8
Dez

8.12.2002

Dösen ... Im hohen Sessel, der etwas nach hinten wippen kann, wegdösen ... Sehr fern, wie durch die undurchlässigen Okulare eines Fernglases, die Halb- und Viertelsfiguren, die heranschleichen, nein: nur ihre Stimmen, nur eine Idee von ihnen; sie sind gar nicht, nie, ausgeformt, ausgebildet in der Schwärze, in seltsamen Wortkombinationen, plötzlich in einer sich sehr sinnvoll vom Beobachter in der oberen Ferne, von dem man nun noch immer weiß, daß er doch das eigene Ich ist, anhörenden Äußerung einander Vorschläge machen, Pläne schmieden, deren Sinn noch nicht erkannt werden kann, und kommen andere Stimmen hinzu, vage Umrisse in der gleichbleibenden Schwärze dieses fremden, fernen Marionettenspieltheaters, das winzig klein ist, nur bruchstückhaft in einem anderen, entrückteren Zeitverlauf zu entdecken... Schwere, wohlige Schwere; größere Bestandteile des halb schlummernden Bewußtseins sinken immer tiefer in die schwarze Welt hinein, zu den Stimmen, den nur da und dort fertigen Umrissen ... Man sagt etwas zu ihnen, denkt sich ihnen zu, sie hören offenbar nichts ... – „Ich habe hier gewohnt“. „Ja.“ „Ich kann mich nicht entsinnen.“ –
... In einer Nacht im Jahr 1979 nahm ich aus der Kneipe, in der ich mich zu dieser Zeit bevorzugt aufhielt, einen jungen Mann mit in die Wohnung, die meine Mutter und ich seit Herbst 1975 auf dem Hühnerfeld hatten; in mein Zimmer. Seit einiger Zeit kannte ich ihn, der um fünf oder sechs Jahre jünger als ich war, und mit dem ich mich über Literatur und Film unterhalten konnte und der eigentlich nicht der Typus war, der mich erotisch ansprach, aber wir kamen gut und freundschaftlich auf einer unverfänglichen Ebene miteinander aus; bis wir an jenem Abend, aufgrund welcher Ursache auch immer, auf das schwule Thema zu sprechen kamen, ein Wort das andere ergab, was eine gewisse unterschwellige Stimmung herstellte; kurz und gut, der junge Mann war neugierig und hatte es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, den schwulen Sex einmal auszuprobieren. Auch der inzwischen konsumierte Rotwein war daran beteiligt, bei ihm, bei mir. Wir stiegen spätnachts vor der Kneipe in ein Taxi, das der Tresendienst für mich bestellt hatte, fuhren vor die Wohnung, stiegen aus, ich betrat die Wohnung mit einem unguten Gefühl, hoffte darauf, daß meine Mutter längst schliefe. Der junge Mann, heterosexuell, aber eben in dieser Nacht auf Abenteuer aus, und ich gingen ins Bett, im dunklen Zimmer. Kater Panama schlief in der Küche, nebenbei bemerkt. Wir begannen mit dem Spiel der Körper – als die Tür, die ich nicht abgeschlossen hatte, geöffnet wurde und meine so sehr unruhige Mutter, nichtsahnend, nur wieder von Gedanken gequält, die sie nicht schlafen ließen, durch die Wohnung getrieben und dabei vor meinem Zimmer nicht haltmachend, plötzlich neben dem Bett stand und erstarrte. So wie wir in einer Schrecksekunde verharrten, ich nur ein meinerseits gequältes „Mama ...“ hervorpreßte und diese peinlichste aller möglichen Situationen einigermaßen fassungslos zu ertragen hatte, bis der junge Mann sich erhob (meine Mutter flüchtete), sich wortlos anzog und aus der Wohnung verschwand. Die Erkenntnis hatte meine Mutter in ihrem Schlafzimmer auf’s Bett geworfen. Ich versuchte zu erklären ..., ich sah ein, daß dies in dieser Nacht unmöglich war. Nun wußte sie es. Nie hatten wir darüber gesprochen. Mein Coming out hatte ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis vor Jahren schon ohne Schwierigkeiten absolviert, nur meiner nervenschwachen Mutter gegenüber hatte ich mich nie zu offenbaren in der Lage gesehen. In jedem Fall, in jedem jüngeren Jahr auch, hätte die Konfrontation mit der Tatsache, einen schwulen Sohn zu haben, ihre seelische Notlage verschärft. „Nun weiß sie es“, war mein halb bedauernder, halb trotzig-erleichterter Gedanke, als ich in mein Zimmer ging, mich niederlegte und bald in den alkoholgedämpften Schlaf sank. Drei Tage blieb meine Mutter im Bett, der Schock war zu groß gewesen. Am Tag nach dieser Nacht ging ich in ihrem Schlafzimmer hin und her, wanderte unruhig herum, versuchte, ihr „das alles“ beizubringen. Seit Jahren hatte sie ja miterlebt, daß ich mitunter in starken Spannungen befangen war, mit unterdrückten Enttäuschungen, zu denen auch meine schwule Situation beitrugen, in schwieriger Lage lebte; „alle wissen es, die mich kennen“, sagte ich, „was los ist.“ Das sollte ihr zum Trost gereichen. Nun wisse sie es, endlich, auch. Mit starrem Gesicht lag meine Mutter im Bett und sah mich an, ohne etwas zu entgegnen, weinte wieder, ich sagte, das alles sei nun wirklich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ich ging in mein Zimmer und nahm etwas Whisky zu mir, auch meine Nerven waren mitgenommen. Irgendwann wäre es ja geschehen, ich hätte ihr die Wahrheit doch nicht auf immer ersparen können; nur war es auf solche, für mich nicht eben glorreiche Weise, getan.
Am Abend nahm ich das Unterhemd, das der junge Mann in der Eile anzuziehen vergessen hatte, mit auf meinen Weg in die Kneipe. Er war dort. Nun galt‘s, mich ihm gegenüber zu erklären, mich für den Vorfall zu entschuldigen. Er hatte ihn einigermaßen mit Fassung ertragen. Wortlos nahm er das Unterhemd, das ich ihm unauffällig zusteckte, entgegen, verstaute es mit einer Bewegung in seiner Jacke, die mir signalisierte, wie unmöglich er das fand. Keine ausgesprochenen Vorwürfe aber. Ich lud ihn auf einen Drink ein. Später, als meine Mutter sich damit abgefunden hatte, sagte sie zu mir: „Ich habe es ja schon lange geahnt.“ Der unangenehme, wiewohl letztlich sinnvolle Augenblick hatte mir deutlich gemacht, daß ich wieder zu einer eigenen Bude, der mütterlichen Wohnung entfernt, kommen mußte. Das geschah dann, als der Kinobesitzer mir im Winter 1980 eine der beiden Dachkammern im „Urania“-Kino kostenfrei überließ. Ende Dezember half Manfred S. mir, sie bewohnbar zu machen; tapezierte, strich, ich legte die roten Filzfliesen auf den Bretterboden. Anfang Januar 1981 besaß ich wieder eine „Stadtwohnung“.
- Sonnig, kalt.
8.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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