KD

5
Aug

5.8.2002

Das große Haus, das an der Ostseite des Hofes stand, um den sich im Quadrat noch andere, niedrige Häuser und Schuppen zogen, in denen noch andere, nicht zur Verwandtschaft zählende Bewohner hausten, die ich so gut wie nie zu sehen bekam, war nun also Schlaf- und Lebensort für die drei Wochen des Ferienaufenthalts. Ging es in der Wohnung in der Lindelestraße in Biberach ruhig und gedämpft zu, eine Wohnstimmung, die mir stets gefiel, so verlief das Leben auf dieser alten Försterei, die ihre Zwecke in einer Vergangenheit, von der mir nie etwas bekannt wurde, erfüllt hatte, lebhafter, doch in ländlicher Prägung. Lebhafter, weil dort meine um knapp zwei Jahre jüngere Kusine K. und mein kleiner Cousin S. wohnten, und mit ihnen streifte ich in Sommertagen durch die umliegenden Felder und Wälder, auch ihr Papa, Onkel Heinz (der mit dem Motorrad), begleitete uns, führte uns in die Pilze, und abends kredenzte dann Oma Sommer, die in der Küche das Hauptregiment führte, zu Kartoffeln köstliche Steinpilze und Pfifferlinge, dazu wurde Kaninchenfleisch aus den Ställen hinter dem Anwesen, vor den Wiesen, über deren Feldwegen es zu den südlich und nahe stehenden Wäldern ging, gereicht. Die Tierchen, die morgens noch ihr Gras und ihre Möhren gemümmelt hatten, taten mir ja leid, aber dennoch, ich mußte es mir zugeben, schmeckten solche Mahlzeiten sehr gut. Vater Sommer, der Großvater, ein zuweilen herrischer alter Mann mit einer Glatze, die ihn noch kerniger erscheinen ließ, äußerte zuweilen ein Wort der lauten Mißbilligung, aufgrund dieser oder jener recht unbedeutenden Begebenheit (er konnte sehr unwirsch reagieren), doch ahnten wir: rauhe Schale, weicher Kern. Er war unumstritten der – etwas tyrannische – Herr im Haus. Vormittags kümmerte er sich, wie ich so manchen Tag beobachtete, um die Bienen, die aus zwei aufgebockten Bienenstöcken um ihn summten und brummten, aus den „Törchen“ hinausschwirrten und hineinmanövrierten. Opa Sommer trug keinen Imkerhut mit dem Schleier vor dem Gesicht und schien mit den Honiglieferantinnen in recht gutem Einvernehmen zu stehen. Ich hatte allerdings meine Bedenken hinsichtlich der stechenden Biester, aber ich kann mich nicht entsinnen, jemals gepiekt worden zu sein.
In der Mitte des ungepflasterten Hofs befand sich der Brunnen. Ich betätigte den großen geschwungenen Eisenschwengel, zog ihn in die Höhe, drückte ihn hinunter, das helle Wasser strömte aus dem dicken Hahn und füllte die beiden Wassereimer, deren Inhalt im Haus gebraucht wurde und die ich die Treppe hinauftrug. Auch die Kusine, die das ja täglich gewohnt war, packte mit an. (Aber im Wohnhaus gab es doch fließendes Wasser? Auf der Toilette aber nicht, soviel steht fest.) Nachts ruhte ich in einem Zimmer, in dem auch der sechsjährige Cousin Stephan schlief und im Schlaf mit den Zähnen knirschte – zunächst wußte ich mir dieses eigenartige, noch nie vernommene Geräusch nicht zu erklären. Vielleicht aus innerer Anspannung, die durch den in jenen Tagen bevorstehenden Schuleintritt verursacht wurde? Denn eines wolkenverhangenen Tages Anfang September schritten alle Hausbewohner und auch meine damals in Dresden in einer Klinik als Krankenschwester arbeitende Tante Gerda, und Onkel Roland, ein jüngerer Bruder von Onkel Heinz, der in späteren Sechzigerjahren Tante Gerda heiratete, über die sandigen Wege, die durch Felder hinüber zum Dorf wiesen, S. balancierte seine große Schulanfängertüte, die über ihn hinausragte, in den Armen, und ich Zwölfjähriger, dem die Schule längst zur Selbstverständlichkeit geworden war, dachte einmal: „Sehr glücklich sieht er ja nicht drein.“ In der Schule wurde dann eine Rede gehalten. Ich langweilte mich. Der Tag drohte regnerisch zu werden. Endlich standen alle Eltern mit ihren mehr oder weniger glücklichen Sprößlingen im und vor dem Schulgebäude herum, es wurde viel fotografiert, und ich habe diese Schwarzweißfotos von diesem Tag noch, auf denen auch ich zu sehen bin.
- Ein regnerischer Tag, dennoch nicht kühl.
5.8.2002

4
Aug

4.8.2002

Dann sah ich sie zum ersten Mal: ein von hohen Stacheldrahtwänden eingezwängter Streifen Lands, der Todesstreifen, sank und hob sich zwischen die Felder, Wiesen, Wälder, hinab, hinauf in die Waldschneise, in der ich einen Wachturm entdeckte, mit einem eigenartig verkanteten Betondach, das wie ein Papierschnipsel zwischen dem dunklen Waldgrün dort oben schwebte. Das war sie also, die Mauer, die Grenze, die durch Deutschland verlief. Ich stand am geöffneten Fenster im Wagengang, Rußgeruch wehte von der Lokomotive heran, mir um die Nase; das Sonnenlicht brach sich an manchen Stellen des metallenen Doppel- und Dreifachzauns. Ich trat ins Abteil. Meine Mutter wurde schon etwas nervös, war es doch das erste Mal, daß wir durch die seit dem Mauerbau in Berlin im August 1961 verschärften Grenzkontrollen mußten. Als wir Ende der fünfziger Jahre nach Fischbach gefahren waren, hatte diese Grenze noch nicht existiert, nur auf dem Papier, auf den Landkarten, und in den Köpfen. Wie vordem wurden die Kontrollen im Zug durchgeführt. Der Zug nahte Probstzella, dem Grenzübergang, verlor an Geschwindigkeit, wurde langsamer. Meine Mutter legte ihren bundesdeutschen Personalausweis und die anderen Papiere, die zur Einreise in die Deutsche Demokratische Republik berechtigten, und meinen Kinderausweis zurecht. Auch die anderen Reisenden im Abteil nestelten in ihren Taschen. Plötzlich herrschte eine angespannte Atmosphäre. Der Zug hielt ächzend, kreischend. Baracken links und rechts der zwei Gleistrassen, Wachtürme, Soldaten in einer anderen Uniform mit Maschinenpistolen patroullierten entlang des Zuges; ich beobachtete es aus dem offenen Abteilfenster neugierig, bis meine Mutter in besorgtem Tonfall sagte, ich solle den Kopf nicht so hinausstrecken, solle mich setzen. Ich schob also das Fenster zu, setzte mich. Es dauerte dann auch nicht lange, bis die Vopos, die Volkspolizisten der DDR, zu zweit ins Abteil traten, einen Gruß schnarrten und die Papiere sehen und den Reisegrund wissen wollten. Dieser mußte zum Beispiel durch eine familiäre Einladung, die vom Rat der Stadt abgestempelt worden war, schriftlich nachgewiesen werden. Überaus gründlich wurden die Unterlagen geprüft, Blicke in die Gesichter der Sitzenden geschossen, die Papiere mit zackigen Arm- und Handbewegungen zurückgereicht. „Gudn Auffendhalt in dr DeDeÄrr!“, mit einem kräftigen Ruck wurde die Abteiltür geschlossen. Aufatmen. Erste spöttische Bemerkungen fielen, sehr leise, verstummten, denn nun fand der Zwangsumtausch der Währungen statt. Für jeden Tag Aufenthalt mußten schon an der Grenze soundsoviel DM in „Mark der DDR“ umgetauscht werden; eins zu eins, verstand sich. Die Schwarzmarktrate lag gewöhnlich bei eins zu fünf. Das wußte man, das tat man aber nicht, wenn man noch bei Sinnen war und nicht im Stasi-Knast verschwinden wollte; konnte man auch gar nicht, denn das noch (offiziell, denn wer trug was im Schuh hinein?) verbliebene Westgeld – das ja nach der Ausreise aus dem deutschen Sozialismus wieder benötigt wurde – mußte deklariert werden und wurde verzeichnet; wie schon Uljanov sagte: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Im Bauchladen der weiblichen Uniformierten verschwand unser gutes Westgeld, DDR-Geld, Scheine und verblüffend leichte Münzen, steckte meine Mutter in ihre Börse. Auch diese Devisenhändlerin verschwand, die Prozedur war überstanden. Das Gehabe der DDR-Grenzbeamten war doch etwas eigentümlich gewesen, wie wohl alle empfanden, dieser Tonfall war für uns Westler nicht eben alltäglich. Nach einer Weile, die schon lang zu werden drohte, ruckelte der Zug an, nahm Fahrt auf, schnaufte ins Vogtland hinein. Plauen wurde zurückgelassen, die sächsischen Städte zogen vorüber. Die Landschaften wurde industrieller, Halden entlang der Strecke, graue und braune Bauten; auf unerklärliche Weise, die vielleicht nur das Resultat eines Vorurteils war, schienen die Gegenden, durch die der Interzonenzug dampfte, einen kaum zu bemerkenden Grauschleier übergezogen zu haben. Der Bahnhof von Karl-Marx-Stadt (inzwischen wieder Chemnitz) war duster, verrußt. Weiter nach Dresden.
Im Dresdner Hauptbahnhof hievten wir unser Gepäck aus dem Zug, schleppten es unter einem schwarz geschwungenen Gewölbedach in die Halle, verließen in der Menge der Herein- und Hinauseilenden das Gebäude, sahen uns um, warteten, bis ein Wartburg-Taxi frei war, denn so viele waren da nicht. War der Platz vor dem Bahnhof weit und leer? Vor neunzehn Jahren erst war Dresden im Höllenfeuer der alliierten Bomben in Schutt und Asche und unter Leichenbergen versunken. Ich wußte das. Endlich war ein Taxi zu haben. „Nach Fischbach!“, wies meine Mutter den Chauffeur an. Der freute sich, eine längere Fahrt ergattert zu haben und begann zu plaudern. Natürlich über keine geheimdienstlich relevanten Dinge. Westler im Auto! Gab es in Fischbach überhaupt einen Bahnhof? Arnsdorf, der größere Ort dort in der Gegend, besaß einen, in ihm hatte meine Mutter nach dem Krieg für einige Zeit als Reichsbahnangestellte der sowjetisch besetzten Zone gearbeitet. Es war sinnvoller und bequemer, mit dem Auto zu fahren. Kiefernwälder beschatteten da und dort die nicht sehr breite Straße, auf der kaum ein Auto uns entgegen kam. Ich saß hinten und kannte die Strecke schon. Wir erreichten Fischbach. Die ehemalige Försterei, in der meine Verwandtschaft wohnte, lag rechts der Straße, wenn man aus Dresden kommend heranfuhr. Vor dem Einfahrtstor im umlaufenden Gemäuer hielt das Auto. Meine Mutter zog den Geldbeutel. Der ältere Chauffeur aber fragte etwas verlegen, ob wir vielleicht Westzigaretten hätten, ob er ein paar bekommen könne, statt des Geldes. Die seien doch viel besser als das Ostkraut. Meine Mutter bezahlte mit Ostgeld und kramte aus einer der Taschen eine der Zigarettenschachteln, die sie für die männliche Verwandtschaft nicht eben sparsam eingekauft hatte, hervor, „HB“ oder „Stuyvesant“, und reichte sie dem Fahrer. Er konnte sein Glück kaum fassen. „Westzigaretten hat ja unsereins nie in den Fingern!“ Wir stiegen aus, der Fahrer holte unser Gepäck aus dem Kofferraum, trug es vor den Eingang. Das Taxi wendete und wurde auf der Landstraße kleiner. Bestimmt, dachte ich, denn sofort hatte der Chauffeur die Packung aufgerissen, qualmt er es jetzt voll mit Westzigaretten.
- Heiteres Sommerwetter, das im Verlauf des Nachmittags in Eintrübung überging. Etwas Wind, der mit den Blättern spielte.
4.8.2002

3
Aug

3.8.2002

Nachdem am Nachmittag in meinem tragbaren TV-Gerät kräftig gemosert worden ist, an die Eintragung von heute. – Dreizehn Jahre früher reiste ich mit meiner Mutter – reiste meine Mutter mit mir - nach Fischbach hinter Dresden in die DDR. Am Tag der Abreise erhielt Frau H. – der ich nun eine genauere Gestalt geben will: sie ist mittelgroß, hat ein eher breites Gesicht, lebhafte Augen, eine keineswegs große Nase und schmale Lippen, von denen eine lebhafte Rede in der Mundart des Landstrichs fließt, wie ich vor einem Monat wieder hörte; hellbraunes Haar umfaßte in ihren jüngeren Jahren den schwäbischen Kopf – die Wohnungsschlüssel, dann fuhren wir, die zwei schweren großen Koffer und verschiedene Taschen erforderten es, mit dem Taxi hinunter zum Bahnhof. Wenn es richtig ist, was ich hier angebe, dann mußte damals in Ulm nicht umgestiegen werden, der D-Zug (der „Interzonenzug“, wie die Bezeichnung aus der ersten Besatzungszeit nach dem Krieg noch lautete) – von einer schwarzen Dampflokomotive gezogen, deren Qualm während der ganzen Reise in zerfasernden dunklen Fahnen über der Landschaft vor die Sommersonne flatterte und sie in hin und wieder in flüchtiger Weise verfinsterte – rollte, nach kurzem Aufenthalt, weiter nach Günzburg und Richtung Nürnberg. Wir hatten es uns inzwischen im Zugabteil gemütlich gemacht, hatten, wie stets für solche Reisen, Fensterplätze reserviert, und die Stunden vergingen, indem ich aus dem Fenster auf die sich unablässig abwechselnden Erhebungen, Senken, Felder, Wälder, Bahnhöfe und Hinterhöfe entlang der Trasse blickte, und das charakteristische rhythmische Fahrgeräusch des Waggons – tadak, tadak... tadak – spielte die minimalistische und einschläfernde Musik dazu. Schließlich erreichten wir Nürnberg und stiegen aus. Ein Onkel Richard meiner Mutter und dessen Frau wohnten hier. Wir fuhren mit der Straßenbahn in die Nähe der Straße, wo das schon alte Paar wohnte, schleppten die letzte Wegstrecke Koffer und Taschen über die Bürgersteige, bis wir vor dem vier- oder fünfstöckigen Wohnblock standen und klingelten. Wir wurden empfangen, luden das Gepäck ab, erfrischten uns. Nach einer Erholungspause spazierten wir durch den sonnigen Abend, ich durfte den Dackel an der Leine führen. Noch später gingen meine Mutter und ich noch durch das nächtliche Nürnberg, sahen uns ein bißchen in dieser für uns großen Stadt um, kehrten mit der Straßenbahn zur Wohnung der Verwandtschaft zurück. Eine große Standuhr tickte in dem Zimmer, in dem ich in einem Bett lag und auch bald einschlummerte. Am nächsten Vormittag nahmen wir das Gepäck auf, Tante, Onkel und Hund begleiteten uns zum Hauptbahnhof. Mit urweltlichem Fauchen und rußigem Rauch rollte wieder eine mächtige schwarzmetallene Lok auf den matt schimmernden Gleisen an den Bahnsteig heran, der Zug hielt, mit unserer Last erklommen wir die schmale Waggonstiege, quetschten uns durch die Tür, kämpften uns zu unserem Abteil vor. Ein letztes Winken aus dem heruntergezogenen Oberteil des Fensters zu den Verwandten, der Zug fuhr an, hinaus aus der Halle. Der zweite mehrstündige Teil der Reise begann. Die Stunden verstrichen. Meine Mutter packte Proviant aus. Ich stand lange an einem der Gangfenster und sah hinaus. Nach Hof wuchs die Spannung. Der Zug wand sich durch die Vorgebirgslandschaft, der Grenze entgegen.
- Hoher Sommer, heiß, kaum eine Wolke unter der Bläue.
3.8.2002

2
Aug

2.8.2002

Ein neuer Tag und ein neues Heft, in das ich neue Aufzeichnungen vom Verlust der alten Tage eintrage. – Im Sommer von 1976, und auch im nächsten, aber bleiben wir erst einmal noch in dem sechsundsiebziger, ging ich, auch eine der Regelmäßigkeiten meines damaligen Lebens, die sich an denen einer „Normalität“ eher orientierte als andere, an den Samstagen und Sonntagen oft, doch nicht immer, mittags oder erst nachmittags aus dem Kapfengassenhaus hinaus und zur Bushaltestelle am Marktplatz (samstags, wenn noch ein letzter Bus hinauf zum Hühnerfeld fuhr) oder durch das Straßengewirr sofort zum Wohngebiet auf dieser südwestlichen Hochfläche über dem Stadtinneren, um in der Wohnung meiner Mutter, die immer auch noch unsere Wohnung, für die meine polizeiliche Registrierung galt, war, ein Mittagessen oder ein Stückchen Kuchen etwa (selten) zu mir zu nehmen. Oder ich machte mir dort etwas zu essen, wenn meine Mutter nicht gekocht hatte, was vorkam, wenn sie keine Lust dazu gehabt hatte oder ihr nicht wohl war; das war sehr oft der Fall. Ich aß dann also etwas, um gegessen zu haben (nie in meinem Leben habe ich besonderen Wert auf’s Essen gelegt), in meinem Zimmer, das klein und mit Möbeln aus der Lindelestraße vollgeräumt war, am Tisch sitzend, einem der großen Tische, denn der Schreibtisch stand in der „Karga“, und sah während des Mahls mal auf die Zeitungsseite, die vor mir lag, oder auf ein Buch, und las ein paar Zeilen, mal aus dem Nordfenster auf die zu jener Zeit dort noch nicht zugebaute Freifläche und die Straße und ihre Gehwege, auf denen sich an Samstag- und Sonntagnachmittagen wenig rührte. Alles schien von der starken Sonneneinwirkung wie eingedickt zu sein. Nach dem Essen trug ich den Teller und eine eventuelle geleerte kleine Salatschüssel in die Küche und pflanzte mich in einen der Sessel im Wohnzimmer, wo meine Mutter schon, oder noch, oder wieder auf unserer alten Chaiselongue, der weinroten Coach, lag, dösend oder im Halbschlaf oder sie sah die lächerlichen Sendungen, denn ich hatte das Schwarzweiß-Fernsehgerät aus Gewohnheit schon, für die ich mich eigentlich schalt, eingeschaltet, mit an; wir sahen amerikanische Nachmittags- und anschließend, denn ich verfügte ja über Zeit und mußte nicht zu bestimmter Stunde ins Karpfengassen-zimmer zurückkehren, Vorabendserien an, die „Waltons“ und auch „Bonanza“, die Westernserie aus den Sechzigern, die in den Siebzigern ebenfalls ihr Publikum noch oder wieder hatte. Ich trank Bier aus den gedrungenen Flaschen der – nicht in Biberach ansässigen – Brauerei Rapp; 1973 hatte meine Mutter mir zuliebe, denn die paar Sprudelflaschen, die für ihre Verwendung mitgeliefert wurden, waren nicht der Schreibe über sie wert, eine Dauerbestellung getätigt, und einmal pro Woche wurde der leere Bierkasten vor die Haustür gestellt und der volle hereingeholt, und gelegentlich änderte ich die Sorte, trank statt Pils Märzen-Bier oder ein Export. Dies setzte sich auch in der Hühnerfeldwohnung fort, obwohl ich zu jener Zeit längst eher Wein trank als Bier, auch die harten Sachen. In späterer Zeit, nach Auflösung der Wohngemeinschaft im Juli 1978, konsumierte ich höchstens noch spätabends im „Sternchen“ ein Altbier, das ich von meinen kurzen Reisen nach Düsseldorf kannte, wo ich auch gelernt hatte, wie man einen gut eingeschenkten „Samtkragen“, der vortrefflich zum „Alt“ mundet, von einem mißratenen unterscheidet. Zurück zum faulen Fernsehnachmittag: eine Erscheinungsform meiner abgrundtiefen Gleichgültigkeit gegenüber jeder Form von Arbeit, insbesondere der Schreibarbeit, die ich, wie mir sehr klar war, hätte tun sollen, aber ich war von den rudimentären Ergebnissen, denn hin und wieder tippte ich tatsächlich ein paar Zeilen auf der roten IBM, angeödet und keinesfalls überzeugt, und so bestrafte ich mich gleichsam für meine Untätigkeit und mein mangelndes Talent mit solchen Schwarzweiß-Serienfilmen der allerdämlichsten Art und mit der zynisch amüsierten Glotzerei von Hans Moser-Filmen aus der Nachkriegszeit. Diese Heimat- oder Klamaukfilme, in denen auch Theo Lingen seine näselnde Nase zeigte, sah ich mir wirklich nur wegen Hans Moser an; und morgen werde ich einen Heimatfilm von 1956 ansehen, weil Hans Moser in ihm spielt; so existiere ich also in diesen Tagen in einer ähnlichen Geistesstumpfheit wie im Sommer 1976, und deshalb dieser Text, heute.
- Grau, aber ohne viel Regen, kühler als in den Tagen zuvor.
2.8.2002

1
Aug

1.August 2002

Im August 1976, wahrscheinlich in seiner ersten Hälfte, waren G. und seine Freundin Christina S. und andere von einer längeren Motorradreise wieder in die „Karga“ zurückgekehrt und saßen nachmittags – es war heiß – auf dem kleinen Blechbalkon an der Nordseite meines Zimmers, der aber vom Hausflur aus betreten wurde, und ich bemerkte, als ich durch das von Stores vor Blicken von außen etwas abgeschirmte Fenster sah, jemanden, den ich nicht kannte; ein attraktiver schlanker junger Mann in kurzen Hosen, barfuß, vielleicht siebzehn Jahre alt, hockte auf einem der wackligen Stühle bei den anderen; ich ging aus dem Zimmer hinaus und auf den Balkon, um am Geplauder eher sparsam teilzunehmen. Irgendetwas mußte ich ja sagen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, als stummer Fisch ist man nicht sehr attraktiv. Es ergab sich rasch, daß er mit übereinander geschlagenen Beinen in meinem Zimmer auf dem Boden hockte, in seinem Unterhemd und seiner kurzen Hose, und das erotische Verlangen stieg in seiner natürlichen Weise in mir hoch. Ich mußte es stark vergewaltigen, um es niederzuhalten – aber warum tat ich das? Dieser gut aussehende intelligente Siebzehn- oder Sechzehnjährige, Christinas Bruder, war, wie sich rasch herausstellte, literarisch interessiert, lebte in Wien, wie ich mich glaube zu erinnern, sprach aber gar kein Wienerisch; für ein paar Tage wollte er sich in Biberach aufhalten, seine Schwester hatte ihn irgendwo aufgegabelt. Gern hätte ich ihm sofort geil den Schwanz gelutscht, ihn im Arsch geleckt und noch anderes mit ihm getrieben; stattdessen unterhielten wir uns gesittet über Literatur und stellten fest, daß wir beide den Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz gelesen hatten – was mich bei ihm doch überraschte, schließlich dachte ich, Lenz sei so etwas wie ein Geheimtipp, und daß ein Schüler ihn las, das wunderte mich doch. Ich erzählte ihm, während ich die Erektion niederkämpfte, wie ich ein gutes Jahr zuvor, im Frühjahr 1975, eines Stuttgarter Sonnennachmittags mit der Straßenbahn am Lenz’schen Haus vorbeigefahren sei, und zu jener Stunde hätte ich doch in der Vorlesung des Konservativismus-Experten Greiffenhagen sitzen sollen. Ich hatte mich lieber in der Stadt herumgetrieben. Wir quatschen über dies und das, tranken Whisky, rauchten Selbstgedrehte, während Begierde und edle Zurückhaltung mich innerlich, wieder einmal, langsam in kleine Stücke zerrissen. Es wurde Abend. Wir hörten mit dem Reden gar nicht mehr auf; A. verließ das Zimmer, um sich wieder im Haus sehen zu lassen, kam zurück. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anzumachen. Irgendwann in der Nacht ging er dann und ich fiel, die Whiskyflasche hatten wir gut geleert, auf’s Bett. Mit Brummschädel, üblem Geschmack auf der Zunge und einer Fahne verließ ich am späten Vormittag das Zimmer und Christina sagte mir im Vorübergehen in verhalten mißbilligendem Ton, ihr Bruder habe kotzen müssen, „was hast du denn mit ihm gemacht?“ Ich stand also unverdient unter Verführungsverdacht, was meine Laune nicht besserte. Sie nahm es wohl als selbstverständlich an, ihr kleiner Bruder, hätte ich ihn „rumgekriegt“, hätte danach kotzen müssen. Jedenfalls traute sie mir eine solche Unternehmung zu; na dann. „Gar nichts“, raunzte ich genervt, „er hatte vermutlich zuviel Whisky intus.“ Ich wünschte in diesem Augenblick erst recht, ich hätte etwas „gemacht“.
Einige Wochen danach, langsam wurde aus dem heißen Rekordsommer ein warmer Herbst, brachte Christina mir übrigens drei Fläschchen original mexikanischen Tequilas von ihrer Lateinamerika-Reise mit; irgendwie – durch A. vermutlich – hatte sie mitbekommen, daß ich während des Sommers neben anderem auch Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ las; in dem der versoffene Konsul mehrfach feststellt: „Etwas Schwächeres als Mesqal würde nichts nutzen.“ In Ermangelung echten mexikanischen Mesqals schluckte ich also diese Tequila-Flaschen leer, und eines Abends klopfte es an meiner Tür und Bernd H., damals noch in Tübingen wohnhaft, der gelegentlich nach Biberach zu den Eltern kam, trat ein. Er kannte das Zimmer, er hatte zwei Jahre zuvor in ihm gewohnt. Er sah die Wand über meinem Schreibtisch hinauf, ob das Einschußloch, das er in einer unruhigen Stunde mit einer Pistole produziert hatte, noch zu sehen war. Ich hatte seine Existenz längst vergessen; aber da ich das Zimmer nicht renoviert hatte, als ich einzog, die Rauhfasertapeten und die Zimmerdecke nicht gestrichen hatte, bei welcher Gelegenheit das etwas ausgefranste Loch in der Wand oben mit einem halben Spachtel voll Gips unsichtbar geworden wäre, war es noch da. Ich stellte ein zweites Gläschen auf den Tisch und wir machten uns zu zweit über das goldgelbe Gesöff her. Es half tatsächlich nicht sehr.
- Heiß, schwül; im Laufe des späten Nachmittags setzte ein schwacher Regen ein, der allmählich stärker wurde. Himmelsverdüsterung. Zwei-, dreimal Gewittergrollen, aber ein Unwetter blieb aus.
1.August 2002

29
Jul

29.7.2002

„Lieber KD“, schreibt Martin Heilig mir unter dem Datum vom 14.7.2002 aus Biberach, „mit Dank habe ich Dein Schreiben und die Fotokopien des Artikels von Jan Philipp Reemtsma zum Thema ‚Tod eines Kritikers‘ erhalten.“ Etwas verzögert erhielte ich jetzt die gewünschten Kopien von den Dokumenten aus den 60er und 70er Jahren. Nach unserem erfreulichen Gespräch am Schützensonntag, verbunden mit einem Atelierbesuch, von dem er mir die gemachten Fotos beilege, habe sein Bewegungsdrang ihn noch zum ‚Tanz auf dem Marktplatz‘ geführt. Hier habe ihn überraschend Annemarie Ceh angesprochen. Sie habe ihm sofort von dem ‚spannenden Lese-Marathon‘ bei dem literarischen Forum Oberschwaben in Wangen berichtet und nicht nur meinen Bericht bestätigt, sondern sich beeindruckt bis begeistert von meiner Lesung und meinem Erfolg gezeigt. Sie wünsche mir auch, daß ‚Die Biberacher Zeit‘ verlegt werde.
Nach den mündlichen Informationen und nach der Durchsicht der Dokumente in seinem Archiv sei ihm wieder bewußt geworden, welche Hausaufgabe noch auf ihn warte, in Bezug auf die Aufarbeitung der Ereignisse und Intentionen in den 60er und 70er Jahren, die auch in Biberach eine Zeit des Aufbruchs gewesen sei. Ohne eine umfassende Chronik erstellen zu können und zu wollen, müsse doch eine Art Gesamtschau dieser Zeit in Biberach über die APO hinaus und deren Konsequenzen gelingen, mit Fakten, Schwerpunktsetzungen und vor allem mit einer Verlebendigung.
Wie er mir berichtet habe, sei ein Teil der Dokumente, darunter einige der besten Fotos, während der ‚Tribunale‘ von Ekke Leupolz verloren gegangen. Trotzdem könne mit den noch vorhandenen einiges belegt werden, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Berichterstattung auch damals schon beliebig, willkürlich bis verfälschend erfolgt sei.
Ein besonders trauriges bis ärgerliches Beispielt diesbezüglich in der Darstellung dieser 60er Jahr in Biberach finde sich in der Stadtgeschichte, geschrieben Anfang der 90er Jahre. Es gehe nicht um Ereignisse und Schwerpunkte dieser aufmüpfigen Zeit, sie habe scheinbar gar nicht stattgefunden, sondern um die Hervorhebung eines Herrn Bangemann, den späteren EU-Kommissar, der als Anwalt im Venceremosprozeß fungiert habe.
Auf den besonderen Stellenwert und ihre Eigenheit der Biberacher APO in Oberschwaben und darüber hinaus habe er mich hingewiesen. Sie habe sich gerade durch Originalität, Ideen und in der Ablehnung alles Orthodoxen in der ersten Phase ihres Bestehens ausgezeichnet. Auslösender Moment zur Formierung der APO sei hier [in Biberach; D.] die Sprengung der NPD-Kundgebung mit Adolf von Thadden in der Gigelberg-Turnhalle gewesen. (S. Artikel 16.3.1968), in dem Ekke und er zum Rednerpult vorgestürmt seien und dadurch viele mitgerissen hätten.
Monate der Gemeinsamkeiten mit vielen Diskussionen, kleineren und größeren Aktionen, mit Höhepunkten wie der Kiesinger-Wahlveranstaltung, der Begegnung mit Carlo Schmid, beides am 2.4.68, dem ‚Teach-in‘ am 14.5.68 auf dem Marktplatz und dem Sternmarsch nach Bonn (11.5.68) wegen der Notstandsgesetze seien gefolgt. – Aufgrund der Ausnahmesituationen und durch das ‚Aufbrechen gesellschaftlicher Verkrustungen‘ hätten sie eine Befreiung und ein Zeitgefühl mit ungemein gesteigerter Intensität erlebt. Aber auch innerhalb der APO habe es Kleingeister und Spießer gegeben, die Ideen, die über das übliche APO-Ritual hinausgegangen wären, verhindert hätten.
Über die vorgesehene Idee und das Vorhaben von ihm hätten wir gesprochen, als dem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Angehörigen des Propagandaministeriums Kurt Georg Kiesinger, auf gleiche Augenhöhe hochgehoben, Jesus hätte begegnen sollen (in seiner [H.s; D.} Gestalt und mit seinem Bart, mit rotem Tuch um die Schultern und so etwas wie einer Dornenkrone auf dem Kopf), der nach anfänglichem Schweigen nur die Worte hätte sagen müssen: ‚Kiesinger, in Unschuld will ich meine Hände waschen‘. Das hätte ein unvergleichliches Polittheater sein können, vor dreißig in- und ausländischen Journalisten und Kameraleuten, das dem Potenzial der Biberacher APO gerecht geworden wäre und zugleich, auf ironische Weise, an die Mysterienspiele längst vergangener Zeit erinnert hätte.
Aber selbst die Ersatzidee mit den roten Kreuzen (s. Fotokopien) und vor allem das Transparent ‚Schluß mit der christlichen Lüge der CDU‘, habe nicht wenige biedere Bürger und CDU-Anhänger provoziert. Wie ich wisse, sei es am Anfang der Wahlveranstaltung sehr verhalten gewesen. Kiesinger habe Spott und Hohn auf die Texte der Transparente ausgegossen, mit Ausnahme der ‚christlichen Lüge‘, und sie, die Demonstranten der APO, die die Losung ausgegeben hätten, keine Gewalt auszuüben, hätten sich immer mehr der Lächerlichkeit preisgegeben gesehen. Er habe sich an Ekke, der neben ihm gestanden habe, dem aber nichts eingefallen sei, gewandt, worauf er spontan ‚Manipulation‘ gebrüllt habe. Kiesinger habe dieses Wort sofort aufgenommen und gemeint, die Studenten benutzten nur zu gerne Fremdwörter, weil sie oft nicht wüßten, von was sie überhaupt redeten. Daraufhin habe schlagfertig der Chor der APO eingesetzt mit ‚Kiesinger Bauernfänger!‘.
Den weiteren Verlauf kennte ich ja, wie Kiesinger der Lapsus mit dem Ausspruch ‚Sie und Ihre Transparente beweisen, daß wir Notstandsgesetze brauchen‘ passiert sei und die Bürger aufgefordert habe, diese Widerständler und Schreihälse ‚abzuräumen‘, aber bitte ohne Gewalt. Auf nicht ungefährliche Weise hätten dann Christdemokraten im Handgemenge die roten Kreuze zerbrochen, wobei ihn eine aufgesplitterte Latte nur knapp am Oberkörper verfehlt habe, und sie hätten, unter anderem, auch nicht davor zurückgeschreckt, selbst Mädchen in den Unterleib zu schlagen und Ekke mit dem abgerissenen Tuch eines Transparentes zu würgen. Das alles sei von außen, aufgrund des Gedränges, nicht einsichtig gewesen und er habe die Ehre, im Brennpunkt des Geschehens gewesen zu sein (s. Fotokopie).
Nach einem zeitlichen Abstand sei der Bundeskanzler Kiesinger bei einem Aufenthalt in Kressbronn gefragt worden, wie er auf Biberach zu sprechen sei, nach seinen Erfahrungen bei der Wahlversammlung. An sich gut, habe er geantwortet, aber mit dem Studenten mit dem roten Bart (M.H.) hätte er noch ein Hühnchen zu rupfen.
Beim ‚Teach-in‘ auf dem Marktplatz am 14.5.1968 (Fotokopien) habe er die offizielle Rede gehalten. Mit der Anrede ‚Bürger von Biberach‘ habe er bei den Zuhörern zuerst ein Gelächter ausgelöst, das schnell wieder verstummt sei, als sie gehört hätten: ‚Es gab eine Zeit, in der die Anrede Bürger revolutionären Charakter gehabt hat Was diese Zeit vorbereitet hat, ist heute Allgemeingut oder nie verwirklicht worden ...‘ Bevor eine lange Diskussion mit den Leuten eingesetzt habe, sei noch das Schreiben ‚Provinz probt Demokratie‘ von Heidi Keck (Frau von Ekke Leupolz) verlesen worden, das auch den Text des Liedes ‚Maikäfer flieg, in Vietnam ist Krieg‘ beinhaltet habe.
Bevor es zum Bruch zwischen Ekke und ihm im Herbst 68 gekommen sei, habe es zwischen ihnen noch eine gemeinsame Initiative gegeben. Aus München habe Ekke ihm einen Text geschickt, im Rohzustand, zum Prager Frühling – ‚Panzer rollen gegen die Prager Reform‘. Er habe den Text modifiziert, einen Linolschnitt von einer Hand, die einen Mann (Menschen) zerquetscht, gemacht und Bernd Kathe habe als Profi den Druck realisiert. Das sei alles in einer Nacht geschehen und das Flugblatt sei ein großer Erfolg gewesen und auch in den Sammlungen des ‚Instituts für Zeitgeschichte‘ in München gelandet.
Ekkes politische Vergangenheit und Praktiken, er sei einmal illegales KPD-Mitglied gewesen, seine ideologische Fixiertheit, über die er später selber gespottet habe – ‚Ich brauchte immer einen Ismus, zuerst erzogen im
Katholizismus, dann der Marxismus ...‘ – habe sich auch in brutalen Machtdemonstrationen, in seinen abgehaltenen Tribunalen ausgedrückt, in denen er mit dem Spielchen Kritik – Selbstkritik den Einzelnen gefügig gemacht habe, hätten entscheidend zum Bruch zwischen ihnen beiden beigetragen. Der radikalisierte Kurs von Ekke habe nicht nur der linken Orthodoxie wieder Tür und Tor geöffnet, sondern die ganze damalige Spannweite bis hin zu Baader-Meinhof umfaßt.
Wie leicht eine Gesellschaft von 68 und ihre institutionellen Vertreter mit Sexualität, Tabubrüchen und Einforderung von individueller Freiheit zu provozieren gewesen sei, habe sich aufgrund der Pamphlete von ‚Venceremos‘ gezeigt. Ekkes Kurs und Bewegung, die ganzen Verzweigungen von Splittergruppen wie z.B. auch der des KBW [Kommunistischer Bund Westdeutschlands; D.] oder der DKP [die allerdings erst später auftraten; D.], hätten in dem Ereignis des ‚Venceremos‘-Prozesses gegipfelt, in dem Ekke Leupolz und Uli Weitz angeklagt gewesen seien.
Die Impulse seines kulturpolitischen Weges in dieser Zeit, seiner Ideen und Initiativen, hätten in der Bürgerinitiative und Schrift ‚Bürgerinitiative Aktion Schützenkeller – Konzeption für eine Kommunikationsebene (Anregungen zur Festhallenplanung)‘ ihren Höhepunkt gehabt.
Sein Kurs, seine Bewegung habe wahrlich nicht der Radikalität entbehrt, sie habe aber die Aufforderung von Rudi Dutschke, den ‚Marsch durch die Institutionen‘ anzutreten, ernst genommen und somit die Einbeziehung immer notwendiger Pragmatik. Die 60er und 70er Jahre, die ganze Studentenbewegung, die Auseinandersetzungen um ein neues, kreatives Verständnis in punkto Autorität, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Zivilisation – Kultur, kurz in punkto Grundlagen der gesamten Schöpfung, habe er als Kulturrevolution begriffen. Ein Begriff, der heute für die 68er stehe.
Die kühne Idee des Projektentwurfes ‚Schützenkeller‘ 1968, Entwurf eines Novums (in dem die Idee einer dezentralen Akademie impliziert gewesen sei), sei in ihrer Konsequenz und Weitsicht für Kulturreferent Strittmatter, obwohl er ihn in Verbindung mit dem leer stehenden Schützenkeller zu Entwürfen und neuen, gewagten Ideen aufgefordert habe, und erst recht nicht für OB Hoffmann nicht wirklich nachvollziehbar gewesen. Die Schaffung einer dezentralen Akademie aufgrund neuer Definitionen von Kunst und Gesellschaft hätte Biberach mit weitem Abstand vorangebracht.
Wie konform und Vorteil heischend die Biberacher Künstler 1969 sich verhalten hätten, habe sich gezeigt, als er sie bei einem Treffen im Gasthaus ‚Lamm‘ aufgefordert habe, der ritualisierten und angepaßten Jahresschau Biberacher Künstler im Museum eine Absage zu erteilen, auf Ankäufe von Bildern zu verzichten und dafür am ‚Schmierfestival‘ auf dem Marktplatz teilzunehmen und vor allem, anstelle der Jahresschau im ‚Schützenkeller‘ in Bezug auf Kunst und Gesellschaft eine gemeinsame ideenreiche Besonderheit zu wagen. Ein solches Ansinnen hätten sie empört zurückgewiesen, auch Dieter Arnold. – Die Künstler hier seien eigentlich immer den Vorgaben einer nationalen wie übernationalen Kunstszene verpflichtet geblieben, sie hätten in ihrem Opportunismus nie den sicheren Trampelpfad verlassen.

20.7.2002.
Kunst sei für ihn nicht mehr nur eine in verengte Bereiche verwiesene Sache, nicht nur eine Angelegenheit von Institutionen wie z.B. Museen und Galerien gewesen, sondern sie habe sich auf den gesamten Lebensraum, insbesondere auf die ganze Stadt bezogen. Die Ausübung und Bevorzugung von Disziplinen und Medien hätten einem neuen Kunstverständnis nicht widersprochen, das definitiv zuerst einmal die Klärung und Überwindung des affirmativen Kulturbegriffs erforderlich gemacht habe.
Der Künstler stehe als kreatives Wesen im Leben, in der Natur und in dem gesamten Kulturraum (Kultur und Zivilisation seien nicht mehr getrennt). Er müsse Anteil an allen Vorgängen und Prozessen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur nehmen. – Produktivität habe für ihn erst einmal Fantasie und Ideen geheißen, das hieße, der Künstler sei zuerst ein Ideenlieferant, der gestaltend in die gesellschaftlichen wie kulturellen Prozesse eingreife, ohne die Produktion und deren Möglichkeiten der bisherigen Kunstpraxis zu vernachlässigen oder gar zu leugnen.
Zur Frau Schwoerbel (Stuttgarter Zeitung) habe er damals bei einer Zusammenkunft im Gasthaus ‚Biber‘ gesagt: ‚Es ist nicht egal, in wessen Dienst man seine Fantasie und Ideen stellt.‘
Die Freisetzung des aus ihm und der Zeitströmung heraus entwickelten künstlerischen Potenzials sei grenzüberschreitend gewesen und der Mensch und seine Idee (und Motivation) habe für ihn im Mittelpunkt gestanden. Insoweit könnten sich Berührungspunkte mit Joseph Beuys ergeben, mit dessen erweitertem Kunstbegriff und seiner so genannten Sozialen Plastik. Aber nicht in der Überbewertung von in der Kunst bis dahin ungewohnten Materialien wie z.B. Fett und Filz, und noch weniger mit seinen Installationen, die wiederum durch die Hintertür zu stilbildenden Darstellungen wie in der traditionellen Kunst geworden seien. [...]
Beuys habe als Anreger für ihn nachweislich keine Vorbildfunktion gehabt. Aufgrund seines Werdeganges und seiner Erkenntnisse habe er sich in gewissen Zeiten viel radikaler außerhalb des Kunstbetriebs und der Institutionen gestellt als ... – wobei die Frage entstünde, ob Beuys trotz des Wissens um Marcel Duchamp und seines Bezugs und seiner Praxis zur ‚Fluxus‘-Bewegung und mit seinem Repertoire an Begriffen sich je außerhalb des Kunstbetriebes und des Kunstmarktes gestellt habe. Das Überraschende am Zeitgeist, an geistigen Strömungen sei ein Geschehen im Denken, Entwickeln und Tun, von dem der andere nichts wisse und trotzdem Ähnliches oder Gleiches gefolgert und festgestellt werden könne.
Vor diesem Hintergrundwissen seines Kultur- und Kunstverständnisses
bekomme auch die Veranstaltung des Schmierfestivals ‚Narrenhände beschmieren Tisch und Wände‘ auf dem Marktplatz zu Biberach am 20.9. – 21.9.1969 (Fotokopien, Flugblatt) eine ganz andere Einschätzung. Malen auf dem Marktplatz in einer Großveranstaltung, an der die Bevölkerung teilnehme, sei völlig neu gewesen und habe sich am ersten Abend zu einem richtigen Volksfest entwickelt, wobei einige Leute spontan Raketen abgeschossen hätten.
Seine Absicht sei es gewesen, bei diesem Ereignis aufgeweckte, intelligente Personen anzutreffen, die für die Schaffung von Kulturpolitischen Arbeitskreisen zu gewinnen gewesen wären, und das sei ihm gelungen. Der ‚Schützenkeller‘ sei zum Ort ihrer Zusammenkünfte und Veranstaltungen geworden.
In diesen Kulturpolitischen Arbeitskreisen seien für Biberacher Verhältnisse Kultur, Kunst und Gesellschaft auf recht ungewohnte Weise definiert worden, mittels progressiver Literatur und eigener Ideen. Das habe z.B. mit Herbert Marcuses ‚Über den affirmativen Charakter der Kultur‘, in ‚Kultur und Gesellschaft I‘, begonnen und sich potentiell in Aktivitäten, in Projekten, die weit über die Vorstellungen von Performance hinausgegangen seien, gesteigert und sich sogar in der Mitarbeit und Mitwirkung im Dramatischen Verein bei dem Stück ‚Herkules im Stall des Augias‘ von Dürrenatt, Regie Strittmatter, Bühnenbild M. Heilig, gezeigt und vor allem in der Bürgerinitiative ‚Aktion Schützenkeller – Kommunikationsmodelle‘.
Obwohl die Arbeitskreise zur geistig fortschrittlichen Motorik in dieser Stadt beigetragen und es auch verstanden hätten die Bürger, vor allem junge Menschen, anzusprechen, sei andererseits Bedeutung und Stellenwert von den Vertretern der Behörden mit zweierlei Maß gemessen worden. Trotz der Aufforderung zu mehr Demokratie, Zivilcourage und kreativen Beiträgen seien weiterhin nur anerkannt und ernst genommen worden die Dinge des Bestätigten und Bewährten und ein Engagement in den Institutionen. Verstanden worden seien höchsten noch Ideen, die von irgendwoher nachgeahmt worden seien. So habe es nicht verwundern dürfen, warum ein Dieter Arnold für sein Engagement, die Städtische Schrannengalerei zu betreiben, mit der Einberufung in den Kulturausschuß des Gemeinderats belohnt worden sei.
Das Abweichende, die Idee und das Wagnis seien, und das bis heute, ignoriert und ‚bestraft‘, dagegen das Gewohnte, das Gesicherte mit institutionalisiertem Machtanspruch ausgezeichnet worden. Oder sei es immer wieder der Neid und die Rache des Establishments gegenüber der Idee und Infragestellung des status quo, das dazu führe? – Es gebe noch viel zu tun in der Aufarbeitung dieser Jahre!
„Die gut erhaltene Einladung von Klaus Leupolz zur Eröffnung der ‚Galerie Kuckuck‘ in der Engelgasse 6, BC, am 8. März 1974, fiel mir so nebenbei in die Hände (Fotokopie). Die Eröffnungsfeier war für eine Vernissage ungewöhnlich und dauerte die ganze Nacht Bei Sonnenaufgang ging ich mit Gerlinde heim in die Königgasse 7.
Das alles kommt mir heute vor wie in einem völlig anderen Leben, mit der Erlebniskraft des Glücks. (....) Wer steht eigentlich noch von den Akteuren der 60er und 70er Jahre auf der Bühne des Lebens? Grund genug, das ‚Spiel‘ einige Jahre noch fortzusetzen.
Es grüßt Dich herzlich
Dein Martin“
- Hitze, 33° Celsius. Die Stadt glüht.
29.7.2002

