25
Aug

25.8.2002

Der Jazzclub florierte; und ich lernte neue Freunde kennen. Die Kaltenbach-Brüder, Stefan und Bernhard. Kurt, der Älteste der drei Brüder, hatte mich an einem Dezembertag im Jahr 1974 in seinem Auto aus Stuttgart, wo er Metallurgie, wie ich glaube mich zu entsinnen, studierte, mitgenommen. Wir begegneten uns danach nur zwei- oder dreimal im Lauf von zwanzig Jahren. Bernhard, selbstbewußt und konservativ, saß im Frühjahr 1976 vor meinem Schreibtisch in der Karpfengasse, sechzehn Jahre alt, und wollte wissen, von was ich eigentlich lebte. Ich erzählte ihm von meinem abgebrochenen Studium, von Bafög-Geld, von meinen Schreibereien, was ihn alles nicht sehr überzeugte. Dennoch befreundeten wir uns. Mit ihm und Stefan, dem etwas älteren Bruder – beide trugen ihre Haare lang – und der Karpfengassen/Jazzclub-Clique saß ich im „Strauß“; das alte Umfeld der politischen Zeit war fast verschwunden. S. und B. machten Jazzrockmusik mit einer eigenen Gruppe, S. spielte Leadgitarre und sang, B. drosch auf’s Schlagzeug ein. Anton W., ein verschlossener junger Typ, machte sich stoisch an seinem Bass zu schaffen; gut, wie man sagte. War nicht noch ein vierter Mann dabei? Aber wer? Irgendwann beim Rotwein rückte ich damit heraus, daß mein Erzeuger jahrzehntelang in der Firma, die der Vater von Bernhard und Stefan und Kurt leitete, gearbeitet hatte. B. und S. waren eloquent und ironisch und ihre Freundschaft war mir angenehm. Beide hetero, S. verbändelte sich mit Karin R. von den „R.-Sisters“, wie die drei hübschen Schwestern in unserer Clique hießen, und irgendwann fing B. an, sich für die ältere Christina in der Karpfengasse zu interessieren. 1978 waren sie dann liiert. Auf einer Sommerparty im Hause K. tauchte wieder ihr Bruder auf, wir unterhielten uns über Literatur. Ich hatte zwar ein Auge, manchmal auch beide Augen, auf B. geworfen, doch stand von Anfang an fest: keine Chancen. Ich wollte es lange nicht richtig wahrhaben. Ich litt etwas, und manchmal etwas mehr. Ende der Siebziger beruhigte sich das Gefühl. B., dem es nicht verborgen geblieben war, konnte damit wenig anfangen, wir blieben aber befreundet, er distanzierte sich nicht, wie es so mancher andere in so einem Fall für nötig hält. Unsere Freundschaft als Beteiligte der Kleinstadtszene, die sich vor allem aus der Begeisterung für die Rock- und Jazz-Musik heraus definierte, beruhte auf der natürlichen Sympathie, die sich überall in den menschlichen Beziehungen entwickeln kann, auch wenn die erotischen Präferenzen divergieren. Stefan, den alle nur Steff nannten, zog mich zuweilen auf gutmütige Weise auf: „Na, wie steht’s denn mit der Liebe?“, und das war nun ganz allgemein auf meine Situation als Schwuler in der kleinen Stadt gemünzt. Auch er sah mir an, daß es meistens nicht sehr gut damit stand, wollte mich mit seinem Spruch auch nicht verletzten, vielmehr glaubte ich eine Spur Mitgefühl darin zu entdecken.
An einem Nachmittag – noch immer schien der Hochsommer über die Stadt zwischen den Hügeln und Anhöhen, nach dem 20. August 1977 –war ich im Kaltenbach’schen Haus an der Westseite des Talfelds, dem Stadtteil, der sich oben hinter dem steilen bebauten Hang, der die Innenstadt nach Osten hin begrenzt, an ihm entlang zieht, von S. und B. zum Kaffeetrinken eingeladen; ich sah vom Fenster aus hinab in den Talkessel mit dem Turm des „Ulmer Tors“ und dem der Stadtpfarrkirche, die aus den dicht an dicht liegenden roten Dächern hervorragten; auf der gegenüberliegenden Talseite stieg der Gigelberg mit dem Stück der historischen Stadtmauer auf, die links vom runden Weißen Turm, der zu jener Zeit grau war, begrenzt ist, rechts vom höheren schlanken, mit rechteckigen Mauern hinaufstrebenden Gigelbergturm beschlossen wird, und in der Mitte dieser Aussichtsanhöhe, der „Schillerhöhe“, läßt ein hübsches Törchen den Flaneur zum ehemaligen tiefen Wehrgraben, zum Hirschgraben (vom Kaltenbach’schen Fenster nicht einzusehen, aber in meiner topographischen Fantasie setzte ich den Weg dort drüben fort) durch und auf dem von Baumkronen überdachten Weg, der über eine Brücke verläuft, kommt man auf den eigentlichen Gigelberg. Ich schätze es ja immer, eine gute Aussicht zu haben, und daß ich sie in meiner kleinen Wohnung hier in Berlin nicht habe, schmerzt mich oft; ich setzte mich dann an den Tisch, Steff servierte den Kaffee, und ein Zopfbrot mit Butter gab es auch dazu. Wir tranken den Kaffee, bestrichen das Zopfbrot mit Butter, aßen es, plauderten, als Stefan, der frischen Kaffee aus der angrenzenden Küche hereinbrachte und eine Zeitung in einer Hand hielt, mich fragte: „KD, ist das dein Vater, der hier drinsteht?“ Ich wußte nicht, was er meinte, sah fragend auf. „Hier, die Todesanzeige“, sagte Steff und reichte mir die Zeitung. Ich war baff. Mein Erzeuger war gestorben. „Der kalte Kacker!“, rief ich perplex aus. Die beiden Brüder sahen mich eigenartig an. „Na, KD ...“, sagte Steff. „Immerhin war er dein Vater.“ Ich starrte auf die Anzeige. Sie war von der Konkubine meines Erzeugers ins Lokalblatt gesetzt worden. Ein Schauer rieselte mir den Rücken herunter. Ich bereute meinen unbewußten Ausruf nicht, und ein seltsames Gefühl von freierem Leben, das mit einem anderen, für das mir kein ganz passendes Wort einfällt, das aber etwas Triumphalisches an sich hatte, einherkam, stieg allmählich in mir auf. Ich war kühl und auf seltsame Weise euphorisch, von der exorbitanten Nachricht aufgeputscht; wie vor etwas Neuem, das man noch nicht kannte und das aufregend war. Ich stand auf. „Ich muß in die Karpfengasse“, sagte ich, oder etwas in der Art. Wer saß noch am Tisch mit dabei? Kein anderes Gesicht als das der beiden Brüder schwebt mir vor dem inneren Auge. Bestimmt ein anderer Musiker erlebte diese Szene mit. „Meine Mutter wird bald da aufkreuzen oder ist schon da“, fügte ich an. Ich verabschiedete mich und ging durch den schon schattiger werdenden frühen Abend durch die Stadt. Dort brauchte ich nicht lange zu warten, bis meine Mutter, dunkel gekleidet, in mein Zimmer trat; in das größere an der Vorderseite des Hauses. „Weißt du es schon?“, fragte sie mit müdem Gesicht. Ich bejahte und nannte auch den Ort, an dem die Nachricht an mich heran gekommen war. Sie nickte nur. Es war eine jener Situationen, in der keiner weiß, was er eigentlich sagen soll, mit Sätzen darin, in denen Beerdigungsmodalitäten vorkommen. Jeder kennt sie oder wird sie kennenlernen. Wir texteten eine eigene Trauerannonce. Meine Mutter hatte sie vorformuliert. Sie erschien zwei Tage später. Ich verhandelte mit meiner Mutter, deren Verbitterung mit den Jahren fast ganz in Gleichgültigkeit aufgegangen zu sein schien, über die für mich unmögliche Forderung, zu diesem Anlaß endlich zum Friseur zu gehen. Wir einigten uns darauf, daß ich meine Mähne nur um eine bestimmte Länge kürzen ließ. Ich war dennoch ungehalten. Warum sollte ich mich, nur weil „der Alte“, wie meine Mutter und ich den Verstorbenen titulierten, das Zeitliche hinter sich gelassen hatte – „nach mir die Sintflut!“, habe er einmal in den fünfziger Jahren ausgerufen – in meinen Persönlichkeitsäußerungen, zu denen unzweifelhaft lange Haare gehörten, einschränken lassen? Warum ein Zugeständnis machen? Verwandtschaft väterlicherseits kam nach vielen Jahren aus Göttingen zur Bestattung auf dem Stadtfriedhof. Sie ging mich nichts mehr an. Die Zeremonie brachte meiner Mutter eine weitere öffentliche Demütigung ein, als die Gefährtin meines Erzeugers als erste vor dem Grab den ersten Erdwurf mit der Schaufel ausführen durfte; darauf hatte man sich offenbar in Verhandlungen, die die Göttinger führten, geeinigt. Dann erst schippten meine Mutter und ich Erde über den Sarg. Mit steinernem Gesicht trat meine Mutter zurück, ich warf, weil es nun einmal Sitte ist, das, was ich auf die Schaufel bekam, hinab. Ich trug eine sorgsam aufgesetzte Miene der Ungerührtheit. Händeschütteln am Ende der Veranstaltung; dann verzog ich mich sofort ins „Alte Haus“ und nahm etwas Alkoholisches zu mir. Ich weiß gar nicht, was meine Mutter danach tat. – Jahre vergingen; über vier Ecken hörte ich, nach so langer Zeit, von einem Bekannten, bei der Beerdigung meines Vaters habe ich ja, wie ihm zugetragen worden sei, weil er jemandem gesagt hatte, daß er mich kenne, einen sehr unbeteiligten Eindruck gemacht. Ich zuckte mit den Schultern.
- Der Sommer bleibt heiß.
25.8.2002

24
Aug

24.8.2002

Mein Vater sprach im Sommer 1976 von seinem Schäferhund, den er sich nicht ins Haus, sondern auf’s Anwesen in einen Hundezwinger geholt hatte, und davon, wie er ihn im Schäferhund-Verein dressierte. Denn den gab es auch und den gibt es nach wie vor, wie ich auf meinem Spaziergang, den ich am 30. Juni dieses Jahres vom „Café Kolesch“ an der Gymnasiumstraße mittags über die Wieland-, die Mond-, Garten-, die Lindelestraße hinauf zum Lindele, zu dessen höchstem Punkt, und auf anderen Wegen, auf seinem Kamm hinab zum Krummen Weg lustwandelnd unternahm, feststellte, denn in dem Waldstückchen, das an dieser Seite des Lindeles, an dessen Westseite, eine kleine schattige Zone bildet, durch die ein enger Pfad dem Spaziergänger einen Weg bietet, liegt eine Kiesgrube – die ich wieder entdeckte, in der Tilmann F., seine Schwester, andere Knaben und ich vor vierzig Jahren herumkletterten, von deren oberem Rand wir mutig hinabkletterten – , die nun ganz von Bäumen umstellt ist und die in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Bestandteil des Wäldchens wurde, das sie in einen düsteren Ort verwandelte, und in ihr stehen eine Hütte, Balkenwände für die Hundedressur, eine Absperrung, dahinter liegt eine Hundebahn ähnlich der Sprintbahnen für die Spezies Homo s. auf Sportplätzen, und ein Schild, auf dem der Hundesportverein – in dem vermutlich auch andere Hunde neben der Rasse der Schäferhunde abgerichtet werden – auf sich aufmerksam macht, auf dem der hinlänglich bekannte Satz zu lesen ist, Unbefugten sei der Zutritt nicht gestattet. Ich habe nichts gegen Hunde; das war, als ich im Garten des Hauses F., das vor der Kiesgrube, vor dem Wäldchen, steht, und ich sah, als ich weiterging, auch diesen Namen noch auf dem Schildchen am Tor zum Garten, mit T. mit Steckendegen focht, anders gewesen. In der Alpenstraße hatte mich ein Hund, den ich streicheln wollte, gebissen, und danach mied ich es, durch die Alpenstraße, in der ich übrigens auch ein paar Mal das Haus des Musiklehrers und -direktors Knörrlein betrat, zu gehen, und als ich zu jener Zeit nachmittags bei F.s war, bat ich doch einmal den Vater von Tillmann, mich nachhause zu fahren, weil ich befürchtete, dem Hund zu begegnen. Aber dieser Respekt vor Hunden verschwand dann irgendwann in jenem Alter. (Vor Agathe, der Collie-Hündin von Manfred S., allerdings war ich viele Jahre später in der Karpfengasse auf der Hut; sie hatte die unangenehme Eigenschaft des Wadenkneifens an sich, wenn man nicht aufpaßte. „Gathe, laß das!“, war ein Sätzchen, das ich hin und wieder aussprechen mußte, wenn ich bei Manfred in seiner Bude hockte oder mit ihm und dem Hund in der Stadt unterwegs war.) Und als die Freundschaft mit T. versiegte, wurden auch die Gänge hinauf zu den oberen Straßen des Lindeles weniger. Mein Erzeuger hatte also von seinem Hund geredet, ich von meinem – tierischen – Kater, den Elian mir im Juni 1976 ins Karpfengassenzimmer getragen hatte: ein kleines schnelles Langhaarbündel mit großen grünen Augen, das sofort zu mir unter die Bettdecke gekrochen war, denn ich hatte natürlich noch im Bett gelegen, als Elian hereingekommen war. (Ich wechsle ins Imperfekt.) Das Katerchen war wenige Wochen alt und stammte von einem Bauernhof südlich von Biberach, auf dem E. sich vielleicht nach alten Möbeln umgesehen hatte. Da ich ihr einmal gesagt hatte, ich fände Katzen interessanter als Hunde (sie besaß die Dogge Donna, ein schwarzes Tier, das mir bis zur Hüfte reichte, schon), hatte sie den kleinen Kater ziemlich spontan vom Bauernhof zu mir gebracht. Nun hatte ich Verantwortung für das Tier. Ich kaufte eine Plastikschüssel mit niedrigem Rand, sie wurde das Katzenklo, „Whiskas“-Futter und Katzenstreu und stellte auch ein Schüsselchen mit frischem Wasser neben den Teller mit dem Futter in eine Ecke des Zimmers. Ab diesem Tag roch es nach Katze bei mir. Ich taufte den Kater in den Tagen danach auf den Namen „Holden Panama Johnson“, nach dem Haupthelden eines meiner Westernromane, dem, der in all den Jahren bei mir liegen geblieben ist. „Holden“ kam vom amerikanischen Schauspieler William Holden, der in Sam Peckinpahs Films „The Wild Bunch“ den Boß einer Banditentruppe verkörpert. Sabine R. und Herbert K. nannten Panama stets nur „Holden“. Panama wurde mein Lebensgefährte. Es stellte sich heraus, während er zu einem veritablen Halbangora-Kater heranwuchs, daß er klug war und einen guten Charakter hatte. Fast immer in jenem Sommer ließ ich das Fenster zum Blechbalkon hin offen, um ihm das Gehen und Kommen zu ermöglichen; die Gangtür zum Balkon war fast nie geschlossen. Er wetzte, wenn ihm nach Ausflug war, dann den Flur des ersten Stockwerks entlang, die Treppe hinunter, auf dem Flur des Erdgeschosses nach hinten ins Haus, kratzte dort elegant die Kurve, sauste die Kellertreppe hinab, durch einen Raum im Keller, dessen Fenster nur von einem Gitter und keinem Glas gesichert war, und quetschte sich durch dieses Fenster nach draußen auf den schmalen Gehweg, flitzte zu Katerabenteuern davon, von denen ich nie erfuhr, von denen er ein paar Mal aber kleinere Wunden, die glücklicherweise nicht so gravierend waren, daß ein Tierarzt besucht werden mußte, davontrug.
- Heiß etc.
24.8.2002

23
Aug

23.8.2002

Am ersten Tag eines Monats oder am ersten Arbeitstag ging ich von 1963 bis 1967 oder 1968 von der Lindelestraße zur Firma „Kaltenbach & Voigt“, „KaVo“, am Bismarckring, um das Unterhaltsgeld von meinem Erzeuger in Empfang zu nehmen. Die im Verlauf dieser Jahre in ihrem Häuschen vor dem großen Parkplatz hinter dem Eingangstor sitzenden Portiers kannten mich bald und sagten zuweilen joviale Sätze wie: „Grüß Gott, wieder zum Papa?“ Ich entgegnete ein kurzes „Ja“ oder nickte nur stumm. In den frühen Sechzigern betrat ich dann das älteste Gebäude des umfassenden Firmengeländes links vom Eingang, an der Bleicherstraße gelegen, das vor dem Einzug der Firma KaVo im Jahr 1947 zu einer Fabrik mit dem Eigentümernahmen „Schmitz“ gehört hatte. Um die Hintergründe der Ansiedlung von „Kaltenbach & Voigt“ in Biberach nun nicht noch einmal schreiben zu müssen, folgt ein Artikel, den ich im Frühjahr 2000 verfaßte, der aber erst ein Jahr danach in der lokalen Zeitung erschien:

KaVo-Jahre in Berlin und Potsdam – eine Spurensuche
Das Dentalunternehmen „Kaltenbach & Voigt“ ist einer der bekanntesten großen Arbeitgeber in Biberach. Klaus-Dieter Diedrich suchte in Berlin und Potsdam nach den Anfängen der seit 1946 in Biberach ansässigen, seit Jahrzehnten weltweit operierenden Firma.
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Science Fiction-Buchpräsentation der Berliner Festspiele GmbH in der pittoresken Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums des Universitätsklinikums Charité und war plötzlich und ungewollt selber auf einer Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Denn kaum hatte ich das Museum betreten, fiel mein Blick auf einen durch sein Alter schon wieder fremd futuristisch anmutenden Zahnarztstuhl. Neugierig las ich das Erklärungsschildchen, und tatsächlich: „Zahnarztsessel von Kaltenbach & Vogt, 1930.“
Der falsch geschriebene Name „Vogt“ stach mir ins Auge, denn diesen Namen kenne ich seit Kindertagen. Mein Vater hatte 1929 als Zwanzigjähriger bei KaVo angefangen und war der Firma als Werkzeugmachermeister und später Leiter der Werkzeugabteilung bis zur Pensionierung treu geblieben. In seinen jüngeren Berufsjahren bei Kaltenbach & Voigt war er, wie er mir einmal, viele Jahre später in Biberach, sagte, so etwas wie der persönliche Assistent des Firmenmitbegründers Voigt gewesen. KaVo hatte seinen Sitz zunächst in Potsdam gehabt und ihn nach Kriegsende nach Biberach verlegt, soviel war klar. Der Vater war einer jener sieben Leute gewesen, mit denen KaVo in Biberach neu begonnen hatte. Aber wo genau hatte er zuvor für die Firma gearbeitet?
Der Firmengründer, Alois Kaltenbach, 1887 in der Nähe von Freiburg i. Breisgau geboren, macht sich 1909 in Berlin als Instrumentenbauer selbständig. Im Berliner Landesarchiv erfahre ich, dass mit dem Mechanikerkollegen Richard Holz als Kompagnon die „Mechanische(n) Werkstätten Holz & Kaltenbach“ entstehen, die im Lauf der Zeit dreißig Mitarbeiter beschäftigen und als Geschäftsanschrift die Schützenstraße 7 in Berlin-Steglitz haben. Ab 1914 steht nur noch Kaltenbachs Namen im Berliner Stadtadressbuch.
Von 1919 an wird der Betrieb in Potsdam weitergeführt, mitten im Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe des imposanten friderizianischen Marstalls, in dem seit Jahren u. a. das Filmmuseum Potsdam untergebracht ist. Bernhard Kaltenbach (41), gebürtiger Biberacher und Rechtsanwalt in der renommierten Berliner und Potsdamer Kanzlei Seeberg & Stabreit, der mit seiner Familie und zwei Mietparteien seit 1995 das zwei Jahre zuvor rückübereignete Wohnhaus der Kaltenbachs in Potsdam bewohnt, sagt:
„Mit dem Berliner Richard Voigt gründete mein Großvater nach seinen Jahren in Steglitz dann in Potsdam, in der ehemaligen Mammonstraße, heute Werner-Seelenbinder-Straße, die Firma Kaltenbach & Voigt. Im Betriebsgebäude wohnte die Familie auch während der ersten zehn Potsdamer Jahre. Mein Vater, der später in Biberach lange Jahre Geschäftsführer der Firma war, wurde dort geboren. Das Unternehmen produzierte“, so Kaltenbach, „schon damals zahnärztliche Instrumente und Geräte nicht nur für das Inland, sondern auch für den Export. Vor 1939 waren etwa 230 Mitarbeiter im Betrieb. In den letzten Kriegswirren kamen Voigt und der Prokurist Peter Picard ums Leben, der Betrieb wurde teilweise zerstört.“
Alois Kaltenbach lässt die Schäden beseitigen, doch als wieder gefertigt werden kann, müssen Reparationsleistungen an die Sowjetunion abgeführt werden. In weiser Voraussicht dessen, was auch kam, schickt Kaltenbach als umsichtiger Firmenchef den technischen Betriebsleiter Erich Hoffmeister in die Westzonen des besetzten Deutschlands, um dort nach einem geeigneten zweiten Standort für das Unternehmen zu suchen. Schließlich findet Hoffmeister in Biberach die günstigsten Bedingungen.
1946 etabliert sich „Kaltenbach & Voigt“ als Neugründung mit den besagten sieben Mann unter der Leitung von Hoffmeister als neuem Mitgesellschafter am Bismarckring. Unterdessen wird der Potsdamer Stammbetrieb weitergeführt. Alois Kaltenbach bekommt einen Hinweis, die inzwischen zur DDR gewordene „Ostzone“ besser zu verlassen: ein politisch motiviertes Gerichtsverfahren gegen ihn sei in Vorbereitung.
„Mein Vater vermutet“, sagt Bernhard Kaltenbach, „dass mit dem Auslaufen der Reparationsleistungen um 1950/51 der ‚Schutz‘ des Unternehmens durch die Besatzungsmacht Sowjetunion entfiel und der Weg zur Enteignung damit frei war. Aus einem vorgeschobenen Grund wurde mein Großvater, zum Glück in Abwesenheit, denn meine Großeltern waren bereits 1951 nach Biberach geflohen, 1952 als ‚Kapitalist‘ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“
KaVo-Potsdam wird 1952 nach der Enteignung zum „Volkseigenen Betrieb Dentaltechnik Potsdam“. Diesen Betrieb verkaufte die Treuhand nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 an einen Investor; nach einigen Jahren wurde die Fertigung eingestellt. Rechtsanwalt Bernhard Kaltenbach kümmerte sich um die Rehabilitierung seines 1971 verstorbenen Großvaters und um die anstehenden vermögensrechtlichen Fragen.
Ich gehe zum früheren Fabrikgebäude, das auf eine neue Verwendung wartet und stelle mir vor, wie mein Vater durch diese Türen ein- und ausgegangen war. Wenn die Jahre der Firma KaVo anders verlaufen wären – hätte ich Biberach je gekannt?


Oft trafen mein Vater und ich uns in einem kleinen muffigen düsteren Zimmer, in dem an einer Wand Aktenschränke standen und für diesen Hauptzweck war der Raum ja auch gut geeignet. In den Gängen, die von einem neongelb-grauen Licht gleichmäßig ausgefüllt waren, roch es nach Metall, Maschinen und ihrem Öl, eine Mixtur, die wohl auch für andere Maschinenbauunternehmen typisch ist. Mein Erzeuger, der an manchen dieser Nachmittage schon auf dem Flur aus der entgegengesetzten Richtung auf mich zukam, in einen nicht zugeknöpften grauen Meistermantel gekleidet, setzte sich auf den einfachen Stuhl, ich mich auf einen zweiten am Tisch, auf den das mal sonnige, mal regenbleiche Licht über der Bleicherstraße durch das Fenster hereinschwappte, und er griff nach ein paar einsilbigen Worten, die wir wechselten, zu seiner Brieftasche im Jackett unter dem Mantel. Ich steckte die Geldscheine mit einem „Danke“ in eine Innentasche meines Anoraks oder meiner Jacke und dachte mir in den Jahren nach der Jahrzehnthälfte dabei immer öfter, daß dieses Geld mehr sein könnte. Im Auftrag meiner Mutter führte ich einmal, 1967, eine Verhandlung um Erhöhung des Unterhaltsgeldes, die mit der unwirschen Bemerkung „Ich kann nicht mehr zahlen!“ schließlich abgetan war. Verständlich diese Äußerung, denn sehr wahrscheinlich fraßen die Abzahlungsraten für das Haus, das er und seine Gefährtin, mit der er in „wilder Ehe“ zusammenlebte, sich im Hagenbucher Weg am anderen Ende der Stadt gebaut hatten, einen beträchtlichen Teil seines Gehalts auf. Und mir war das Betteln um Geld schon damals unangenehm und würdelos vorgekommen, und so war es auch später. Dennoch war ich in bestimmten Situationen auf das Geld meines Erzeugers angewiesen: bei der Vorfinanzierung meines Gerichtsverfahrens gegen diesen Staat, in der Mitte der Siebziger dann, um einmal die Leasing-Raten für die IBM bezahlen zu können, die in der Karpfengassenzeit zu einem von mir nicht aufzubringenden Betrag angewachsen waren. Nach der Pensionierung saßen wir 1976 und 1977 zwei- oder dreimal im „Café Lieb“ und unterhielten uns „von Mann zu Mann“ über Alltägliches, aber nicht nur: sehr sparsam redete mein „Alter“ über Vergangenes aus seinem Berufsleben, und das auch nur ein Mal; über die Gründe der verkorksten Ehe – seine Frau war immer „deine Mutter“ – äußerte er, wenn das Gespräch doch an die Nähe dieser vergangenen Verhältnisse geraten war, nie etwas und wir wechselten auch rasch das Thema. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, von ihnen aus seiner Sicht etwas zu erfahren. Ich hätte das Gesagte sowieso in Zweifel gezogen, denn obwohl ich sehr wenig von ihm wußte, hatte ich doch in früheren Jahren geahnt, daß er sich die Wahrheit so zurecht legte, wie sie ihm in den Kram paßte. (Die Papiere, die ich bei den Unterlagen meiner Mutter hier in Berlin erst entdeckte, bestätigten dies.) Wir saßen beim Kaffee, vielleicht verspeiste ich ein Stück Kuchen mit Sahne, rauchten „Kurmark“-Zigaretten – nach einer Weile zogen wir beide eine Schachtel dieser Marke aus einer Tasche, weder er noch ich wußten, daß der andere diese Sorte qualmte – , er erzählte von seinem Schäferhund, den er sich – „man muß ja mal raus“ – ins Haus geholt hatte. In dieses Haus setzte ich übrigens nie einen Fuß. Ich ging aber ein einziges Mal daran vorbei, um mir das einmal anzusehen. Er war dick geworden, mit rundem Gesicht, in dem der immer sich zurückhaltende, doch vorhandene Zug ins „Asiatische“ – „er sieht jetzt aus wie ein Buddha“, hatte meine Mutter zu Beginn der siebziger Jahre gesagt – nun stärker ausgeprägt war, mit noch wenigen grauen Haaren zwischen den dunklen saß er am Tisch; Zeige- und Mittelfinger (er hatte fleischige Finger) waren vom Nikotingelb gefärbt. Er war nicht besonders gesund, wie er in einem Nebensatz herausließ. Ich saß mit ellenlangen Haaren ihm gegenüber, mit Oberlippenbärtchen, in Jeans und T-Shirt. So verplauderten wir, eigentlich unangestrengt, weil alle kritischen Bereiche sorgfältig umgangen wurden, eine Stunde, bis wir uns vor dem Café trennten. Er sagte mir im Juli 1976, wie er in den letzten Tagen des Krieges in Potsdam, die sowjetische Armee hatte sich unaufhaltsam nach Berlin voran gekämpft, den im Chaos der Kriegshandlungen umgekommenen Mitinhaber der Firma „Kaltenbach & Voigt“, eben Voigt, gemeinsam mit einem Kollegen heimlich begraben habe; ich war zunächst beeindruckt, wurde dann skeptisch. Konnte diese story glaubwürdig sein? Ich denke aber, daß er in diesem Fall die Wahrheit sagte, denn alles, was mit seinem Beruf zu tun hatte, war ihm wichtig. Im Frühjahr 1977 mußte ich ihn wegen meiner Finanzen noch einmal treffen. Im „Lieb“ erklärte ich die Lage. “Du wirst noch im Gefängnis landen“, sagte er etwas ungehalten. Über meinen Studienabbruch verloren wir kein Wort. Es schien ihm gleichgültig zu sein, was ich aus meinem Leben machte. Er wußte, daß ich ein bißchen vor mich hin schrieb, das wurde nie thematisiert. Sich herauszuhalten war das beste, was er tun konnte. Wieder saßen wir vor Kaffeetassen. Er zog drei Schuldscheine über je DM 500,- hervor, legte sie auf den Tisch, ich unterschrieb sie. Er gab mir das Geld. Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah.
- Sonnenstarkes ruhiges Sommerwetter.
23.8.2002

22
Aug

22.8.2002

Im oberen Bereich des zur Gartenstraße hin sanft abfallenden Gartens bockten H. und ich in der Realschul- , auch noch in der Wirtschaftsgymnasiumszeit (auch er besuchte diese Schule) die grün gestrichenen beiden Teile der Preßspantischtennisplatte auf, die in einem Kellerraum des neuen Hauses lagerten. Als erste „Bauteile“ trugen wir die zwei Holzböcke hinaus, stellten sie ins Gras oder auf die Kiesfläche an der Rückseite des Hauses, dann packten wir die Plattenteile und trugen sie in den Garten, legten sie auf die Böcke, schoben sie, die an der einen Plattenhälfte Zapfen und an der anderen Zapfenlöcher hatten, zusammen, dann wurde das grüne Tischtennisnetz über die Mitte der ganzen Platte gespannt und festgeschraubt. Es gab Tage, in denen ging ich ohne Tischtennisschläger nicht aus dem Haus. Und war schlechtes Regenwetter, bauten wir die Platte in einer der beiden Garagen unter dem Ladengeschäft auf; in der anderen stand der jeweils neue Opel von Herrn K., in dem auch ich so manchen Samstag oder Sonntag mit auf’s Land fuhr, zu einem Gehöft zwischen Biberach und Ochsenhausen, oder bei Tannheim (das war etwas weiter entfernt), wo Herr K. frische landwirtschaftliche Produkte für die kommenden Geschäftstage einkaufte und im Kofferraum verstaute. Er war ein großer, etwas nervöser Mann, der mir in den ganzen sechziger Jahren fast jeden Tag begegnete. Frau K. war eine echte Schwäbin mit Herz und Verstand, kleiner als ihr Mann; sie bekam in den sechziger Jahren noch einen zweiten Sohn. Mit den K.s verstand ich mich die ganzen Jahre über sehr gut. Manchmal sah ich dort auch fern, „Am Fuß der blauen Berge“ oder eine andere Vorabendsendung; bei K.s und Frau H. sah ich fern, denn zuhause gab’s damals noch kein Gerät. H. und ich spielten sehr oft Tischtennis und brachten es beide zu einer gewissen Meisterschaft. Ich war selbst erstaunt über meine Reaktionsfähigkeit. Stundenlang schlugen wir den leichten weißen Ball knapp über’s Netz oder auch mal ins Abseits, auf eine Plattenkante, zählten unsere Punkte. Je länger wir spielten, desto rasanter flog der Ball hin und her. Noch immer habe ich das unregelmäßige Geräusch des Ballaufschlags im Ohr. Bis in die Dämmerung hinein standen wir auf der Wiese oder auf dem Kies und schnitten den Ball an und spielten mit Vor- und Rückhand, zogen den Ball vor dem Bauch aus unerreichbar erscheinender Tiefe oder fingen ihn irgendwo über dem Kopf ab und knallten ihn wieder auf die jeweils gegenüberliegende Tischseite. Mein Interesse an diesem Spiel verlor sich, als H. plötzlich die Sportlehrer unserer Klasse zum Tischtennisspielen auf elterlichem Grund und Boden einlud; mit denen stand ich eher auf Kriegsfuß. Nach dem Abitur versandete auch unsere Jugendfreundschaft. Wir entwickelten Interessen, mit denen der jeweils andere nichts anzufangen wußte. In den Jahrzehnten danach begegneten wir uns in weiten Zeitabständen zwei oder drei Mal zufällig; obwohl wir beide in der kleinen Stadt lebten. H. ist am Wirtschaftsgymnasium in Biberach Lehrer geworden. Mitte der Siebziger griff ich noch zweimal zum Tischtennisschläger bei anderen Freunden; damit hatte es sich dann.
- Heiß; am späteren Nachmittag zog sich der Himmel zu, blaugrau die Wolkendecke, von ferne etwas Grollen.
22.8.2002

21
Aug

21.8.2002

Als ich zwölf und dreizehn Jahre alt war, hielt ich mich oft in den Gärten der Familie K. auf. (Auch in früheren und späteren Jahren.) Hinter dem kleineren Haus der K. an der Gartenstraße, in dem in der Mitte der fünfziger Jahre ihr Lebensmittelgeschäft untergebracht war, erstreckt sich ein rechteckiger Garten, unmittelbar hinter dem Haus ein kultivierter Streifen, der von einem schief stehenden alten Zaun von einer Wiese abgeteilt war, in der hohe Obstbäume ihre Schatten warfen. Neben zwei großen Schuppen seitlich hinter einem unteren – denn das Gelände steigt dort, wie überall am Lindelehang, an – Rasenstück und ungefähr in der Mitte des gesamten Gartenbereichs befand sich ein alter Hühnerstall und die Produkte der Insassen aß auch ich zuhause. Noch vor meinem zehnten Lebensjahr bauten die Eltern meines Freundes Helmut ein großes Haus im oberen Teil ihres Besitzes an der Probststraße, dem auf der östlichen Seite ein Flachbau angegliedert wurde: der neue größere „Spar“-Lebensmittelladen. H. und ich fläzten ab und zu auf dem mit Teerpappe abgedichteten Holzdach des Hühnerstalls, rauchten heimlich erste Zigaretten und plauderten über die Schule oder unsere Freunde; oder kletterten im Astwerk der neben den Schuppen stehenden Bäume herum, errichteten auch einmal ein sehr provisorisches Bretterbaumhaus unter einem der Wipfel. Unter uns stolzierten, gackerten und kackten die Hühner, wenn wir zwischen den engen Brettern hockten und wahrscheinlich eine abenteuerliche Phantasie ausheckten. Eine Hecke trennte das große Gartengrundstück vom westlichen Nachbarn, den B.s; zwischen ihrem gepflegten Garten und dem der K.s, dem ein bäuerlicher Charakter zu eigen war, bot ein unbebautes Stück Garten (eher eine Wiese) allerlei Pflanzen und Blumen eine ungestörte Ausbreitungsfläche. Auf ihr entstand Mitte der siebziger Jahre das Haus der Lehrerfamilie W., das „Schneckenhaus“, wie es seiner ungewöhnlichen Architektur zufolge bald genannt wurde; eines der ungewöhnlichsten Gebäude der Region, dessen Ana-Malerei-Innengestaltung der Kunstmaler Heilig ausgeführt hatte; eine architektonische Besonderheit, die in den Architekturbüchern erschienen ist und zuweilen Fachpublikum in die Gartenstraße lockt.
- Sommer.
21.8.2002

