11
Dez

11.12.2002

Im Herbst 1983 hatte sich der Zustand meiner Mutter, nach einem trügerischen inneren Aufschwung im Sommer 1982 und danach, wieder verschlechtert. Ihre Depression, ihre Selbstvorwürfe und die Vorwürfe vermutlich auch an ihr früher Nahestehende (auch an mich, die sie mir gegenüber nicht äußerte, die ich nur zweimal über Dritte erfuhr), die sie sich wegen der christlichen Demutshaltung ja nicht erlauben durfte, wie ich ihre Lebenseinstellung einschätze, hatten sich zu einem unauflöslichen Syndrom selbstquälerischer Verzweiflung zusammengeballt, und sie verfiel zusehends auch körperlich. Aß kaum noch, lag in ihrem Bett, auch auf der Coach im Wohnzimmer, „schlafen, schlafen ...“ Ich hätte mich intensiv um sie kümmern müssen und war dazu nicht in der Lage. Seit Jahren schon fühlte ich mich von ihrem immerwährenden Krankheitszustand fast belästigt und krankte selbst an solchen Gedanken und verstohlenen Empfindungen, die ich mir kaum eingestehen durfte; ich litt mit ihr und wollte doch nicht auch noch wegen der Lebensmüdigkeit meiner Mutter verzweifeln müssen; ich war oft unleidig und verhalten aggressiv gegenüber meiner Mitwelt, in mir brodelte die Unzufriedenheit mit meinem Leben, mit dem Job, der mir kaum Luft für meine literarischen und erotischen Bedürfnisse ließ, mit der Enge des Kaffes Biberach, in dem es keine jungen Schwulen gab, mit meiner komplizierten Art, die Verhältnisse zu sehen und immer ergründen zu wollen, wo doch die ganze Welt nur besinnungslos drauflos lebte und tat, was sie für richtig hielt, ohne Rücksichten auf meine feineren Gefühle und moralischen Ansprüche. Längst vereinsamt durch ihre schlechte Verfassung, obwohl noch nicht ganz ohne Bekanntschaften, wußte sie – aber letztlich konnte und kann ich das wiederum nicht genau wissen – nicht, wie sie mit ihren Gefühlen für ihren Sohn, an dem sie inzwischen sehr wohl sein Leiden an den Verhältnissen erkannt hatte, und daß er nicht zu den einfach gestrickten Leuten gehörte, umgehen sollte; einerseits versuchte sie sich, wie so viele Mütter, unbewußt an ihr Kind zu „klammern“, andererseits war ihr klar, daß ich mein eigenes Leben zu leben hatte und der Ablösungsprozeß, von meiner Seite seit Jahren Stück für Stück betrieben, und von ihrer Seite aus unumgänglich war. Und sie akzeptierte das auch, versuchte es jedenfalls, hatte mir ja in den Siebzigern alle die Freiheiten gelassen, die ich beansprucht hatte, aber tiefinnerlich konnte sie es nicht, wie auch ich das nicht wirklich konnte. Wir hingen aneinander auf immer schmerzlichere Weise. Ich übernachtete wieder häufiger in meinem Zimmer in der gemeinsamen Wohnung, weil ich mich auch von der Kinoatmosphäre distanzieren wollte, weil ich nun „Kino“ oft kaum ertragen konnte; meine vieljährige Sympathie und Leidenschaft für „Kino“ hatte gelitten. Im Herbst 1983 hielt ich mich fast nur noch tagsüber für einige Minuten in der „Kinokammer“ auf, wie es die Arbeit eben erlaubte. Außerdem war es kalt geworden und ich hatte nicht das Geld für die genügende Menge Briketts, die notwendig gewesen wäre, die kleine Bude durchgehend zu beheizen. Nach der Arbeit mußte ich, sofern es sich zeitlich noch lohnte, durch die Kneipen ziehen, in den tiefen Samstagabendnächten stand ich, mit einem Glas Rotwein in der Hand, im Flackerlicht der Diskothek „Wurzelmax“ in Warthausen, bis ich eine Rückfahrgelegenheit in einem Auto hatte. Martina G., Schwester von Thomas G., mit der ich vom „Storchen“ nach Warthausen gefahren war, fragte mich in einer dieser Nächte, wie es meiner Mutter gehe. „Schlecht, aber das ist mir egal“, antwortete ich roh. Ich war voller Zorn und Verachtung für alle Welt. In einer anderen Nacht im späten November kam meine Mutter in mein Zimmer, sie konnte eben nicht schlafen, die Unruhe ließ sie durch die Wohnung streifen, sie sah nach, was ich tat. Ich saß an der IBM – aber stand sie nicht auf dem Schreibmaschinentischchen vor dem Dachfenster der Kinokammer, wie immer in jener Zeit, oder hatte ich sie mittlerweile wieder in die Wohnung geschafft? – und tippte, nachts nach zwei Uhr, noch an einem Text herum, Kater Panama lag schlafend unter der Schreibtischlampe neben der Schreibmaschine, Zigarettenrauch hing im Zimmer, die Rotweinflasche war halb voll. „Du sitzt ja noch immer“, sagte meine arme Mutter, die abgemagert war, und ihre Gesichtszüge – die in ihrer Jugend so hübsch und ebenmäßig gewesen waren, wie ich sie auf ihren Fotos vor langer Zeit gesehen hatte – waren sehr scharf geworden. Sie dauerte mich zutiefst. „Und rauch nicht so viel, du wirst noch krank werden“, sagte sie mit schwacher Stimme. Ich stand mit dem Weinglas in der Hand auf und trat beruhigend an sie heran. „Irgendwann muß ich doch was machen“, entgegnete ich, halb resigniert, weil ihre Ängste mich eben nicht kalt ließen, und ich konnte sie ihr aber auch nicht nehmen, „sonst kommt ja nie etwas zustande.“ Wir gerieten plötzlich, ich weiß nicht mehr wie, in ein kurzes Gespräch über den Segen, der zu einer Arbeit gehöre und Gott, und dieses Thema konnte ich nicht leiden. Mußte sie mir noch immer damit kommen, wo ihr meine Ansichten dazu seit langem geläufig waren? Von solchen Äußerungen fühlte ich mich peinlich berührt. „Es gibt keinen Gott“, sagte ich und trank einen Schluck. Meine Mutter – wieso mußte ich ihr das antun? – trug ihren Schmerz und ihre Trauer im Gesicht, als sie sprach: „Wenn du wüßtest, wie weh mir das tut, wenn du so etwas sagst. Natürlich gibt es Gott.“ „Geh nun schlafen“, sagte ich zu ihr, „geh schlafen“. „Du aber auch bald“, forderte sie bittend und verließ das Zimmer. Ich trank die Flasche leer, tippte dazu ein bißchen auf der IBM – wenn ich denn tippen konnte, und wenn nicht, las ich weiter in einer Zeitung, nur dieses nächtliche Gespräch, gespensterhaft, blieb in meiner Erinnerung – , verfluchte den Umstand, daß es ja tatsächlich schon wieder so spät war und ich nichts mehr machen konnte und um neun Uhr wieder aufzustehen und mit dem Stadtbus zum Kino zu fahren hatte, um dort Maschinen zu putzen und andere sinnlose Zeitverschwendungen zu praktizieren.
- Schönes Sonnenwetter, blauer Himmel, kalt.
11.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6351 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren