17
Aug

KARGA

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16
Aug

16.8.2002

Mittags bin ich, aus der U-Bahnstation Uhlandstraße herauskommend, den Ku’damm ein Stück gegen die Fahrtrichtung der unterirdischen Linie zurück gegangen, um die Nr 217 zu finden und zu fotografieren, die Hausnummer Kurfürstendamm 217, denn gestern, als ich – zum wievielten Male in den zurückliegenden dreißig oder einunddreißig Jahren? – die Monographie von Wilfried Berghahn las, erschienen im 41. – 45. Tausend im September 1970 – erstaunlich die Höhe der Auflage! – im Rowohlt Verlag, wo sie in der Erstauflage im März 1963 herausgekommen war, deren Vorder-, Rücken- und Rückseite blaßrosa eingefärbt ist, was ich immer, wenn ich sie zur Hand nehme, zum Foto des sehr müden Musil, der in einem Korbbsessel sitzt, wie auch ich einen – aus der Lindelestraßenmansarde – unter meinem Meublement habe, eine Zigarette in der schlaffen linken Hand haltend, als sehr unpassend empfinde, beschloß ich, das in der rororo-Monographie abgebildete große Haus, in dem Musil in der Pension „Stern“ am zweiten Teil seines Romans geschrieben hatte, aufzusuchen und diese abgedruckte Fotografie mit dem jetzigen Zustand des Gebäudes zu vergleichen und Fotos von ihm anzufertigen. Ich habe das getan, habe ein paar Aufnahmen mit der „Canon“-Kamera, die Klaus L. mir, schon todkrank, in den Wochen vor dem end-gültigen Verlassen seiner Wohnung in seinem Haus in der J.-H.-Knecht-Straße schenkte, geknipst. Ich ging zuweilen an diesem Eckhaus achtlos vorbei, wenn ich in die Fasanenstraße einbog, auf dem Weg zum Literaturhaus, das sich dort befindet, um mir eine Lesung anzuhören, wie im Frühjahr 2000, als der Lyriker Kling barocke Gedichte gelesen und dazu literarkritische Kommentare gegeben hatte, oder wie im März letzten Jahres, als die Buchläden, die hauptsächlich Schwulenliteratur verkaufen und die von ihren Inhabern die „schwulen Buchläden“ genannt werden, wobei anzumerken bliebe, daß ich mich in den Prinzen Eisenherz durchaus hätte verknallen können, lebte er in meinem Zeitalter, die dritte Anthologie, in dem Stories aus dem Wettbewerb um den „schwulen Literaturpreis“ veröffentlich sind, vorstellten. (Christoph M., der Junge, der auf dem Rockfestival 1973 in der Gigelbergturnhalle vor seiner Rockgruppe ins Mikro sang, der hatte diese erotische Prinz-Eisenherz-Figur und -Frisur und hätte in meinem Leben eine Prinzenrolle spielen dürfen, wenn ich nicht – .) Oder wie kürzlich im Juli, als ich zur Lesung von W. Dürrson eilte; Herburger war krank. Zur Dürrson’schen Lesung, aus der ich erfuhr, daß D. noch in den letzten Jahren Hermann Hesses mit ihm bekannt gewesen war, ging ich freilich nicht wegen der Hesse-Jubilarien, die allerorts abgefeiert wurden (ich las nie etwas von H.), sondern nur, um mir von D. sein Lyrik-Bändchen „Pariser Spitzen“ signieren zu lassen, in dem, wir erinnern uns vielleicht noch, jener Balkon-Vorfall in gereimten Versen für eine Nachwelt, die sich eventuell nach wie vor für den Fenstersturz zu Prag (die Moldau trat über die Ufer und ergoß sich an die Häuser), nie aber für die Démelier’sche Variation vom Balkon zu Biberach zu interessieren vermag, festgehalten wird. – Als ich vor dem Haus Kurfürstendamm 217 gestanden bin, ist mir aufgefallen, daß das „Astor“-Kino wie zu Zeiten M.s existiert; ging M. von seiner Wohnung hinunter ins Kino? Kafka ging ins Kino, wie uns Hanns Zischlers Buch beweist, aber Musil? Ich habe jedoch Anfang dieser Woche das Wort „Lichtspielindustrie“ in seinem Buch gelesen. (Aber soeben habe ich die rororo-Monographie aufgeschlagen und mir ist beim Betrachten des Fotos der Nr. 217 eingefallen, daß es ja erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden sein könnte. Nun hieße es zu recherchieren.) Das Wort „Lichtspielindustrie“ kommt aber nur in einer Aufzählung von Alltagserscheinungen vor, und auch, sofern ich bei fortgesetzter Lektüre nicht noch einmal darauf stoße, nur einmal. Die Kinematographie war für M., daraus zu schließen, offenkundig kein lohnenswertes Thema. Vermutlich also kannte er das „Astor“-Kino im Haus... nicht; es war dort noch nicht eingerichtet. Was nicht unterstellen soll, er hätte dem Kino mehr abgewinnen können, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, im Gebäude, in dem er wohnte, ins Kino gehen zu können. Auch besaß er dafür, eingedenk seiner finanziellen Verhältnisse, wohl kaum das Geld. Da hatte ich es besser: ich durfte fast zwanzig Jahre lang umsonst Filme gucken; mit der Einschränkung: wenn Zeit dafür war.
- Sommerstimmung.
16.8.2002

14
Aug

14.8.2002

Im August 1976 war im „Schwanenkeller“ mein ausgeflipptes Verhalten an jenem Abend, als ich das Whiskyglas auf dem Tisch zerdrückt hatte, schon lange vergessen; auch von mir. Nicht jeden Abend saß ich dort, wie ich ja nie jeden Abend dort gesessen hatte, nur an manchen der warmen Nächte schlug ich die Richtung Bismarckring ein, aus dem Haus in der Karpfengasse hinaustretend, am „Rebstock“ und „Strauß“ – in beide Lokale wurde ein überprüfender Blick geworfen – , vorbeikommend, die Wielandstraße hinaufgehend, die ich im Jahrzehnt davor jeden Tag entlang gegangen war, weil sie u. a. ein Teil meines Schulwegs gewesen war. Es kann schon so gewesen sein, daß mir während dieses Gangs zum „Schwanenkeller“ einmal in den Sinn kam, daß meine Routen durch die kleine Stadt immer dieselben seien, als bewegte ich mich auf unsichtbaren Schienen, die sich nie aus der Stadt hinauslegten; und auch der Gedanke, daß ich sogestalt nicht weit gekommen sei, in all den Jahren, dürfte sich gezeigt haben. Schwand aber, denn an ein sogenanntes Weiterkommen hatte ich noch nie viele Gedanken angesetzt, Zukunft würde, sofern man nicht an Leberzirrhose oder an einer anderen Krankheit (ich war um meinen Leib unaufhörlich besorgt) stürbe, von allein kommen, und irgendwie käme man dann in ihr auch zurecht. So war es denn auch. Ehrgeizig war ich nie. War mir viel zu streberisch und kleinbürgerlich. Ich sah zu, von den Krakenarmen der Verwertungsmaschinerie nicht erfaßt zu werden. In einer der „Schwanenkeller“-Nächte sagte Botz zu mir: „Nachher hören wir uns Mahler an.“ Er war ein versierter Klassik-Freak, und Gustav Mahler einer seiner Lieblingskomponisten, wie ich, nicht 1976, sondern früher, an ihm festgestellt hatte. Seit Mahlers Adagietto in Viscontis Film „Tod in Venedig“ war auch ich für diese Musik zu haben, kaufte aber nie eine Platte; überhaupt kaufte ich in den Siebzigern keine Schallplatten mehr. Manchmal hörte ich Schallplattenmusik, wenn ich bei anderen saß. Ich zeigte mich Botz gegenüber einverstanden. Die Mitternacht war weit überschritten, als die letzten Gäste, die nicht Mahler hören wollten, gingen. Außer B. und mir blieben nur zwei oder drei Leute im Lokal, darunter eine Tussi, die mir unbekannt und die nicht hübsch war, die ihre Augen aber an mir festsaugte, wie ich, unangenehm berührt, festzustellen mehr als eine Gelegenheit hatte. Ich ignorierte sie während des Rests der Nacht, in der, hinter geschlossenen Fensterläden (sie waren immer geschlossen), die zweite, die dritte, die fünfte Symphonie machtvoll durch den Raum und unsere Köpfe zogen; ich trank Johnny Walker Black Label dazu, bis der Morgen nicht graute, vielmehr sommerlich-freundlich-schön vor einem dann doch, als diese Musik verlosch, geöffneten Fenster still auf die ersten menschlichen Laute wartete; in den die letzten Klänge hinausspielten. Botz verlangte nichts für den Whisky; zu einem Viertel war die kantige Flasche bestimmt von mir geleert worden. Beschwingt, keinesfalls betrunken, schritt ich zur Karpfengasse und legte mich hin. (Irgendwann während einer der Symphonien war die Tussi wütend aus dem Raum verschwunden.) Diese Mahler-Nacht fand vor allem wegen des Kontrastes zur Örtlichkeit in mein Gedächtnisarchiv Einlaß: hochbürgerliche melancholische Weltsicht, musikalisch verdichtet, in einer Freakkneipe in der Provinz. – .
- Vormittags „bedeckt“, nachmittags zog die Wolkendecke langsam nach Osten und gab das Sonnenlicht frei.
14.8.2002