20
Aug

20.8.2002

In der warmen Jahreszeit der mitt- und endsechziger Jahre hatte ich auch Gartenarbeiten um das Lindelehaus herum zu erledigen. Ungern führte ich sie aus, wie man sich denken kann. Ich grub vor dem Rasenstück, das uns zur Verfügung lag und etwas weniger Grundfläche als dieses Zimmer, in dem ich sitze, hatte, und die Ortsbestimmung „vor“ meint den Teil unseres Gartenstücks, der, es handelte sich eh nur um wenige Quadratmeter, unmittelbar am unteren Zaun entlang des Bürgersteigs neben der Gartenstraße verunkrautet war; und außerdem grub ich dann im Gestrüpp der Himbeersträucher herum, die sich dort ausrankten, mit süßen Beeren an ihren dünnen Zweigen, dornigen Fingerchen gleich, die sich einem unerreichbaren Himmmel entgegenreckten. Welchem Zweck sollte dies Umgraben dienen außer dem, daß ich eines Tages, heute, über das Gefühl zu schreiben hatte, einen Spasten in den nicht dafür geeigneten Händen gehalten und mit ihm mit Fußtritten in dafür nicht vorgesehenen Schuhen die alleroberste Erdkruste geritzt zu haben? Denn die umgegrabenen Fleckchen Erde ließ ich danach, und anderes geschah nicht, eben auf der anderen, umgestülpten Seite vom Unkraut durchwuchern. Doch erkannte ich nach diesen nur sehr, sehr seltenen, womöglich auch zur zweimal stattgefundenen Grabungen eine sich andeutende Regung von Selbstzufriedenheit im Busen, die sich an der Bestätigung, notfalls auch zu solcher Arbeit ein Verhältnis zu finden, das, soviel stand jedoch fest, allerdings kein tiefes sein konnte, ergötzte; wenn der Schweiß zu sehr im Nacken juckte, hatte dieses Verhältnis schon zu lange gedauert. Ich sprengte lieber mit einem Gartenschlauch die beblümten Rabatten, die Beetezeile, die vor der Südseite des Hauses sommers nach Naßem lechzte, jätete – unbequem auch dies wegen des ständigen Bückens, das einem untrainierten Rücken nicht gut tun konnte – die Beete aus, auch die, auf denen die Tomatenstauden standen, auch Lianen sich an ihren umbra-sandfarbenen hohen Stangen emporwanden, an denen dann zur Erntezeit hingestanden wurde, um die langschotigen grünen Bohnen abzupflücken. Unmittelbar daneben stand der Baum mit den blauen Pflaumen; da nur ein Pflaumenbaum im ganzen Garten, östlich zwischen Haus und Zaun an der Grenze zum B.schen Anwesen stand, teilten sich beide Mietparteien die Ausbeute an seinen Früchten. Die ergab für uns im oberen Stockwerk immerhin so viel, daß meine Mutter in den ersten Jahren der sechziger Dekade, als sie noch „einweckte“, wie der Schwabe sagt, und ich gebrauche nun eben den schwäbischen Ausdruck, weil mir der schlesische entfallen ist, mehrere Gläser mit Pflaumen in unseren dunklen Keller stellen konnte. In fast allen Sommern drückte ich mich zwischen die Johannisbeersträuche, die von der nördlichen zur südlichen Ostseite des Gartens hinab seit Jahrzehnten wohl schon wuchsen und deren sattes Blättergrün von hellroten Beerenrispen durchsprenkelt war. Die langen Rispen rupfte ich in wachsender Ungeduld ab, je länger ich zwischen den Sträuchern, von ihren Zweigen auf naturhafte Weise sanft bedrängt, mit dem an einer dickeren Schnur vor dem Bauch hängenden Eimerchen, stand; die Beeren, die ich mit den Fingern oft schon von der Rispe abstreifte, kullerten in das Plastikeimerchen. Mehrmals in solchen Vormittagen (nachmittags wäre mir die Hitze zu lästig geworden), und das kann ja nur bedeuten, daß dies in den Sommerferien geschah, befreite ich mich aus der etwas zudringlichen Umklammerung der Sträucher und leerte das Behältnis in einen Korb oder in einen anderen größeren Eimer aus, bis die Beeren endlich abgeerntet waren, was zwei oder drei Stunden dauern konnte. In der Regel kam auch Frau H. vom Krummen Weg herüber und pflückte für ihre Einweckgläser, denn üppig hingen die Johannisbeeren in den Büschen.
- Hitze von morgens bis abends.
20.8.2002

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