28
Jul

28.7.2002

Am 28. Juli 1930 wurde Klaus Leupolz geboren, und am 28. Juli 1902 Sir Karl R. Popper. Diese Kongruenz der Geburtsdaten ist mir erst heute, als ich den ersten Blick auf den Artikel in der „Neuen Zürchen Zeitung“, in dem auf Poppers Zentenarium hingewiesen und seine Sozialphilosophie gewürdigt wird, geworfen habe, aufgefallen, und nie machte Klaus Leupolz mich in unsern Gesprächen, in denen immer wieder auch Philosophisch-Theoretisches, Geschichtliches, aufkam, auf diese Gleichzeitigkeit zumindest dieses besonderen Tages im Jahr, wobei er freilich auf diese allmenschlich-tägliche Besonderheit nie höheren Wert legte, aufmerksam, wo er doch Popper als den einzigen Philosophen nur oder Sozialtheoretiker, unter all den anderen, schätzte und mit seinen Postulaten übereinstimmte – sofern Klaus Leupolz je mit irgendjemandem oder irgendetwas übereinstimmte. Mir wird erst heute, erst jetzt, die schiere Deckungsgleichheit der Lebensführung meines Freundes mit den Popper’schen Maximen deutlich; die Falsifizierung des Gegebenen durchzuführen; sich den Irrtümern des scheinbar Richtigen zu stellen, aus dieser Negation die Kraft für die Suche nach etwas Neuem, das sich besser bewähren könnte, gewinnen; die Vernunft in der Kritik des Bestehenden anwenden; geistige, und praktische, Unabhängigkeit gegenüber den Ansprüchen und der Aufgeblasenheit sogenannter Großer Männer, gerade dann, wenn zu erkennen ist, daß sie dies nicht sind, zu demonstrieren. Ich bin geradezu genötigt, hier ein Zitat aus dem NZZ-Artikel folgen zu lassen: „Kritik und Engagement gehören für Popper zusammen – wie in der Philosophie der Aufklärung. Auseinandersetzung und Polemik kennzeichnen Poppers Denkstil ebenso wie das Einstehen für jene Werte, die nach der Französischen Revolution die Philosophie der Aufklärung inspirierten. Philosophie ist für Popper nicht – und ist es auch, wo immer sie lebendig war, nie gewesen – ein konsequenzenloses Geschäft, sondern sie muss ihren Beitrag zu anstehenden Problemen leisten – und das sind vorrangig Probleme des politisch-praktischen Lebens.“ Nun darf ich annehmen, daß mein Freund Leupolz selbstverständlich wußte, daß sein Geburtstag identisch mit dem des Philosophen war und daß es ihn gefreut haben muß, daß ein Mann, dessen Ideen und Vorschläge er schätzte, am selben Tag, nur achtundzwanzig Jahre zuvor, geboren worden war; umso mehr, als er doch im Laufe seines Lebens erkennen können mußte, wie seine Art zu leben den Grundlinien des anglo-austriakischen Denkers allmählich entsprachen; es muß eine stille Genugtuung für ihn gewesen sein (von der er nie sprach), daß seinem Leben eine philosophisch formulierte Grundströmung eigen war, ungewollt, denn das Leben wird früh zunächst durch Charakter und Selbsterfahrung bestimmt, die vor jeder Beschäftigung mit Philosophischem sich im Menschen ausformen und fest bilden, und alle Denkerfahrungen anderer sind dann – sofern sie in den pädagogischen Prozeß nicht in ausgeprägter Weise eingreifen – Beiwerk, das stützen kann. Ein unabhängig von Moden und Zeitgeisteinfällen denkender Mann war dieser Freund, der vor hohem Posten und Geßlerhut nicht den Rücken bog, in seiner Kritik – und auch die Biberacher Verhältnisse boten zuweilen in ihren borniert-lachhaften Hervorbringungen reichlich Anlaß dazu – vor polemischem Ausbruch nicht zurückschreckte und so den Unmut der Einflußreichen und derer, die davon weit entfernt waren, auf sich zog – was ihm gleichgültig zu sein schien und ihn doch so völlig unberührt nicht ließ. Denn wenn er (ich halte mich nun in diesen Biberacher Zuständen auf und berücksichtige nicht seine Äußerungen zur größeren Politik im Staat) seine Meinung, seine Anregungen auch, vortrug, dann geschah es – aber um das zu erkennen mußte man schon die Bereitwilligkeit mitbringen, aus dem manchmal zornigen Poltern das Bemühen, für das kulturelle und überhaupt das Leben in Biberach etwas Konstruktives, wenn vielleicht auch Eigenwilliges, aber das wäre der Stadt ja nur doppelt gut bekommen, beizutragen, herauszuhören, und daran gebrach es vielen, die an Tischen und in Foren saßen – aus einer tiefen Verbundenheit mit dem Genius loci, der ihm jedoch allzu häufig abwesend zu sein schien, weshalb auch er es in den Fünfzigern, den Sechzigern des zurückgewichenen Jahrhunderts vorzog, dem Städtchen für Jahre mitunter den Rücken zu kehren. Dann reiste er nach Persien, Thailand, Malaysia, Bali, nach Australien und Neuseeland (wo er zwei Jahre lang auch seinem Beruf als Zimmermann und Ingenieur nachging und sich verliebte), und wieder mußte es ihm wie eine Bestätigung seiner Denk- und Lebensart sein, daß auch Sir Popper, wie er, Jahre auf diesen großen südpazifischen Inseln sich aufhielt. Vielleicht weil er wußte, daß mir Poppers kritischer Rationalismus aufgrund meiner marxistischen Vergangenheit und meines Festhaltens an dialektischen Vorgehensweisen, die Popper ablehnt, nicht allzu bedeutsam erschien – ich war in L.s Augen wohl nicht „offen“ genug – , erreichten unsere mäandernden Unterhaltungen und Erörterungen dieses Gebiet nicht so oft, aber wenn, dann ließ er an seiner Wertschätzung dieses Philosophen keinen Zweifel.
Als ich noch in Stuttgart an der Universität war, klaute ich eines Tages Poppers Schrift „Das Elend des Historizismus“, eine schlichte Ausgabe in braunem Einband, weil ich zu jener Zeit an dem Ideologie-Kapitel für das Science Fiction-Handbuch saß, das bei S. Fischer herausgegeben werden sollte, und ich Poppers Positivismus als ein Beispiel für die neueste bürgerliche Ideologie, die keine sein will, und doch für eine heruntergekommene Sozialdemokratie den theoretischen Fundus bildet, kritisierend einarbeiten wollte. Las, was beim „Positivismusstreit“, dazumal in Tübingen vom späteren Lord Dahrendorf angeregt, herausgekommen war. Beim Umzug von Biberach nach Berlin fielen mir diese Bücher wieder einmal in die Hände, und nach dem kommenden, der vielleicht noch in diesem Jahr stattfinden wird, werde ich sie auch wieder, nebst all den anderen, die ich, weil ich Theorie nicht auf den Regalen haben wollte, als ich hier einzog (Benjamin und Adorno und Block u.a. wenige ausgenommen, weil ich die der Literatur zuordne, ausgenommen), in den Kisten beließ, aufstellen. – Happy birthday, Klaus L., wo immer du bist!
- Hochsommerlich heiß.
28.7.2002