13
Aug

13.8.2002

Eher gegen Ende des Augustmonats 1986 gab der Philosoph J. Kraft bei sich zuhause in Rißhöfen, einem Flecken nahe Warthausen, unterhalb des Schlosses W. sozusagen, das insbesondere durch Christoph Martin Wieland eine nicht nur regional begrenzte durchschnittliche Bekanntheit – Berühmtheit wäre schon zuviel gesagt – bekommen hatte, eine Party. Ich hatte Kraft, der sich lange und ausführlich mit dem Tod und seiner möglichen Überwindung, wie sie Ernst Bloch in seiner Hoffnungsphilosophie in versteckten Stellen für eines fernen Tages nicht ganz unmöglich antizipiert, beschäftigte, viele Seiten darüber schrieb, die ich aber nicht kenne, ein Jahr früher zum ersten Mal gesehen; ein Mann meiner Generation, obwohl zwei oder drei Jahre jünger, in ungefähr meiner Körpergröße, mit einem hageren Gesicht, in dem die Nase dominiert, und auch sehr langem gelockten dunklem Haar, der sich den Verwertungsinteressen der kapitalistischen Gesellschaft auf seine Weise, die mit meiner kommunizieren konnte, so gut wie möglich entzog, bescheiden lebte, malte; als wir in seinem großen Zimmer oben im Bauernhaus auf Stühlen, alten Sesseln, einem Sofa saßen, stand ich zu Beginn der Party, die diesem Begriff so sehr nicht entsprach, vielmehr keine ausgelassene Spaßoberflächlichkeit war, sondern eine Gesprächs- und Disputierrunde darstellte, auf und betrachtete eines der Ölbilder, das noch auf der Staffelei lehnte, eine Landschaft in düsteren Farben, die ins Phantasmagorische hineinlugte. Till, der am späteren Nachmittag zu mir gekommen war – er hielt sich, ohne daß ich davon gewußt hätte, für ein paar Tage in der Stadt auf (er war schon fortgezogen) –, hatte zunächst nicht mitfahren wollen, er kenne dort doch niemanden, stieg dann aber in das Auto, das mich vor dem Hochhaus abholte, ein, und saß nun dabei, hörte den Gesprächen, Unterhaltungen, aufmerksam zu, wie mir schien. Klaus L. war anwesend; der Pianist Heinzel, der drei Jahre danach im Herbst 1989 zusammen mit dem Cellisten B. von der Jugendmusikschule für die Lesung, die Mario K. und ich veranstalteten, Stücke von Schostakowitsch beitrug; der „schöne Ralph“, ein gut aussehender, ein wenig weich wirkender junger Mann mit langen Locken (noch keine zwanzig), die sein cherubimhaftes Erscheinungsbild bekräftigten, der einen zarten Eindruck auf mich machte und mir überaus sympathisch war; Frauen mit Intellekt, doch mehr Männer, die mir in ihrer Mehrzahl aber, mit zwei Ausnahmen, nun nicht mehr erinnerungsbildlich zur Verfügung stehen. Die eine Ausnahme war der Dichter Dürrson, von dem wir zu Anfang dieser Lesestücke etwas gesagt bekamen; ich war überrascht, als ich von Kraft erfuhr, wer dieser Herr sei, denn ich hatte Texte von ihm in den siebziger Jahren in der linken Literaturzeitschrift „kürbiskern“ gelesen und entsann mich dessen im Augenblick der gegenseitigen Vorstellung. Er lebte auch in den Achtzigern auf Schloß Neufra bei Riedlingen an der Donau, von Biberach an die zwanzig Kilometer entfernt, im westlichsten Winkel des Landkreises; ob er auch sein Apartment in Paris in jenen Jahren schon hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Über eine weibliche Bekanntschaft des Gastgebers des besagten Abends, die ebenso auf Schloß N. gewohnt habe, sei D. eingeladen worden. Die zweite Ausnahme war Christoph H., damals wohl bei der Bundeswehr (was ich auch in seinem Fall eigentümlich fand) irgendwo stationiert und auf Heimaturlaub oder so ähnlich, auch ein hübscher junger Mann mit vollem Gesicht, kleiner als ich, mit dem ich mich 1984, als er noch Gymnasiast gewesen war, befreundet hatte, und der nun während des Abends, neben mir sitzend – nein, das spielte sich doch an einem anderen Abend, zu dem Dürrson auch anwesend war, ab – aus Stanniolpapier der Zigarettenschachteln kleine phantastische Gebilde formte, die sich in seinen Fingern wie von selbst herzustellen schienen. Der Dichter war von der Leichtigkeit der Herstellungsmethode wie von ihren Ergebnissen beeindruckt und sagte etwas dazu, das mir entfiel. Zwischen D. und mir entspann sich – nun sind wir wieder im ersten Abend bei Kraft – eine Diskussion zu Gott weiß was; ich redete nahezu unaufhörlich, die Worte entströmten mir, kaum daß sie sich mir gebildet hatten, in einer sturzbachähnlichen Suada, was ich gerne wahrnahm, und ich versuchte, die Schnelligkeit der Gedanken- und Wörterproduktion noch zu beschleunigen. Der Whisky, den ich großzügig zu mir nahm, wirkte psychedelisch auf mich; das gibt es, diese Wirkung des schottischen Getränks ist bekannt. Ich quasselte und rasselte; die Neuronen waren freigeschaltet. Till saß dabei und sprach kaum ein Wort. Seine Anwesenheit, selten genug, befeuerte mich zusätzlich. „Du warst wie auf Trip“, sagte Klaus L. am Tag danach. Gegen dreiundzwanzig Uhr löste sich die Gesellschaft auf. Wir fuhren nach Biberach hinein, zuvor zog ich an der alten Warthauser Brauerei an einem Automaten noch eine Schachtel „Kurmark“. Till setzte sich ab; ich spürte das ziehende Gefühl der Enttäuschung im Bauch. Zuhause im fünften Stock trank ich Wein und rauchte, als das Klingelgeräusch an mich drang. Ich hob den Hörer des Haustelefons ab. „Ich bin’s“, sagte Till unten. Der Impuls der Taste, die ich drückte, öffnete die Haustür. – Er ging wie üblich sehr früh am Morgen.
- Trüb, regnerisch, aber der Regen fiel nicht in den Mengen wie in östlichen Teilen der Republik, wo er Sintfluten herbeiführte; ein grauer Tag.
13.8.2002

12
Aug

12.8.2002

1966 verbrachte ich einige Zeit meiner Sommerferien in Göttingen. Warum? Hatte ich keine Lust dazu gehabt, mit meiner Mutter in die „Ostzone“ zu fahren? (Und waren wir wirklich seit 1963 nicht mehr dort gewesen? Erst 1968 wieder? Das erscheint mir fast unglaubwürdig, doch konnte auch Tante R. sich kürzlich nicht an ein anderes Jahr erinnern.) Wir nahmen den D-Zug, stiegen in Göttingen aus, gelangten vermutlich in einem Taxi zur Iheringstraße, wo meine Verwandtschaft väterlicherseits seit Jahrzehnten wohnte: mein Patenonkel und seine Frau („Tante Herta“), von denen meine Mutter in den unglücklichen fünfziger Jahren Zuspruch und moralische Unterstützung, auch wenn dies nicht im Übermaß geschah, erfahren hatte. Mein Erzeuger war in meinen beiden ersten Jahren der Ansicht gewesen, die Ehe verliefe besser, wenn ich eine Zeitlang in Göttingen, bei seinem Bruder und dessen Frau, bliebe. Was dort strikt abgelehnt worden war; das Kind gehöre zur Mutter, war man der Ansicht gewesen. Diese Formulierung fand ich vor einigen Monaten in den Papieren des Scheidungsverfahrens, das mein Erzeuger angestrengt hatte und das zu seinen Ungunsten ausgegangen war, die meine Mutter sorgfältig aufbewahrt hatte und die ich die Jahre nach ihrem Tod nie genau las. Ich hätte also dem Willen F.D.s zufolge wesentlich prägende Kinderjahre in der niedersächsischen Universitätsstadt verbringen sollen; was ich noch nach Jahrzehnten als Unverschämtheit betrachte. Schon früher hatte ich den nicht ganz unbegründeten Gedanken, daß ich meinem Vater nie viel bedeutete, seit meiner Geburt nicht; ich war ihm damals wohl nicht sehr willkommen gewesen, doch habe auch er, wie meine Mutter mir in den sechziger Jahren gesagt hatte, den Kinderwagen stolz über den Marktplatz geschoben. Mir war er ja ebenfalls zeit meines Lebens recht nebensächlich. Unsere Beziehung, denn wir sahen uns ja, wenn ich in den sechziger Jahren das monatliche Unterhaltsgeld in einem Raum der Firma „Kaltenbach & Voigt“ abholte, und auch danach, seltener, bis Monate vor seinem überraschenden Tod, im „Café Lieb“, beruhte auf einer distanzierten, jedoch nicht unfreundlichen Halbgleichgültigkeit, die wir beide nie verändern wollten. Er redete mir nie in meine Angelegenheiten hinein, verlor 1976 auch kein Wort über meinen Studienabbruch. Das konnte mir nur lieb sein. Ich hätte eine Einmischung auch nicht geduldet.
Obwohl ich bei Verwandtschaft weilte, war mein Benehmen gegenüber den Göttingern von einer nicht unbedingt herzlichen Sachlichkeit und latenter Vorsicht geprägt. Ich war nicht allzu schüchtern und bewegte mich frei. Ich hatte dort ein Zimmer für mich. Die Verwandtschaft spürte sicherlich die kühle Zurückhaltung, die ich pflog, sagte aber nichts, was mir hätte unangenehm sein können. Sie wußten gut, daß ich auf der Seite meiner Mutter stand und nichts diesen Standpunkt hätte beeinflussen können. Oft saß ich in einem Gartenstuhl im Schatten auf einer Veranda oder einer kleinen Terrasse und las Western- und Science Fiction-Heftchen, „Wyatt Earp“ und „Perry Rhodan“, und eines Mittags ging ich durch die Stadt und wollte Pokerspielkarten kaufen; Doc Hollidays Erwerbstätigkeit begann mich zu interessieren. Ich fand aber keinen Laden und es war auch sehr heiß und ich wußte, daß dieses Begehren ein wenig versponnen war und kehrte um in die Straße, die nach dem neben Kerr bedeutendsten Theaterkritiker der Weimarer Republik benannt worden war. Ich kannte diesen zeitgeschichtlichen literarisch-dramatischen Hintergrund, weil meine Mutter mir davon gesagt hatte. Leider bin ich kein Dramatiker oder Theaterkritiker geworden, sonst hätte ich nun eine mystisch-mythische Verbindung konstruieren wollen. Wenn ich, sagen wir: zwei, drei Jahre einer frühen Kinderzeit in dieser Straße gelebt hätte: hätte ich später ein Stück geschrieben? Ich versuchte es ja, es funktionierte aber nie. Ich las in den siebziger und achtziger Jahren Stücke, brachte aber nie ein eigenes zustande. Nur einen, meinen, Film schrieb ich; aber das gilt wohl nicht, und ist auch eine andere Art von Dramatik. Ich war in der