15
Dez

15.12.2002

In der Mittagspause des Donnerstags ging ich durch die Stadt zu M.S., wie Manfred Schmidt bald nach seiner Ankunft im Herbst 1972 in Biberach bei den Genossen der politischen Gruppe genannt wurde. In dieser Zeit damals erhielt ich die Kürzel „KD“, wobei ich dann, als es sich etabliert hatte unter jenen, die auch in BC gegen „das Establishment“ waren, oft an KD Wolff, den früheren SDS-Aktivisten und späteren Verleger, denken mußte, dem ich das „KD“ keineswegs streitig machen wollte (und will). Ich ging zu M.S., um mir fünfzig Mark abzuholen, denn er hatte damit begonnen, seine Schulden aus der Karpfengassenperiode, die zunächst bei mir zu Buche geschlagen waren, in längeren Abständen an mich abzustottern, obwohl er kaum Geld, und das aus der Sozialhilfe, hatte, doch verlangte der Stolz, das zu tun. Es war ein heller und kalter Wintertag. M.S. hauste nun, nach einer anderen Zwischenstation, mit seinen Tieren in einer dunklen Bruchbude am Weberberg, in winzigen zwei Zimmern und einer Küche aus Urgroßmutters Zeiten, die zivilisatorischen Standards höhnisch zeigte, wie es auch noch ginge. Mich störten diese Wohnverhältnisse nicht. Er übergab mir das Geld, wir plauderten ein paar Worte, mit dem Bus fuhr ich zum Hühnerfeld. In der Wohnung angekommen machte ich mir etwas zu essen: Blut- und Leberwürste mit Kartoffeln. Meine Mutter sah ich nicht. Am frühen Vormittag war meine Mutter in mein Zimmer gekommen, um mich, der wieder die halbe Nacht „gesessen“ hatte, zu wecken. „Ich lege mich noch einmal hin“, hatte sie in schwachem Ton gesagt. „Tu das“, hatte ich geantwortet, noch im Bett liegend. Ich verzehrte das Mittagsmahl, trank Wein und einen Schnaps dazu. Die Mittagszeit verrann, ich hatte zu gehen. Ich streichelte noch einmal dem Kater über das Fell; er lag auf dem Küchentisch und blickte kaum auf. Ich verließ die Wohnung, ging die Treppe hinab, zur Wohnblocktür hinaus – und hielt inne.
Ein seltsames Gefühl war plötzlich über mich gekommen. Irgendetwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht. Ich kehrte um in die Wohnung, öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter. Sie lag in ihrem Bett, ein Bein war angewinkelt. (Seit wir diese Wohnung bezogen hatten, benutzte sie das „linke“ Bett der Doppelbettkonstruktion; in der Lindelestraße war es das rechte gewesen. Im linken Bett war ihre Mutter, meine Großmutter, gestorben.) Ich trat näher. Ein Grausen stieg in mir auf. Mein ahnungsvolles Gefühl hatte sich nun in einen kalten Zustand des Horrors angesteigert. Ich trat nahe an das Bett heran. Meine Mutter bewegte sich nicht. Die Augen waren halb geöffnet. Ich berührte sie an der Schulter, schüttelte sie ein wenig. Langsam stieg die Trauer und Verzweiflung in mir empor, füllten mich aus. „Mama“, sagte ich halblaut, dann, lauter, noch ein Mal: „Mama!“ Sie bewegte sich nicht. Ihre Augen bewegten sich nicht. Ich berührte sie an der Stirn; sie war schon erkaltet. Meine Mutter war tot. Sie war gegangen – für immer. Kein Leiden mehr, keine fruchtlosen Ermahnungen mehr für den unwirschen Sohn, die Einsamkeit war gewichen, sie ging dorthin, wohin wir alle gehen, wo niemand – ein Gott nur? – von uns weiß, wo auch das Nichts nichts ist. Ihre Augen unter den halbgeöffneten Lidern sahen an mir vorbei, das Leben hatte sich aus ihnen geleert, die Not, die Pein, die Freude, die Erinnerung. Das sind die Blicke der Ewigkeit. Ich stand und sah auf meine Mutter. Es war geschehen, was ich seit vielen Jahren gefürchtet hatte. „Möge dich dein Gott aufnehmen“, sagte ich zu ihr; etwas in dieser Art, ich erinnere mich nicht genau; in diesem Schlafzimmer, das für ein paar Sekunden wie aus der Zeit gefallen schien. Ging hinaus, in die Küche, wo der Kater herumstrich. „Panama, meine Mutter ist tot“, sagte ich zu ihm. Ich ging in mein Zimmer; was war jetzt zu tun? Ich ging zurück ins Schlafzimmer, sah auf meine Mutter, schloß ihr die Lider. Noch kamen keine Tränen, die Beherrschung, dies in den Alltag einordnen zu können, war vorhanden. Ich verließ die Wohnung und läutete gegenüber. Eine junge Frau öffnete, ich fragte, ob ich telefonieren könne, meine Mutter sei gestorben. Sie sah mich groß an, ließ mich herein. Ihre zwei kleinen Kinder spielten im Flur. Ich rief den Kinobesitzer an, sagte, was vorgefallen war; ich erhielt zwei Tage Urlaub. Er und meine Mutter hatten einander geschätzt; übrigens waren sie, in verschiedenen Jahren, am selben Tag geboren worden ... Der Arzt, den ich anrief, praktizierte im Nebengebäude. Ich dankte der Nachbarin, gab ihr eine Münze, ging in die Wohnung, die, wie mir unvermittelt bewußt wurde, jetzt mir gehörte, mir allein, von mir bezahlt werden mußte. Wartete in einem Zustand der Unwirklichkeit auf den Arzt. Er kam, trat an das Bett, sah auf meine tote Mutter, die eine seiner Patientinnen gewesen war. Erst kürzlich sei sie noch in der Praxis gewesen, sagte er leise. Ich hörte zunächst kaum richtig hin. Dann verhandelten wir, wie wir diesen Tod deklarieren sollten. Ich hatte schon die zurecht gelegten Kleider wahrgenommen: meine Mutter hatte sie über das Fußende des Bettes gelegt, in ihnen wollte sie bestattet werden; das war offensichtlich. Der Arzt, nervös, fahrig, diagnostizierte als Todesursache Herzversagen. Und das stimmte ja auch, ihr war das Herz gebrochen, über Jahre hinfort. Ich bestärkte den Arzt in seiner Formulierung für den Totenschein. Eine Obduktion käme gar nicht in Frage, ich wollte das nicht, sagte ich ihm. Der Arzt ging. Auch ich trat bald danach aus der Wohnung, ging durch den kalten Nachmittag; Rauhreif an Bäumen und Büschen. Ich ging zu einer anderen Straße unterhalb des Stadtfriedhofs in der Nähe, wo, wie mir bekannt war, ein Bestattungsunternehmen zu finden war, klingelte dort. Beauftragte diesen Dienst. Kehrte um. Meine Erregung hatte den ganzen Körper erfaßt, ich zitterte innerlich. Meine Mama war tot. Kein Abschiedsbrief in der Wohnung zu finden. Die schwarz gekleideten Männer des Bestattungsunternehmens kamen, in gedämpften Worten redend. Sie nahmen meine Mutter aus dem Bett – das war doch meine Mutter ! – und trugen sie, wie ein Stück Holz, wie einen Teil einer Pieta, die Treppe hinunter, ich folgte ihnen ein Stückchen nach, wie kann man einen toten Menschen, wie kann man Mama so durch das Treppenhaus tragen, wie eine Puppe, wie einen Einrichtungsgegenstand, dachte ich entsetzt. Ich flüchtete in die Wohnung. Sie hatten Mama fort getragen – für immer. Sie hatte mich verlassen. „Ich lege mich noch einmal hin“ – das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört hatte. Keine Chancen mehr für Worte von mir. Warum war es nicht möglich gewesen, noch über so vieles miteinander zu sprechen? Irgendwann hätte es doch noch möglich sein müssen.
Später, der Tag dunkelte bereits, man schrieb den 15. Dezember 1983, entdeckte ich in einer Schlafzimmerecke eine der Schachteln. Ich versäumte, Frau H., die langjährige Freundin meiner Mutter, anzurufen. Aber am nächsten Tag war sie in der Wohnung. Sie hatte von Tante E. davon erfahren. Sie fand eine andere Schachtel.
- Wintergrauer Tag.
15.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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