Es begibt sich aber am Abend jedes vierundzwanzigsten Dezembers zu Biberach, daß über dem Marktplatz das neugeborene Jesuskind herunter gelassen wird. Das kann nicht jede Stadt von sich behaupten. Liegt an diesem Abend die Dunkelheit schon eine Zeitlang über der Stadt und in ihr, steigt gegen 19 Uhr ein helles Licht herab; allerdings nicht das einer Supernova aus weit entfernten Zeiten oder das einer Planetenkonjunktion, die irgendwelche drei weisen Männer aus dem Orient – vielleicht aus dem alten Babylonien, jetzt Irak, oder aus Afghanistan – in diese okzidentale Oberschwabenstadt zu führen hätte – es ist nur das in einem Oval scheinende Glühbirnenlicht, das die einer Putte aus Barockkirchen oder (so wäre der Zusammenhang mit orientalischen Verhältnissen doch wieder zu sehen) einer Minimumie ähnlichen Puppe umkränzt, die von zwei Engeln in Rot und gelben Sternen und einem Halbmond (!) flankiert wird, während sie aus einem obersten Fenster des zweigiebeligen Gutermannschen „Stirnhauses“ des Marktplatzes sehr langsam, akustisch von frommem Liedgut begleitet, abgeseilt wird, bis sie über den Köpfen der den vorderen Platz ausfüllenden schwarzen Menschenansammlung hängt. Man nennt dies: S Chrischtkendle ralau, und kein wirklicher Biberacher möchte diesen Brauch missen, der, genau betrachtet, nicht nur für die Kinder veranstaltet wird, die staunend in der Menge stehen oder von ihren Vätern auf die Schultern gehoben werden und das Ereignis mit großen Augen, in denen sich der Lichterkranz und das Biberacher Christkind miniaturisiert widerspiegeln, verfolgen. Das Christkind schwebt aus dem Gutermannschen Dachboden herab und verharrt, nicht ganz unten angekommen, in strahlender Blässe; die Menge singt; oder das Singen findet schon während der Herablassung statt, ich habe das nicht genau im Gedächtnis. Vor vielen Jahren, als junger Mensch nach der Schulzeit, stand ich, das fast mystische Schauspiel in einer Mischung aus Ironie und Rührung, die aus der Kinderzeit aufstieg, noch einmal beobachtend, in der von quasiheiligem Erschauern ergriffenen Ansammlung. Unter dem Absingen anderer Weihnachtslieder entschwindet das Puppenchristkind nach angemessener Verweildauer über den Schaufenstern eines Schuhhauses (das allerdings zu dieser Jahreszeit keine Sandalen anbietet), die selbstverständlich unbeleuchtet sind, wieder in die Höh‘, verschwindet in dem hölzernen Vorbaugehäuse vor dem Hausfenster. Die Glocken von St. Martin beginnen zu läuten, die weihnachtliche Zierbeleuchtung an den Giebeln rund um den Platz glänzt auf und erhellt den Marktplatz. Am Brunnen besprenkeln die Glühlampenkerzen das dunkle Grün des Tannenweihnachtsbaums. Und wenn die Stadt verschneit ist, wirkt dies alles noch romantischer und stellt eine gedämpfte Feststimmung her. Murmelnd zerstreut sich die Zuschauerschaft, um zum Weihnachtsbaum in der guten Stube zurück zu kehren und die Bescherung zu vollziehen.
Als die sechziger Jahre begannen, ein Jahr nach dem Tod meiner Großmutter, glaube ich zu wissen, also vor vierzig Jahren, ging ich mit Frau H. und ihren Kindern, mit denen ich ja oft zusammen war, in einem schneereichen Heiligen Abend hinunter in die Stadt zum Spital, wo neben dem Museum, das in dem Viereck von alten Gebäuden seine Exponate zeigte, auch ein städtisches Amt seine Akten in den Schränken verwahrt, wo eine Kirche im Ostflügel, in die ich als Kind jener Jahre zum Sonntagsgottesdienst, mit meiner Mutter oder ohne sie, hinein trat und in einer der hölzernen Bankreihen saß, um von der Alten Geschichte zu hören, untergebracht ist (vor ihr das Denkmal mit den Büsten des Malerpaars Braith und Mali), zum „Chrischtkendleralau“; ich sehe mich wieder in der schwarzen harrenden Menge, die sich unruhig bewegte, nur ein bißchen hin- und herschwankte, was an den Köpfen zu bemerken war, zwischen denen ich einen Blick auf die Giebelfront am Ostflügel hatte. Dann öffnete sich die Klappe unten am Gehäus, in dem es versteckt war, das Christkind, weihnachtliche Weise ertönten, die Zeremonie übte einen leisen Zauber auf mich aus. War der Christkindlespuk vorüber, wurden an die Kinder große Lebkuchen ausgeteilt, deren Verzehr freilich gute Zähne voraussetzte, denn sie waren hart, man konnte den halben Abend an ihnen herumnagen. Ich steckte das Stück enttäuscht in eine Anoraktasche und dachte nicht mehr daran. Frau H. und wir Kinder spazierten durch den Schnee auf den Gehwegen und Straßen und Dächern und Bäumen und Büschen, denen er andere, weichere Konturen anlegte, zurück in unsere Wohngegend und wir formten Schneebälle in den Handschuhen, die wir uns an die Jacken warfen; oder sie verfehlten das spielerisch anvisierte Ziel und plumpsten zwischen Büsche und Bäume, wo sie in der weißen Schutzschicht des Winters versackten und unregelmäßig modellierte Mulden verursachten. Wir schlenderten so in die Lindelestraße hinauf, stampften auf der Haustreppe den Schnee von den Schuhen, klopften das feine Gestäub – denn es schneite wieder – von den Jacken und betraten das Haus, die Wohnung, die im stimmungsvollen Schimmer des Heiligen Abends noch gemütlicher erschien. Kerzen brannten an den Zweigen des Weihnachtsbaums im Wohnzimmer und die Wohnung roch nach dem Duft des Rauches, der aus dem o-förmigen Mund des erzgebirgischen hölzernen Räuchermännchens floß; und nach dem Essen, das meine Mutter, während ich beim „Chrischtkendleralau“ gewesen war, schon zubereitet hatte und das in der Küche in den Töpfen und Pfannen wartete . Das Angenehmste und Schönste war die Wärme, die uns, die wir aus einem echten Weihnachtsabend kamen, freundlich umfing. Unter dem „Baum“ lagen die Geschenke ausgebreitet: größere, kleinere, längliche, dicke Schachteln, eingepackt in buntes Weihnachtspapier, und auch zwei große packpapierbraune Pakete lagen hier, die waren aus der „Ostzone“ gekommen. Frau H. und ihr Kinder, Edelgard, Fanny und Herrmann, nahmen freudig ihre Geschenke entgegen und gingen nachhause. Meine Mutter trug das Essen auf, und nach dem Mahl, als das Geschirr abgeräumt war, packten wir mit besonderem Genuß die Geschenke aus, die wir füreinander hatten, wobei meine Gaben eher bescheiden waren; und was schenkte ich meiner Mutter in jenen Jahren zu Weihnachten? Gebasteltes, Gemaltes? Etwas, das sich vom Taschengeld bezahlen ließ? Immer bekam ich Bücher, etwas anderes interessierte mich auch gar nicht. Schließlich entwickelten wir die Pakete der Schwestern, der Tanten, und freuten uns über das, was stückweise nacheinander aus ihnen hervorgeholt werden durfte. Auch aus diesen Paketen entnahm ich zwei oder drei Bücher. Das Radio spielte Weihnachtslieder. Es kam in jenen Abenden in den Sechzigern vor, daß wir dann die Wohnung verließen und hinüber zum Krummen Weg zu Frau H. gingen, wo wir unsere „Gschenkla“ entgegennahmen. Zu späterer Stunde kehrten meine Mutter und ich durch die feierliche Stille der Nacht durch die Probststraße „zu uns“ zurück, und ich inspizierte die mir zugekommenen Gaben noch ausführlich, bis ich mich, deutlich nach Mitternacht, niederlegte. So, oder so ähnlich, verliefen die Abende des 24. Dezembers bis in die ersten beiden siebziger Jahre hinein (nicht immer war ich beim „Chrischtkendleralau“); am Hl. Abend des Jahres 1973 war, nach einundzwanzig Uhr, Clubbetrieb im „Club Impuls“, den Falk und ich in an einem Dezemberabend zuvor eröffnet hatten. Der Charakter dieses Abends begann sich in den folgenden Jahren für mich zu verändern.
- Ein düsterer Tag, anhaltend niedrige Außentemperaturen.
24.12.2002
24.12.