Pubertät, mir brach die Stimme; in diesen Wochen in Göttingen. Ein Cousin, etliches älter als ich, kutschierte mich in einem Käfer-VW ein bißchen durch die Umgebung, hinauf auf die Hügel, die östlich vor der Stadt aufragen, hinüber nach Nörten-Hardenberg, wo auch – weitläufige – Verwandtschaft wohnte, von diesem Sonntagnachmittag gibt es zwei Fotos. Ich sehnte mich trotz dieser Abwechslungen nach Biberach zurück, wo ich hätte tun und lassen können, was mir gefiel. Ich spazierte an universitären Gebäuden entlang und verspürte keinen Drang, eines fernen Tages durch die Hallen dieser altehrwürdig-berühmten Alma Mater zu wandeln, gelehrte Bücher unterm Arm und Gedanken im Kopf, die wahrscheinlich etwas mit Büchern zu tun haben würden, wie ich mir undeutlich vorstellte. Das war Zukunft, damals, und ging mich noch nichts an.
In einer der Göttinger Nächte masturbierte ich zum ersten Mal. Ich war vierzehn, pubertär im nicht allerersten Stadium, doch unerfahren, und sexuelle Gelüste waren mir unbekannt. In jener Sommernacht gaukelten, von irgendwoher, Gesprächsfetzen der Mitschüler, von denen ein paar offensichtlich in diesen Angelegenheiten viel bewanderter waren als ich (und vermutlich auch andere Schüler der Mittelschulklasse), Fotos in Illustrierten, die herum lagen, Filmbilder, belebt und angeregt, schemenhaft erahnte Situationen, die sich verdeutlichten, vor die sich zur Nachtruhe niederlegenden Tageseindrücke und -gedanken legten, und Szenen aus Umkleidekabinen, die plötzlich sehr realistisch vor mir erschienen, und ein wenig hatte man ja, spielerisch-neugierig, dieses längliche Organ schon begutachtet, das so wichtig, wie überall durchsickerte, sein solle, später; so begann ich es, die Gespenstervisionen gleichsam im Blick behaltend, es zu reiben, heftiger, und eine Flüssigkeit drang unvermittelt, in einem als besonders intensiv erfahrenen Moment, hervor. Ich erschrak, damit hatte ich nicht gerechnet, davon wußte ich nichts. So unaufgeklärt war ich, christliche Moral hatte verhindert, daß ich von gewissen Körperfunktionen keine Ahnung hatte. Ich machte mir wirklich Sorgen über das, was hier geschehen war. Was war das für eine klebrige Flüssigkeit? Ich wurde mit einem Mal fast sehr religiös und erbat Beistand, um nicht krank zu werden. Noch am nächsten Tag machte ich mir Vorwürfe, doch nichts Unregelmäßiges, Unheilbringendes bahnte sich an, ich fühlte mich gut und gesund, und die nächtliche Begebenheit verdrängte ich in den Tagen, die ich noch in Göttingen verbrachte. Meine Mutter hatte ihre Besuchstour quer durch die DDR wieder einmal beendet, kam in der Universitätsstadt an; sie staunte über meine Stimmveränderung, auch sei ich doch größer geworden!? Mir war eine Verlängerung meines Körpers nicht aufgefallen, und es war auch nur höchstens ein Zentimeter, groß für mein Alter war ich ja sowieso. Ich war froh, Göttingen verlassen zu können. Am nächsten Tag Abreise. Wieder wurden wir in der Lindelestraße von Frau H. begrüßt, die Kuchen auf den Tisch gestellt hatte. Ich war zuhause und hatte, wie mir inzwischen klar geworden war, mein erstes wirkliches Sex-Erlebnis, wenn auch nur mit mir und meiner Vorstellungswelt, hinter mir. Das brachte mir jedoch auf den Gedanken, diesbezüglich nun aktiver zu werden und ich hatte nicht die Lust, die andere in diesem Alter auf Mädchen verspürten; und das beeinträchtigte meine Tage überhaupt nicht. Ich beobachtete nun freilich, wie andere Jungen sich allmählich verhielten; mit einigem Unverständnis. Mir kam das lächerlich vor.
Wenn der ICE in Göttingen hält, denke ich an diesen für mir damals bedrohlich-mysteriösen Vorfall, bis ich mich wieder meinen Zeitungen widme. – Lauter Todestage übrigens im August: heute vor siebenundvierzig Jahren starb Thomas Mann, ein Jahr später, übermorgen ist der Todestag, sein ehrlicher Feind B.B.; von beiden hab‘ ich gelernt, von dem, was sie geschrieben haben, genossen.
- Regenwetter. Das niederfallende Wasser zischelt mal lauter, mal leiser, hört auch manchmal mit dem Fallen auf, obwohl es das nicht beeinflussen kann, beginnt dann wieder damit. Kühl.
12.8.2002

