13
Dez

13.12.2002

In einer anderen Nacht, in einem viel späteren Jahr, ganz am Ende des Januars von 1996, saß ich im Einzimmer-Appartment – ich sage doch eher „Einzimmerwohnung“ dazu, alles andere klänge ja nur übertrieben – wieder über einer Lektüre, als das Telefon klingelte. Am frühen Abend des hinter der Mitternacht versunkenen Tages war ich bei Klaus Leupolz gewesen, der beabsichtigte, am folgenden Tag zu einer Australien- und Asienreise aufzubrechen, um noch einmal die Länder, Regionen und Stätten zu sehen, die er als jüngerer Mann in den sechziger und siebziger Jahren bereist hatte. Sein jüngerer Bruder Helmut, der die Fünfzig überschritten hatte, war anwesend gewesen; wir kannten uns schon, von einer Begegnung bei Klaus L. einige Zeit zuvor; sie hatten noch Details für die mehrmonatige Abwesenheit von Klaus besprochen, und ich war hinzugekommen, um ihn zu verabschieden. Anschließend war ich ins „Cafe Weichardt“, nur ein paar Schritte vom Leupolz-Haus entfernt, gegangen, wo ich Jürgen Kraft, den Philosophen, sah; er hatte mich danach in die Amriswilstraße gefahren. Ich saß über einer Lektüre, über welcher, das weiß ich nicht mehr, als das Telefon seine absonderliche Lautfolge absonderte. Ich hob ab, verwundert, wer zu solch fortgeschrittener Stunde noch anrief. „Mir ...isch ... was ... passiert ...“, hörte ich die leise und gequält sich anhörende Stimme von Klaus, den ich, seine Abreise am nächsten Tag bedenkend, längst schlafend wähnte; ich erschrak. Mühsam, stockend, erklärte er mir, daß er auf der steinernen Kellertreppe gestürzt, aber nun oben in der Wohnung sei. „Verhalte dich ruhig“, sagte ich, „ich rufe den Notarzt an.“ Ich erkannte sofort, daß er dazu kaum in der Lage war, und telefonierte mit dem Roten Kreuz. Sie sagten, sie kümmerten sich umgehend um den Verletzten. Ich rief Klaus an, er konnte abheben, ich teilte ihm mit, der Arzt und die Helfer kämen sofort; ob er in der Lage sei, ans Fenster zu gehen und den Hausschlüssel hinunterzuwerfen? Er sagte undeutlich, das sei möglich. Ich versicherte ihm, daß ich in einer halben Stunde wieder beim Notdienst anriefe, um zu erfahren, ob der Transport ins Krankenhaus auch vollzogen sei. Wie dieser Sturz hatte geschehen können, wußte ich nicht. Ich hoffte nur, daß alles klappte. Nach der Frist telefonierte ich mit den Leuten vom Roten Kreuz. „Ja, wir haben den guten Mann ins Krankenhaus gebracht“, sagte der Diensthabende in der Riedlinger Straße, wo sich die Rettungsstelle befand, „dort wird er jetzt untersucht.“ Ich war erleichtert, fragte mich aber, was genau vor sich gegangen war. Beunruhigt legte ich mich zur Nachtruhe nieder. Am nächsten Tag fuhren Thomas G. und ich zum Krankenhaus, fanden das Zimmer, in dem unser Freund untergekommen war. Er lag im Bett, mit einem Verband um den Kopf; die rechte Gesichtshälfte war rot und bläulich, er hatte Abschürfungen und Prellungen erlitten. Erklärte, immer noch mit einiger Mühe formulierend, er habe noch einmal nachsehen wollen, ob das Wasser auch wirklich abgestellt worden sei (nachts war es frostig), bevor er abreise. Plötzlich sei er gestürzt. (Stand die mittlere Wohnung seines Hauses zu dieser Zeit auch unvermietet leer? Ja. Die im ersten Stock war inzwischen auch unbewohnt, aber noch belegt; der lang-jährige Mieter, Herr G., war im Januar ins Krankenhaus oder Pflegeheim gekommen, im Alter von mehr als achtzig Jahren.) Ich ging hinaus auf den Krankenhausgang und wartete darauf, daß einer der Ärzte vorbeikäme. Einer kam, ich fragte, was diagnostiziert sei. Ob ich zur Familie gehörte? Ich sei ein sehr guter Freund. „Bedaure“, entgegnete der etwa dreißigjährige Arzt, „Sie sind nicht befugt, Auskünfte zu erhalten.“ Aber sagte vage, sie hätten etwas im Kopf entdeckt. „Sicherlich ein Anzeichen für einen Schlaganfall?“, hakte ich nach. Das stelle sich noch heraus, er könne darüber nichts sagen. Er ging weiter, ich betrat das Krankenzimmer und sagte von dieser halben Auskunft nichts. Nach einer Weile verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, übermorgen wieder zu kommen. Nach ein paar Tagen wurde Klaus L. nach Ravensburg ins Elisabethen-Krankenhaus verlegt. Manfred S. und ich fuhren hin. Er konnte wieder gehen, saß mit uns in der Cafeteria, verzehrte auch ein Stück Kuchen. „Operation“, sagte er. Ein Hirntumor war festgestellt worden. Ich war entsetzt, Manfred sah betreten drein. Klaus ließ sich nichts anmerken, wie es seine Art war. Er nahm es hin. Er wurde operiert. Danach besuchten M.S. und ich ihn wieder. Eine halbrunde Narbe war in der Schädelhaut zu sehen. Haare hatte er ja fast keine mehr gehabt. Sonst keine Zeichen der Krankheit. Er saß mit uns in der Cafeteria. Wir redeten über Biberacher Begebenheiten. Er blieb noch einige Zeit in der Klinik, kam dann zurück in seine Wohnung. (Die Anspannung vor der fix und fertig geplanten Reise hatte den Tumor wohl aktiviert und der, beziehungsweise die Situation im Kopf, hatte dann den Sturz verursacht. „Einen Bollen haben die da rausgeholt ...“, sagte er zu M.S. und mir. Er ging zum Einkaufen, besuchte meine Lesung im März. Im April flog er, allein, mit kleinem Gepäck, nach Australien, zu Freunden von früher. „Wann, wenn nicht jetzt?“, sagte er in den Tagen davor zu mir. Er rief mich im Mai an, vom Flughafen in Sidney, er fliege nun nach Malaysia. Dort trampte er durch den Dschungel. War in Kuala Lumpur bei Bekannten. Er hatte Adressen in dieser Weltgegend. In Thailand suchte er den Tempel auf, in dem er vor Jahrzehnten als buddhistischer Mönch auf die vierte Stufe der Erkenntnis gelangt war. Nach fast drei Monaten war er zurück. Auch in Asien sei es nicht mehr so wie damals in den Sechzigern, sagte er enttäuscht. Aber so manches kleine Abenteuer hatte er noch einmal erlebt. In englischer Sprache schrieb er einen mehrseitigen Text darüber. Ich tippte ihn im Sommer von 1997 in den Computer (ein altes gebrauchtes Ding, das ich Jahre zuvor von Ralph H., Stefans Bruder, übernommen hatte). Mein Nadeldrucker war kaputt. Raphael S. druckte den Text auf seinem Gerät aus. Nach diesem Sommer dehnte sich das Gliablastom trotz zweiter Operation aus. Klaus bekam Cortison. Er wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte.
- Sonnig und kalt. Minus 3 Grad.
13.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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