27
Jul

27.7.2002

In einem anderen Sommer gegen das Ende der achtziger Jahre hin verließ ich am Samstag um 14.20 Uhr mein Einzimmerapartment im Wohnblock am Klauflügelweg, nicht ohne noch Panama, den Kater, gekrault und mit guten Worten versehen zu haben, holte mit einem Knopfdruck den Aufzug herauf, oder herunter, fuhr in ihm zum Erdgeschoß, ging aus dem Hochhaus und schlug meinen seit ein paar Jahren von dieser Stelle der Stadt aus zu ihrem Inneren entlanglaufenden Weg ein, vorbei an Mehr- und Einfamilienhäusern mit größeren und schmaleren Vorgärten, in denen Blumen und Hecken, sie abgrenzend von der Straße, blühten; eine Zickzackkurve, die ich entlang dieser nicht sehr breiten Wohngebietsstraßen auf ihren Gehwegen vollzog, über den nördlichen Galgen- und Mittelberg (so der Name dieses Wohngebiets) und von ihm auf den vielen Stufen der Treppe des „Kanonenberges“, wie die Stelle oberhalb dieser steilen Treppe seit alters her ihre Bezeichnung hat, hinunter ins Tal, einbiegend in die Straße, an der, in ihrer Mitte links von ihr, die Dollingerschule erreicht wird. Zwischen Gebäude und Mäuerchen, das den Schulhof um eine Hecke, die zur Raustraße gehört, abteilt, kann man über drei flache Stufen in den Schulhof gelangen; über ihn, dessen Gittertor an der anderen Seite immer offen stand, zu gehen bedeutete, eine Abkürzung quer hinüber zu nehmen, und wenn sie auch nur Sekunden in meinem Gang zur Kinoarbeit, der exakt fünfundzwanzig Minuten dauerte, einbrachte, so ging ich doch fast immer über den Schulhof, in dem ich, viele Jahre früher, in den großen Pausen meiner Wirtschaftsgymnasiumsjahre meine kleinen Kreise mit den mir Vertrauten zirkelte. Während ich, in den Sommern, Ende Juli, Anfang August, auf dem Weg zur Arbeit über diesen gar nicht großen, doch leer und verlassen liegenden Hof schritt, empfand ich die Stimmung der Stille, in die etwas Träges hinein spielte, in die die oberschwäbische Stadt in den ersten Tagen der Schulferien, die in Baden-Württemberg stets erst Ende Juli begannen, wie in ein luftiges Ruhekissen einsank, besonders intensiv, und das war der imaginäre Abschnitt, in der die scharfe Zickzacklinie meines forschen Gehens in meiner Vorstellung, in der sich allerdings wichtigere Bilder und Gedankengebäude ein- und aufgestellt hatten, eine zarte Ausfransung, einem un-scharfen Tuschestrich nicht unähnlich, erhielt. In diesen Sekunden, die ich nur zur Durchquerung dieser mir aus Schulzeiten bekannten Fläche innerhalb des Stadtgebildes benötigte, hatte ich auch ein deutliches Gefühl für die Lage dieser Stadt; in ihrer topographischen Situation innerhalb eines Landstrichs, der Region, ihrer sehr südwestdeutschen – Randlage, war ich manchmal in Versuchung zu denken; wie aus der Vogelperspektive betrachtete ich dann in Sekunden, die eher geahnt als streng beobachtet waren, dieses Städtchen in seiner mir angenehm erscheinenden Einbettung in das große Land, in den Staat, und meine winzige hauchdünne Linie, die ich in ihm zum Kino an der Saudengasse nähte.
- Sonniger, warmer Spätjulitag.
27.7.2002

26
Jul

26.7.2002

In einem anderen Sommer, als meine Großmutter noch lebte, 1960?, betrachtete ich in einer Nacht von unserem Schlafzimmerfenster aus, wie sich in südöstlicher Richtung eine dunkelrote Wolke in die Dunkelheit fraß: der Mondbauer an der Mondstraße brannte ab. Die Wolke, von unten röter beleuchtet, quoll auf, bauschte sich zu einer rotschwarzen flüchtigen Masse, die langsam, langsam vom sommernächtlichen schwachen Wind zerteilt und verbreitet wurde. Großmutter, Mutter und Kind standen am Fenster und sahen auf das ungewöhnlich-theatralische Schauspiel, das sich nur in dieser weithin sichtbaren Wolke manifestierte, denn wie der Bauernhof brannte, das konnten wir nicht sehen, nur uns vorstellen; umso schauriger, beklagenswerter, erschien das traurige Ereignis in unseren Vorstellungen, in die sich, bei mir, und für die beiden anderen, die neben mir, vermutlich von Feuerwehrsirenen von fern aus dem Schlaf geholt, und danach hatten sie mich geweckt, aus dem Fenster lugten, konnte ich und kann ich – sehr lange ist es her, daß wir dort standen – nicht sprechen, ein romantisches Gefühl mischte; obwohl ich das Wort „romantisch“ in jener Stunde wahrscheinlich noch gar nicht kannte, oder nicht viel damit anfangen konnte; so sollte es das Gefühl als ein abenteuerliches sprachlich genauer gefaßt werden. Am nächsten Tag eilte ich zur Brandstätte und sah mir alles an. (Oder wütete dieses Feuer noch zur letzten Schulzeit im Juli? Dann hätte mich der morgendliche Gang zur Pflugschule ganz selbstverständlich an der Brandruine vorbeigeführt.) Das Anwesen des Mondbauern lag an der linken Seite der Straße, wenn ich vom Lindele herunter zur Schule ging. Der große Stall an der dem Zugang zum Hof gegenüberliegenden Seite war ab- und ausgebrannt, verkohlte Balkenstücke lagen über den Hof verstreut, der Brandgeruch stach mir in die Nase, ein Feuerwehrwagen mit Schläuchen, die noch roten Schlangen gleich sich über den Hof verteilten, stand zwischen den Stallungen und dem Wohnhaus, Feuerwehrmänner in ihren schweren Anzügen und mit den Helmen auf den Köpfen redeten einsilbig miteinander. Ich schlich vorsichtig herum und bestaunte den nachtschwarz gebrannten und teilweise eingebrochenen Dachstuhl, dessen Überreste pittoresk in den blauen Himmel ragten, in dem kleine Wolken wie Tupfer aus weißem Rauch eingebettet schwammen. Das Vieh habe gerettet werden können, entnahm ich einem Satz aus Feuerwehrmanns Mund, „zom Glick“. Das Wohnhaus an der Straßenseite war unversehrt, wenn auch angeschwärzt vom Rauch, wahrscheinlich war es in der Nacht mit Wasser aus den dicken Schläuchen bespritzt worden. Auch am Tag danach besuchte ich den aufregenden Brandort. Vermutlich waren Freunde dabei. Nun bemerkte ich schon, daß aufgeräumt wurde. Das Feuerwehrauto war abgefahren. Keine Brandgefahr mehr. Ja, und nach ein paar Tagen sprachen wir Jungen schon nicht mehr davon. In den späten achtziger und neunziger Jahren kaufte ich die Eier, samstags oder mittwochs, wenn in Biberach Markt ist, immer bei der Mondbäuerin, einer hoch gewachsenen schlanken Frau mit lebhaften Bewegungen, die das Haar als Steckknoten, sofern diese Frisur so heißt, trug. Sie begrüßte mich stets wie jemanden, den sie kenne, und nicht vom Eierkauf her kenne, und noch heute glaube ich manchmal eine – sehr unklare – Erinnerung daran zu haben, daß meine Mutter in den frühen Sechzigern, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht religiösen, zum Mondbauernhof gegangen sei, doch war die Mondbäuerin, die mir die frischen Eier von den frei gehaltenen Hühnern mit flinken Fingerbewegungen in die Sechserschachtel füllte, keineswegs in dem Alter, in dem meine Mutter ungefähr gewesen wäre, wenn sie noch gelebt hätte. Und die Mondbäuerin saß auch gar nicht mehr auf dem alten Hof an der Mondstraße; aber wo? Denn auf das ehemalige Hofterrain waren längst mehrstöckige Apartmenthäuser gebaut worden, modern gestylt, mit blau und weiß getönten Fassaden. Vielleicht hatte diese Mondbäuerin mich als Kind gekannt? Oder ich war ihr aus der Zeitung, in der ich ab und zu abgebildet war, ein Name? Dieser Mondbauernhof blieb mir immer eine Nachricht aus der Kindheit, obwohl ich für’s Ländliche nicht zu haben bin: rotschwarzer Rauch, das Gefühl einer Gefahr nicht allzu weit entfernt, die mir aber nichts anhaben konnte.
- Trüb, regnerisch.
26.7.2002

21
Jul

21.7.2002

Als es in Biberach noch das Kaufhaus „Schleehauf“ gab, als es vom langjährigen Stammhaus im vormaligen „Haus Krone“ an der Ecke Hindenburgstraße/Viehmarktstraße – in dem übrigens der Großvater mütterlicherseits des Kinobetreibers K., Erpff, in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts eines der ersten Kinos der Region betrieben hatte ... – aus am Viehmarktplatz um die Ecke ein zweites Verkaufsgebäude bezogen hatte (das ab Anfang der sechziger Jahre konkurrierende „Riß“ stand direkt an der Ecke, im Ruch eines zweitklassigen Billigkaufhauses, dazwischen), ging ich mittags oft, als Realschüler, sagen wir der vorletzten Klasse, nach Schulschluß in dieses „neue Schleehauf“, um auf der ersten Etage in dem Restaurant-Café, wo die Kundinnen, weniger die Kunden, bei einem Täßchen Bohnenkaffee mit Milch und Zucker und einem Tortenstück oder mit etwas anderem aus dem Angebot der Theke versorgt über den befriedigenden Einkauf oder über dessen Fortsetzung sinnen konnten, etwas zu mir zu nehmen, wenn das am Morgen mit meiner Mutter abgesprochen worden war, oder ich ging mit ihr in ihrer Mittagspause vom „alten“ Kaufhaus hinüber und wir bestellten uns einen Toast oder Saitenwürstchen mit Brot und Senf, und ich trank eine Cola oder einen süßen Sprudel dazu. Während dieser Schnellmahlzeit der sechziger Jahre – als „Fast Food“ noch unbekannt war – besprachen wir dann, wie die zweite Tageshälfte für uns zugehen würde; meine Mutter hatte abends manchmal ihre Termine und sagte mir (ich verzehrte das zweite Würstchen), wann ungefähr sie nach Hause käme, und ich erbat mir wieder einmal etwas Geld für den meinerseits geplanten mittwöchlichen Kinobesuch; viel zu besprechen gab es aber nicht, wahrscheinlich legte meine Mutter Wert darauf, daß wir uns untertags auch hin und wieder sahen. In jenen Jahren gewöhnte ich mir das häufige Alleinsein an, dem ich immer etwas abgewinnen konnte, und dabei ist es geblieben.
Dieses Restaurant, in das man sofort hinein trat, hatte man die gewinkelte Treppe hinter sich gelassen, nahm den Südteil der Etage ein, im Nordteil hingen nicht allzu teure Teppiche von ihren Gestängen und breitete sich die „Auslegware“ in ihren Farbgebungen aus, und Tapezierzeug, Tapeten, alles, was man zur Verschönerung der Sechzigerjahreheims benötigte, war hier zu haben. Breite Fenster ließen viel Licht herein, dennoch leuchteten auch mittags die Neonröhren unter der Decke. Entweder mußte meine Mutter dann schnell wieder hinüber ins andere Haus und verließ den Resopaltisch als erste, oder ich zog vor ihr davon, wenn sie sich noch ein wenig ausruhen wollte. Unten neben dem Treppenaufgang stand all die Jahre ein Drehständer, in den Heimat-, Liebes-, Arztromänchen einsortiert waren, die mir suspekten Landser-Schundhefte (auf sie wandte ich die abfällige Bezeichnung ganz unironisch selber an), das eine oder andere „Utopia“-Werk aus dem Verlagshaus Moewig-Pabel, dazu Exemplare der Heftserien „Mark Powers“ und „Rhen Dark“ – und natürlich Westernromane. So verließ ich kaum einmal dieses Kaufhaus, ohne den Heftchenständer einmal um seine Achse gedreht und eventuelle Neuzugänge kontrolliert (und mitgenommen) zu haben. Eine eigentümliche, sehr charakteristische Ausdünstung strömten diese Heftchen aus, ein wenig muffig roch es in ihrer unmittelbaren Nähe, nach billigem Papier; ich mochte diesen Geruch. So beendete ich oft mein ernährungswissenschaftlich bedenkliches mittägliches Mahl, indem ich zwei oder drei Heftchen erwarb, einen mit unbekannten „Mark Powers“-Band (zu jener Zeit wurde die Serie schon nicht mehr fortgesetzt) oder ein „Utopia“-Dings mit einem rasanten Raumschiff oder deren Benutzern, die sich mit klobigen „Blastern“, aus denen dicke Laserblitze schossen, der tentakelreichen Fremdweltenmonstern oder robotischen Blechkästen erwehrten, vorne drauf, dazu eine Westernstory der Serie „Tom Prox“ oder „Billy Jenkins“. In einer Stunde des Nachmittags, manchmal noch vor der Erledigung der lästigen Hausaufgaben, zog ich sie aus der Innentasche des Anoraks und legte sie auf den großen Eßtisch im Wohnzimmer, an dem sie von mir Hirnmonster als Lesefutter verschlungen wurden. Ein Heftchen aber reservierte ich mir für den Abend, schließlich hockte ich doch nicht immer im Kino, wo ich mir Geschichten aus der Fremde in die Gedankenwelt reinzog.
- Eher regnerisch; unfreundlich; am Vormittag zwei heftige Sommergewitter nach der Mittagszeit, mit reichlich Regen, Hagel, die Hagelkörner hüpften vom Fensterbrett. Zwischen den Gewittern abrupt rasch Sonnenlicht. Nach dem zweiten Unwetter blieb es „schön“ bis zur Dämmerung.
21.7.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6908 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren