmung herstellte; kurz und gut, der junge Mann war neugierig und hatte es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, den schwulen Sex einmal auszuprobieren. Auch der inzwischen konsumierte Rotwein war daran beteiligt, bei ihm, bei mir. Wir stiegen spätnachts vor der Kneipe in ein Taxi, das der Tresendienst für mich bestellt hatte, fuhren vor die Wohnung, stiegen aus, ich betrat die Wohnung mit einem unguten Gefühl, hoffte darauf, daß meine Mutter längst schliefe. Der junge Mann, heterosexuell, aber eben in dieser Nacht auf Abenteuer aus, und ich gingen ins Bett, im dunklen Zimmer. Kater Panama schlief in der Küche, nebenbei bemerkt. Wir begannen mit dem Spiel der Körper – als die Tür, die ich nicht abgeschlossen hatte, geöffnet wurde und meine so sehr unruhige Mutter, nichtsahnend, nur wieder von Gedanken gequält, die sie nicht schlafen ließen, durch die Wohnung getrieben und dabei vor meinem Zimmer nicht haltmachend, plötzlich neben dem Bett stand und erstarrte. So wie wir in einer Schrecksekunde verharrten, ich nur ein meinerseits gequältes „Mama ...“ hervorpreßte und diese peinlichste aller möglichen Situationen einigermaßen fassungslos zu ertragen hatte, bis der junge Mann sich erhob (meine Mutter flüchtete), sich wortlos anzog und aus der Wohnung verschwand. Die Erkenntnis hatte meine Mutter in ihrem Schlafzimmer auf’s Bett geworfen. Ich versuchte zu erklären ..., ich sah ein, daß dies in dieser Nacht unmöglich war. Nun wußte sie es. Nie hatten wir darüber gesprochen. Mein Coming out hatte ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis vor Jahren schon ohne Schwierigkeiten absolviert, nur meiner nervenschwachen Mutter gegenüber hatte ich mich nie zu offenbaren in der Lage gesehen. In jedem Fall, in jedem jüngeren Jahr auch, hätte die Konfrontation mit der Tatsache, einen schwulen Sohn zu haben, ihre seelische Notlage verschärft. „Nun weiß sie es“, war mein halb bedauernder, halb trotzig-erleichterter Gedanke, als ich in mein Zimmer ging, mich niederlegte und bald in den alkoholgedämpften Schlaf sank. Drei Tage blieb meine Mutter im Bett, der Schock war zu groß gewesen. Am Tag nach dieser Nacht ging ich in ihrem Schlafzimmer hin und her, wanderte unruhig herum, versuchte, ihr „das alles“ beizubringen. Seit Jahren hatte sie ja miterlebt, daß ich mitunter in starken Spannungen befangen war, mit unterdrückten Enttäuschungen, zu denen auch meine schwule Situation beitrugen, in schwieriger Lage lebte; „alle wissen es, die mich kennen“, sagte ich, „was los ist.“ Das sollte ihr zum Trost gereichen. Nun wisse sie es, endlich, auch. Mit starrem Gesicht lag meine Mutter im Bett und sah mich an, ohne etwas zu entgegnen, weinte wieder, ich sagte, das alles sei nun wirklich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ich ging in mein Zimmer und nahm etwas Whisky zu mir, auch meine Nerven waren mitgenommen. Irgendwann wäre es ja geschehen, ich hätte ihr die Wahrheit doch nicht auf immer ersparen können; nur war es auf solche, für mich nicht eben glorreiche Weise, getan.
Am Abend nahm ich das Unterhemd, das der junge Mann in der Eile anzuziehen vergessen hatte, mit auf meinen Weg in die Kneipe. Er war dort. Nun galt‘s, mich ihm gegenüber zu erklären, mich für den Vorfall zu entschuldigen. Er hatte ihn einigermaßen mit Fassung ertragen. Wortlos nahm er das Unterhemd, das ich ihm unauffällig zusteckte, entgegen, verstaute es mit einer Bewegung in seiner Jacke, die mir signalisierte, wie unmöglich er das fand. Keine ausgesprochenen Vorwürfe aber. Ich lud ihn auf einen Drink ein. Später, als meine Mutter sich damit abgefunden hatte, sagte sie zu mir: „Ich habe es ja schon lange geahnt.“ Der unangenehme, wiewohl letztlich sinnvolle Augenblick hatte mir deutlich gemacht, daß ich wieder zu einer eigenen Bude, der mütterlichen Wohnung entfernt, kommen mußte. Das geschah dann, als der Kinobesitzer mir im Winter 1980 eine der beiden Dachkammern im „Urania“-Kino kostenfrei überließ. Ende Dezember half Manfred S. mir, sie bewohnbar zu machen; tapezierte, strich, ich legte die roten Filzfliesen auf den Bretterboden. Anfang Januar 1981 besaß ich wieder eine „Stadtwohnung“.
- Sonnig, kalt.
8.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6351 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren