14
Dez

14.12.2002

In den ersten Monaten des Jahres 1990 versuchten der Philosoph Kraft, der Maler Pavle B. und ich – Stefan H. in Berlin gehörte auch zu den Initiatoren – ein „Kreatives Forum“ in der Biberacher Kreisstadtkunstszene einzurichten. Der Veranstaltungsort dafür war das große Maleratelier von Pavle in einem der Gebäude auf dem Grundstück von Uli G. am Bismarckring (in einem der Häuser hatten sechzehn Jahre zuvor Falk, Gerd und Heinrich gewohnt, und 1990 wohnte Heinrich nach wie vor im Dachgeschoß), das sich in der Bebauung zur parallel zum Ring verlaufenden Mondstraße ausbreitete. Das Atelier in einem lang gezogenen Backsteinbau (eingeschossig, mit einem Dachboden aber) erstreckte sich längs des linken oberen Endes der Mondstraße (wenn man von unten, von der Wieland-Straße, die ansteigende kleine Straße hinaufgeht) und hatte einen kleinen büroartigen Raum innerhalb dieses Ateliers, in dem Pavle saß und las oder einen Whisky zu sich nahm, wenn er eine Pause einlegte. Den ersten der Abende, die über’s Jahr folgten, bestritt ich, eingeleitet mit der Lesung von Celans „Todesfuge“ und eigenen poetischen Versuchen, dann las ich eine im Jahr 1979 oder 1980 entstandene längere Geschichte, die von der Lektüre einiger Prosawerke Stifters angeregt worden war. Eine größere Anzahl von Neugierigen und Kunstinteressierten – Künstler, Lehrer, der Lokalchef des Ortsblattes (Redakteur D.) und andere – saßen auf Holzstühlen an groben Holztischen, tranken Bier und Wein und hörten sich das an. Zwei Tage später lobte der Zeitungsmann diese „neue Initiative“ in der Stadt und wir planten die nächsten Abende. In einem zeigten zwei blutjunge Gymnasiasten, Christoph H. und Lukas S., ihren zweiten Amateurvideofilm, wieder, wie schon ihr erster, der 1989 im „Sternchen“ gespielt worden war und viel Volk zum Kinogehen veranlaßt hatte, eine Agentenfilmpersiflage. Ein anderes Mal trug Kraft etwas vor, danach sprach der Künstler Heilig über die seiner Meinung nach unzulässige Art der Altstadtsanierung samt pastellfarbengeschönter Fassadengestaltung. Herbert Meise – der etliche Jahre später in unserem Film den Mephisto mimen sollte – trug seine skurril-schwarzen Minidramen vor. So kam der Herbst herbei. Er traf mich in niedergeschlagener Stimmung an. Mein schöner Kater, der so einen guten Charakter hatte, war sehr krank geworden. Er, der alle die Jahre seit 1976 mein treuer Gefährte gewesen war, hatte stark abgenommen, die Konsultation der Tierärztin hatte keinen hinreichenden Befund ergeben, aber ich fürchtete das Schlimmste. Anfang November hielt Klaus Leupolz im VHS-Gebäude einen satirischen Vortrag über Zombies. Der Weitgereiste, der auch Lateinamerika kannte, sich im Lande Panama auf dem Isthmus auf einem Schiff als Smutje eingeschifft hatte, fand die Zombies jedoch eher unter der westeuropäischen Alltagsbevölkerung als auf Haiti und in der Dominikanischen Republik („Papa Doc“ Folterstaat), und wäre ich – Meise und ich hatten uns mit Theaterschminke zu Zombies hergemacht, und vor lauter Kummer fühlte ich mich wie ein Untoter – mit meinen Gedanken nicht immer bei meinem armen Kater gewesen, der in den diesem Tag vorgelagerten Stunden sich schon immer wieder im unteren rechten und schubladenfreien Bereich des Schreibmaschinentischchens verkrochen hatte, wie es Tiere tun, wenn sie sterben, hätte ich mehr schmunzeln können; so aber hockte ich verzweifelt auf dem Stuhl, während die andere Zuhörer vor sich hin grinsten. Während der sich anschließenden Zusammenkunft in einer Gaststätte um die Ecke bewegte ich mich wie in Trance; betäubt von dem Gedanken, daß ich am nächsten Tag den Kater einschläfern lassen wollte. Doch ich wollte es gar nicht tun müssen. Alles in mir widersetzte sich diesem Gedanken, und doch wollte ich das Tier nicht länger leiden lassen. Aber litt er denn? Gab es kein Mittel, ihn gesund zu machen? Seine grünen großen Augen waren jetzt schwarz, aber kein Laut des Klagens war zu hören. Sehr dünn war er geworden, mein „Dicker“. Hatte er Krebs? Mit gedämpftem Bewußtsein hockte ich in der angeregten Runde und fürchtete mich vor dem folgenden Tag. In der Nacht streichelte ich den Kater, und er verkroch sich wieder in den Hohlraum, den der Schubladenteil des Schreibmaschinentischchens unten wegen der vor Jahren schon herausgenommenen Laden bot. Ich betäubte mich mit Whisky, nachdem ich in der Wirtschaft schon etliches an Alkohol konsumiert hatte. Die Nacht schwand ..., ich schlief dem Morgen entgegen, der graue Anfangsnovembertag legte sich über das Land, am Nachmittag fuhr Thomas G., der zuhause zu erreichen war – am Abend zuvor hatten wir vereinbart, daß ich ihn anrufen würde, wenn ich ihn tatsächlich an diesem Tag brauchen würde – , den Kater und mich zur Tierärztin nach Ummendorf (eine stattliche ländliche Gemeinde südlich von Biberach). Der Kater sträubte sich in meinen Armen, wie er es immer getan hatte, wenn wir in einem Auto gesessen hatten. (Schon zwei Jahre zuvor hatte ich ihn einmal schnell zu dieser Tierärztin gebracht, weil sein ganzes Fell am Darmausgang verklebt war und er nicht mehr seine Notdurft hatte verrichten können. Damals war höchste Eile geboten gewesen.) Und dieses Mal ... (Als ich ihn von der Karpfengasse 24 im Sommer 1978 in einer Reisetasche, die neben mir auf einem Bussitz gestanden hatte, transportiert hatte und ich an der Haltestelle vor dem gelbgrünen Wohnblock mit der Wohnung meiner Mutter darin, die ab diesem Monat auch wieder die meine zu werden begann, ausgestiegen war, hatte sich der Lümmel doch hurtig aus der natürlich nicht geschlossenen Tasche herausgewunden und war mit langen Sätzen über den Gehweg entfleucht; ich war, selber große Sätze machend, ihm hinterhergejagt und hatte ihn am Nackenfell ergreifen können. In die Tasche hatte er nicht mehr wollen, also hatte ich ihn, der ganz schön groß war und mühelos auf der Platte des Holztischchens, das Herbert K. mir bei seinem Auszug aus der Karpfengasse eineinhalb Jahre davon überlassen hatte, nach etwas hatte fischen können, wenn er sich auf den Hinterbeinen erhob, in den Armen, ihn gut festhaltend, in die Wohnung, zu der es glücklicherweise nur ein paar Schritte gewesen waren, getragen.) „Können wir nicht doch noch etwas machen?“, fragte ich, in hoffnungsloser Stimmung, die Tierärztin, „was hat er denn nur?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sehen Sie, es ist ja gar nichts mehr an ihm dran“, entgegnete sie in nicht eben gefühlvollen Worten. Panama hüpfte über den Tisch und floh vor dem Tod. Ich mußte ihn einfangen. „Nehmen Sie ihn auf die Knie und streicheln Sie ihn“, sagte die Veterinärin. Ich brach in Tränen aus, als sie die beiden Spritzen setzte. Ich streichelte und fühlte, wie mein armer Freund schlaffer wurde. Es war schrecklich. Thomas verließ den Raum. „Ich konnte den Anblick nicht ertragen“, sagte er ein paar Tage später. Ich wartete. Mein Kater war tot. Ich trug ihn ins Auto. Ging zurück, um die Tierärztin zu bezahlen. Sie schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung. Vielleicht haben Sie ja mal wieder ein Tier, und dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin, falls nötig.“ Ich dankte ihr, nun gefaßter. Während der Rückfahrt, als Panama auf meinen Beinen lag, glaubte ich plötzlich, noch eine Regung zu spüren; aber er war tot. Ich bahrte ihn in der Wohnung in einem Karton, der auf dem Teppich mitten im Zimmer stand, auf. Ich mußte zur Arbeit. In einer Pause telefonierte ich mit Elian, die mir den Kater im Sommer 1976 geschenkt hatte. Sie wohnte wieder in ihrem Elternhaus in Reinstetten östlich der Stadt. Ob sie eine Stelle wüßte, wo der Kater seine Ruhestätte bekommen könnte. Sie sagte, ich solle anderntags kommen. Nachts betrachtete ich den toten Kater. Vierzehneinhalb Jahre waren wir zusammen gewesen. Ich fotografierte ihn. Als Grabbeigaben legte ich eine Dose Katzenfutter und eine Minipackung Milch in den Karton. Mit der IBM schrieb ich ein Gedicht, das ich dazu legte. Ich machte keine Kopie davon. Dieses Gedicht war nur für Panama.
Am Nachmittag des nächsten Tages konnte ich für drei Stunden der Kinoarbeit fern bleiben. Ich holte einen Spaten aus dem Anbau am „Filmtheater“. Thomas und ich fuhren nach Reinstetten. Dort im Gastraum der stillgelegten Wirtschaft, die Elians (und Joachims) Eltern betrieben hatten, tranken wir ein paar Gläser Trollinger auf den Kater. „Dann brechen wir jetzt auf“, sagte die alte Freundin. Wir erreichten in zwei Autos ein abgelegenes Waldstück in der Nähe des Dorfes und gingen eine kleine Strecke auf einem Weg hinein. Oberhalb seines Verlaufs, an einem Hang, grub ich ein Loch aus, in dem der Karton Platz hatte. Ich senkte ihn in die Erde, schüttete die ausgehobenen Brocken der oberschwäbischen Krume darüber, trat alles fest, pflanzte etwas Gras und Gesträuch darauf, damit die Stelle nicht zu erkennen wäre. Regnerisch war es an jenem Tag. Ich hoffte, das Aufgepflanzte würde anwachsen. Wir fuhren in die Stadt zurück. Meine Stiefel waren mit Lehm beschmiert, ich wischte sie ab, als ich den Spaten in den Geräteanbau stellte. Ging ins Kino und führte Filme vor.
An die Zeilen des Gedichts, das ich in jener Nacht schrieb, konnte ich mich nie mehr erinnern. Es war für alle Zeit nur für Holden Panama Johnson geschrieben worden.
- Unangemessen heiteres Wetter.
14.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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