10
Aug

10.8.2002

War es in der vorlesungsfreien Zeit des März und April 1975, als ich die Aufmerksamkeit der „Schwanenkeller“-Leute in noch stärkerem Maß auf mich zog? Die Bäume standen ohne Laub oder trugen nur wenig davon, und ich trug meine schwarze halblange Winterjacke, geschnitten in einem Stil, der Anfang der Siebziger modisch gewesen war und den man 1975 noch immer gelten lassen konnte, und Handschuhe. Die Handschuhe waren im Zusammenhang mit dem, wodurch ich die angespannte Aufmerksamkeit der gewiß nicht sehr peniblen Gäste des hier ausführlicher, als ich beabsichtigt habe, gezeichneten Lokals hervorrief von Bedeutung; ich werde, um das einzuflechten, noch ausführlicher über den „Strauß“ schreiben müssen, denn in ihm brachte ich schließlich viele und mehr Abende und halbe Nächte hinter mich, mehr als im „Schwanenkeller“, der mit den Jahren einen Ansehensverlust erleiden mußte, oder vielleicht auch umgekehrt in der unbürgerlichen Betrachtungsweise derer, die ihn frequentierten, noch an freakischem Mehrwert gewann, indem sich für ihn auch der Name „Schweinekeller“ – nun ja, nicht gerade einbürgerte, doch anbot und mit einem Quentchen Belustigung ausgesprochen wurde. Ich saß also eines Abends mit Elian F.-U. in dieser gut besuchten Kneipe und hatte einen doppelten Johnny Walker Black Label vor mir stehen, ohne Eis, und war schon nicht der besten Laune gewesen, als wir das Lokal betreten hatten. Man hat Verstimmungen, wenn bestimmte Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Ich brütete ein wenig vor mich hin, meine Freundin, mit der mich eine Freundschaft platonisch-intellektueller Herkunft verband, hatte nicht das Bedürfnis, Schweigeminuten neben mir abzuhalten und ging zur Theke, an der sie verweilte, in ein angeregtes Gespräch mit einem Bekannten zunehmend verwickelt, was mir mißfiel, je länger das dauerte. Ich spürte, wie das Gefühl, vernachlässigt zu werden, in mir zunahm; keineswegs war es Eifersucht, dafür gab es ja keinen Grund, sondern Verärgerung, ohne mir vertraute Gesellschaft am Tisch sitzen zu sollen, und ich schrie, etwas Zorn mag darin zu hören gewesen sein, den Vornamen meiner Begleiterin zur Theke hinüber. Sie wandte nur den Kopf, lächelte unbestimmt und widmete sich, unbeeindruckt von meiner Verfassung, dem Bekannten. Ich trank den Whisky, zog die Lederhandschuhe über, nahm das dicke gedrungene Whiskyglas und zerdrückte es mit einem kräftigen Schlag der behandschuhten Linken auf dem Holztisch. Dies verursachte ein schmetterndes Geräusch, Splitter flogen in alle Richtungen. „Schlagartig“ verstummte der wirre, eintönige Sound des Hin- und Herredens. Elian sah erstaunt herüber, lachte dann amüsiert. Sie war ja einiges gewohnt. Ich sah die Blicke, die zu mir heranschlichen. Verblüffte Angst. Es war still. Dann sagte Kai G., der mit seiner Freundin und seinen Brüdern an eben diesem Tisch auch saß, ich solle die Glassplitter vom Fußboden aufsammeln, seine beiden Hunde, die unter dem Tisch lagerten, verletzten sich sonst die Pfoten. Ich wurde laut. Botz fing an der Theke zu jammern an. Gäste standen auf und gingen vorsichtig zur Tür. Kai – er war mir immer sympathisch, nur sagte ich ihm das natürlich nie – und seine Entourage erhoben sich, die Hunde unter mir ebenfalls, ohne sich zu verletzen, nehme ich nun an, denn Kai sprach mich danach nie auf diesen eruptiven Vorfall an, gingen hinaus. „Ich dachte immer, du bist ein vernünftiger Typ!“, rief Botz in Erregung und mehrmals. Meine aggressive Aura wirkte auf das Verbleiben seiner Gäste verheerend, nach fünf Minuten war der Gastraum leer. Botz war ziemlich fassungslos. Elian war nach wie vor amüsiert: so etwas hatte sie mir ja gar nicht zugetraut. Höflich entschuldigte ich mich bei Botz, der sich langsam beruhigte, nur den umwallten Kopf schüttelte. Dann betraten Typen, die ich niemals gesehen hatte, den Raum, in einer Haltung, die mir sagte, daß sie gerne ihre Kräfte an den meinen messen würden. Was wollten die Penner? Sich als Rächer der Lokalrunde aufspielen? Elian beschützen? Irgend etwas dieser Art kam zu mir herüber. Schmierig-verdruckst, sich nicht ganz sicher, traten sie an der Tür auf der Stelle, ihre Augen warfen bösartig-tückische Blicke. Ich sagte Botz, er möge mir bitte zwei Bierflaschen, volle, reichen; sofort handelte er. Mit diesen Flaschen in beiden behandschuhten Händen wartete ich darauf, was die zwei Jungs zu tun gedachten. Sie sprachen Elian an, sie boten ihr ihren Schutz an; sie lächelte nur und sagte, es sei alles in Ordnung. Unschlüssig murmelten sie Drohungen zu mir herüber, „unten“ spreche man sich dann. Was denn? Ich riet ihnen zu verschwinden. Botz beobachtete, wie ich mit einem Seitenblick sah, nervös die Szene. Beschwichtigend redete er den Typen zu, es sei nun alles wieder okay. Sie gingen hinaus. Ich bezahlte meinen Whisky und die Bierflaschen, versicherte dem armen B., die Angelegenheit sei mir wirklich unangenehm, es sei so über mich gekommen, erbat seine Nachsicht. „So was hab ich ja noch nicht erlebt“, sagte er, er konnte sich das alles nicht erklären. Ich eigentlich auch nicht. Elian drängte zum Gehen, sie fahre mich, der Abend gebe ja nun nichts mehr her, nachhause; es war auch schon später. Ich fragte mich, ob die beiden auf Schlägerei erpichten Typen draußen herum lungerten. Wir stiegen die Treppe hinunter, Botz schloß hinter uns ab. Wir bemerkten die Typen, wie sie in einiger Entfernung in der Dunkelheit standen, herüber linsten durch die von den Laternen am Abhang schwach beleuchtete Nacht. Ich hielt die Bierflaschen hoch. Es gelüstete sie wohl, mich nieder zu machen, doch waren sie zu feige. Sie wußten, daß ich die Absicht hatte, bei einem Angriff diese Bierflaschen an ihren dummen Köpfen zu zerschmettern. Unbehelligt erreichten wir Elians VW-Variant, fuhren zur Lindelestraße. Etwas spöttisch, aber in gewissem Sinn verständnisvoll verabschiedete E. sich von mir; „bis morgen“. – Ich hatte manchmal solche Momente der rücksichtslos-gleichgültigen Bereitschaft zur Gewalttätigkeit.
- Sommerlich schön und warm.
10.8.2002

9
Aug

9.8.2002

Der 9. August 1975 fiel auf einen Samstag. Der Sommer war groß und heiß. In Laichingen hielt der Science Fiction Club Deutschland e.V. seinen jährlichen Con ab. Dieses Nicht-Ereignis beachtete ich nicht, doch wollten einige Redakteure und Mitarbeiter der SFT dort auftreten, um darüber abstimmen zu lassen, ob diese kritische Zeitschrift als „Clubleistung“ jedem Mitglied zugestellt werden sollte, auch, um diesem erz-konservativ-lächerlichen Club, für dessen Mitgliedermehrheit Politik nichts mit Science Fiction zu tun haben sollte (weshalb ich seit Jahren schon mit ihm nichts mehr zu tun hatte), argumentativ doch noch, ein letzter Versuch schien gerechtfertigt zu sein, auf die Beine zu helfen. Ich fragte bei Hahn & Co. an, ob sie, wenn sie sich im schwäbischen Dorf bei Ulm aufhielten, nicht Lust auf einen samstäglichen Abstecher nach Biberach hätten. Ich gab eine Telefonnummer an, unter der ich zu erreichen war. Das war die der unteren Mieter in der Lindelestraße 2. Ernsthaft rechnete ich nicht damit, daß jemand käme, aber ich dachte, es könne für mich eine erfreuliche Abwechslung sein, wenn sie mit mir im „Schwanenkeller“ einige Bierchen zu sich nähmen. Niemand rief an. Zweimal wechselte ich vom Biertisch vor dem „Schwanenkeller“, an dem ich schon nachmittags zusammen mit anderen mit krummem Rücken hockte, hinauf zur Lindelestraße, wo ich bei den Mieter im Hochparterre, Familie S., einer lauten Familie, wie meine Mutter immer häufiger und zu Recht konstant beklagte, frug, ob jemand für mich angerufen habe; nein, hieß es zweimal. Nach dem zweiten Gang – ich war doch ein wenig enttäuscht – gab ich es auf., Besuch zu erwarten, und blieb vor Ort in der Kneipe, an einem der Tisch vor der Arkade, trank Wein. Ich war schon reichlich abgefüllt, im Schädel drückte etwas auf die Hirnmasse, der Blick war noch klar, aber tendierte zur Vorstufe des Umflortseins. In die Unterhaltung geriet langsam aber sicher etwas Störendes, die Zunge wurde ein Spur unbeweglicher. H., der aus der Spielhalle, saß in seiner Clique an einem anderen Tisch, trank seine Radlerhalbe und beachtete mich nicht, hatte mich vielleicht nicht einmal bemerkt. Nur Elian, der ich einige Zeit zuvor gegenüber eine Bemerkung fallengelassen hatte, daß dieser Typ, und auch sie kannte seinen Vater, mir gefiele, hatte zu mir, als H. auf seinem Mofa den steilen Weg heraufgeknattert war, gesagt: „Guck mal, wer da kommt.“ Ich hatte etwas wie „Na ja, und?“ gemurmelt, weil ich wußte, daß mir natürlich nichts anderes übrigbleiben würde, als mich sehr zurückzuhalten. Er fuhr dann auch bald wieder hinunter. Ich bestellte noch ein Glas Rotwein. Dann kam ein Junge, der mir einmal, Wochen zuvor auf dem Gigelberg während des Schützenfestes, aufgefallen war, vor das Lokal, zwischen die Tische, setzte sich an den Nebentisch. Ein Rauschgoldengel, langes, dunkelblondes Haar, hübsch, das Gesicht etwas spitzbübisch und intelligent, etwas kleiner als ich. Ich schätzte ihn auf sechzehn Jahre. Ich wurde ganz nervös. Deshalb mußte ich noch ein Glas Wein ordern. Freunde und Bekannte saßen um mich herum, doch ihre Gesichter sind bis auf die von Herbert K. und Elian aus dem Gedächtnis geflohen. Es dauerte eine Weile, dann stand der Junge plötzlich auf und setzte sich mir nichts dir nichts zu uns an den Tisch. Niemand kannte ihn. War er von unserem Gespräch angelockt worden? Er mischte sich ein, wir ließen ihn amüsiert-neugierig gewähren. Er gefiel mir immer besser. „Ich glaub, KD, der Kleine sucht Anschluß“, sagte Herbert in seinem Wiener Idiom zu mir. Den Eindruck hatte ich auch. Der Abend dunkelte allmählich. Irgendwann, als es richtig dunkel war und die Tische vor dem Lokal von den Glühbirnen unter den Arkaden und an den etwas durchhängenden Leitungen entlang des Vorplatzes beschummert wurden, stand ich urplötzlich auf, umrundete den Tisch und begann, im Haar des Jungen herumzuwühlen, es zu streicheln. Er ließ es sich widerstandslos gefallen. Das wunderte mich in meinem Alkoholrausch ein bißchen, aber nicht mehr. Außerdem war mir alles scheiß-egal. Ich mußte jetzt diesen Knaben anmachen. Das ging so eine Weile, niemand nahm Anstoß daran, das Gemurmel um mich herum hatte den gleichmäßigen Ton behalten; ich war blau; ich ging wieder um den Tisch herum, reihte mich auf der Bank ein. Wer war dieser junge Typ, der sich sehr ungerührt zeigte? Hatte er schon Erfahrungen mit Schwulen? (Viel später danach hörte ich von ihm: er hatte gehabt, aber nicht auf sexuelle Weise. Und an einem Abend zu jenem Zeitpunkt des „viel später“ sagte er mir: „Ich dachte, was ist jetzt los. Ist der Typ schwul oder was?“) Ich war scharf, Moral und die Befürchtung, etwas Unüberlegtes noch zu tun, stellten mich ruhig; und der Alkohol, der mich nun lähmte statt voran zu treiben. Der Junge unterhielt sich weiterhin angeregt in der Runde und entschwand mir ihr, als sie sich vor Mitternacht auflöste. Ich schwankte durch die Nacht zu meinem Bett. Am folgenden Vormittag erinnerte ich mich an mein Verhalten. Ich fand sehr mutig, was ich getan hatte. Wer war dieser Rauschgoldengel? Nicht sehr lange dauerte es, bis ich seinen Namen erfuhr, er war mir bekannt, sehr bekannt, ich war erstaunt, doch begegneten er und ich uns in den folgenden Wochen nie. Mein drittes Semester in Stuttgart begann. Ich dachte an diesen Typ. Der Herbst warf seine goldenen Blätter um sich, als ich Studium und Stuttgart verließ. Im Biberacher Winter erst sah ich den hübschen aufgeweckten Jungen wieder, wahrscheinlich im „Strauß“, aber er saß vermutlich an einem weiter entfernten Tisch und bemerkte mich nicht oder wollte mich nicht sehen. Jedenfalls hatten wir in jenen Monaten nichts miteinander zu tun. Noch nicht.
- Ruhiger Sommertag. Warm, abends zog sich der Himmel eine Wolkendecke über.
9.8.2002

