7.8.2002
Es muß 1973 und nicht 1974 gewesen sein, als der „Schwanenkeller“, der am Hang zum Gigelberg steht, über jener Straßenstelle, wo die Gaisentalstraße in den Bismarckring mündet, aufmachte. Aber frage mich niemand, wann genau das war! Mein Erinnerungsgefühl teilt mir mit, daß es in einer wärmeren Zeit im Jahr stattfand, vielleicht in der Übergangszeit vom Frühjahr zum Sommer. Das schmutzig-rosafarbene Gebäude hat unten eine kleine Arkade, von einem Stützpfeiler an der Nordostecke (oder zwei?) nur gebildet; in den Sommern – ich greife das vorweg auf – wurde in einem unteren Raum, der sich bequem nach außen hin öffnen ließ, denn sommers saß man auf einfachen zusammenklappbaren Biertischbänken an den dazugehörenden Biergartentischen vor dem Lokal, ausgeschenkt. Der Schankraum befand sich im ersten Stock, zu dem eine Holztreppe ohne Zierat, ohne poliertes Geländer, einfacher Bauart eben, die Gäste hinauf ließ, und war man oben angekommen, ging’s links ab zu den Toiletten und geradeaus durch eine weißschäbige Tür hinein in den Gastraum, dessen Grundfläche etwa quadratisch war, links vom Eingang stand hinter der gar nicht breiten Theke der Mann, der die Getränke ausgab, und das war nur selten der Pächter dieser Gaststätte (er war ein Blumenhändler und hatte den Vertrag für das ganze Haus unterschrieben), sondern R. Botzenhard, von allen nur „Botz“ geheißen, ein untersetzter, zur Voluminosität neigender junger Mann mit langen schwarzen Haaren und einem ebensolchen Vollbart. Er war umgänglich und nicht mundfaul, eine unerläßliche Voraussetzung für jeden, der hinter einer Theke steht. Die Rockmusik aus den Boxen oben in den Ecken schallte gerade so laut über die Sitzenden, daß man noch verstehen konnte, was ein anderer zu einem sagte. Zunächst war die neue Kneipe für die wenig „angepaßte“, eingepaßte, Jugend des Städtchens nach dem altruistischen Konzept, daß jeder, der hier etwas zu sich genommen und genossen hatte, das gebe, was es ihm wert gewesen war, geführt worden; freundlich-utopische Zeiten der Siebziger!; doch nur wenige Wochen gingen ins Land, in denen sich diese Geschäftsphilosophie – die diesen Begriff mit mehr Recht für sich beanspruchen konnte als die die raffgierigen Zwecke pseudo nobilitierend verschleiernden „Unternehmensphilosophien“ – als nicht ratsam und gar nicht praktikabel erwies, und auch im „Schwanenkeller“ aufgrund der in Allem so ungenügenden (Zahlungs-) Moral des Homo sapiens die üblichen Geschäftsbedingungen eingerichtet wurden. Nicht lange nach der Eröffnung saß auch ich mit Freunden in diesem wohnzimmergroßen – wenn dieses Zimmer etwa 30 m² maß – Schankraum und hob den Glashumpen mit dem Bier darin zu den Lippen. In den „Schwanenkeller“, der bald auch als „Casa di Lohengrin“ bezeichnet wurde, ging man – gingen zumindest die, mit denen ich hockte – dann, wenn im „Strauß“ die Sperrstunde nahte, oder auch erst danach, wenn die Tür des „Strauß“ inzwischen abgeschlossen war und wir dennoch einen letzten Drink ordern und wegsaufen konnten. Auch wenn es uns im „Rebstock“ zu vorgeschrittener Stunde nicht mehr behagte und der Abend noch zünftig ausklingen, in jedem Fall noch länger dauern sollte, trotteten wir, nicht mehr nüchtern, und das in unterschiedlichen Graden, noch die Wielandstraße entlang und das Stückchen des Bismarckrings hinauf, bis die Treppen zum „Schwanenkeller“ oder eben zum Gigelberg und die asphaltierten schmalen Wege erstiegen werden mußten; dafür wartete ein meistens eng bevölkerter, stark verräucherter anderer Gastraum auf uns späte Zecher, in dem die Geräusche wie in einem Hornissennest brummten. Das war eine angenehme Soundkulisse. Ich zähle die Nächte nicht, die ich an diesem Ort zubrachte, manche dehnten sich bis zum Morgengrauen. – Und wer saß dort? Die drei Brüder G., deren Oberhaupt der sehr schlanke langhaargelockte Kai, mit Ringen an den Fingern, in Hippie-Wear, war, der mit Freundin M. und Brüdern häufig den „Strauß“ aufsuchte. Ein dünner Typ mit weißblonder Mähne und einem Gesicht fahler Farbe, der auf den Namen „Weizenkeym“ hörte und der selten sicher auf den Beinen stand. Überhaupt die jungen Männer und Frauen der härteren Fraktion, besser aussehende und nicht ganz so ansehnliche, alle, doch Ausnahmen gab es, mit ellenlangen Haaren, die bis auf die Rücken fielen. Und wirkliche Freaks, manche schon heruntergekommen, die von nicht erlaubten Giften lebten, was man ihnen zeitweilig ansah und die gegen Ende des Jahrzehnts aus dem Blickfeld gerieten, und wohin? Leute, mit denen ich sprach und mit denen ich nie ein Wort wechselte, deren Erscheinungsbild mir aber vertraut war, denn die Szene war überschaubar. In manchen Sommer- und Herbstnächten wurde gepokert; mit stoischer Miene auf dem Holzstuhl sitzend, Whisky – „Johnny Walker Black Label“, gar nicht so teuer ... – trinkend, Zigaretten oder Zigarren rauchend, spielte ich meine „Straße“ oder das „Full House“ aus. Ich gewann, ich verlor. I was a gamblin‘ man. Die Einsätze waren jedoch minimal, und trug ich um drei Uhr nachts fünf Mark nachhause in die Lindelestraße, so war das viel.
- Sonnenschein, abends bedeckt, das Gewitter regnete sich aber im Süden von Berlin aus.
7.8.2002
- Sonnenschein, abends bedeckt, das Gewitter regnete sich aber im Süden von Berlin aus.
7.8.2002
07.08.