8
Aug

8.8.2002

Irgendwann im Sommer `75 stellte der Stuttgarter Künstler Frank Below in der Schrannen-Galerie seine „Homoerotischen Bekenntnisse eines Empfindsamen“ aus. Einige meiner durchweg heterosexuellen Freunde und ich besuchten selbstverständlich die Vernissage und wir scheuten uns, wie zu anderen Ausstellungseröffnungen, nicht, unverzüglich zu den Brezeln zu greifen, die wir auf dem Viereck-Rundgang die Galeriewände entlang, Trollinger schlürfend, verzehrten. Die Ölbilder waren für das oberschwäbische Städtchen ein Novum insofern, als sie zum ersten Mal künstlerisch auf homosexuell empfindende und schwulen Sex praktizierende Mitmenschen hinwiesen; sie zeigten, in verschiedenen Figurationen, nacktes männliches Fleisch; der Zeitungsredakteur D., der die ihm relevant dünkenden Kunstereignisse in der Stadt rezensierte, äußerte sich in seinem Artikel zum Ende der Ausstellungszeit hin in verhalten amüsiertem Ton besonders auch über „die hinten applizierte Gurke“. Freilich erhob sich ob dieses Sujets in kunstkennerisch sich nennenden Kreisen der Großen Kreisstadt ein, allerdings nicht allzu heftiger, „bruddelnder“ Rumor, der OB H. wußte sich, als oberster Dienstherr der Ausstellungsmacher, zu erklären. „Euer Oberbürgermeister“, sagte Below – lange blonde Haare, Anzug, Anfang Dreißig – am späteren Abend nach der Vernissage im „Schwanenkeller“, wohin wir ihn entführt hatten, „sieht ja gar nicht einmal so übel aus.“ Keine Ahnung mehr habe ich davon, wie dieser Stuttgarter zu der Gelegenheit gekommen war, in der Städtischen Galerie ausstellen zu können. Dieter „Jonny“ Arnold hatte daran seinen Verdienst, nicht aus eigenerotischen Überlegungen, sondern aus kunstideologischen. Wir scherzten, aber nicht lange, denn so viel ging uns der OB nicht an, über dies Eingeständnis einer sehr vagen Affinität. „Bist du beschnitten?“, wollte Below bald darauf von Bernd H. wissen, der – sehr lange schwarze Haare, langer schwarzer Bart, schwarze Kleidung, etwas gebogene Nase – vielleicht etwas rabbihaft auf den, der ihn nicht kannte, wirkte. Ich mußte grinsen. Bernd entgegnete kühl etwas wie: „Sehe ich so aus, als müßte es so sein? Aber ich gebe eine klare Antwort: nein!“ Sicherlich reimte sich das in seiner Replik nicht so wie hier, aber ihren Inhalt wortgetreu jetzt zu überliefern gelingt mir natürlich nicht. Ich ließ das Ausstellungsplakat vom Künstler signieren, glaube ich doch. (Habe es seit langem nicht mehr beachtet.)
1976 hing ich es an eine Wand meines Karpfengassenzimmers, stellte die schwarze geschnitzte Jugendstilsäule davor und eine Grünpflanze auf diese; das ergab ein Arrangement, das einen gewissen selbstironischen Gestus verbreiten sollte, doch nur ich dürfte das kapiert haben. War wohl zu subtil. Als meine Mutter einmal eines Augustabends mir gegenüber saß (um sich zu informieren, wie ich mich in dieser Wohngemeinschaft eingerichtet hatte) – ein Streifen Sonnenlicht senkte sich durch das Westfenster, vor dem ein anderes Haus stand, in einem trickreichen Winkel über das Nebendach oder durch eine Lücke der Dächer, die ich nie bemerkte, in das Zimmer – , schlecht gelaunt oder eher missmutig erschöpft, ging ihr Blick an mir vorüber an die Wand und entdeckte dieses Plakat. „Homoerotische Bekenntnisse ...“, sagte sie mißbilligend, „mußt du denn sowas aufhängen?“ Ich weiß nicht mehr wörtlich, was ich erwiderte, aber es war eine von Trotz nicht freie Verteidigung des Plakats und meiner Freiheit, es an die Wand pinnen zu können und damit ein Signal für jeden, der dafür ein Auge hatte, zu geben. Müde wechselte meine von ihren Enttäuschungen schon in eine resignierte Gleichgültigkeit versetzte Mutter das Thema. Einige Zeit vor ihrem Tod sagte sie mir, sie habe schon in den ersten siebziger Jahren den Verdacht nicht von sich weisen können, daß ich homosexuell veranlagt sein könnte.
- Warmer Augusttag mit Sonne, vor die sich abends eine blaugraue Wolkenschicht schob, durch die sie glostete.
8.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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