7
Aug

7.8.2002

Es muß 1973 und nicht 1974 gewesen sein, als der „Schwanenkeller“, der am Hang zum Gigelberg steht, über jener Straßenstelle, wo die Gaisentalstraße in den Bismarckring mündet, aufmachte. Aber frage mich niemand, wann genau das war! Mein Erinnerungsgefühl teilt mir mit, daß es in einer wärmeren Zeit im Jahr stattfand, vielleicht in der Übergangszeit vom Frühjahr zum Sommer. Das schmutzig-rosafarbene Gebäude hat unten eine kleine Arkade, von einem Stützpfeiler an der Nordostecke (oder zwei?) nur gebildet; in den Sommern – ich greife das vorweg auf – wurde in einem unteren Raum, der sich bequem nach außen hin öffnen ließ, denn sommers saß man auf einfachen zusammenklappbaren Biertischbänken an den dazugehörenden Biergartentischen vor dem Lokal, ausgeschenkt. Der Schankraum befand sich im ersten Stock, zu dem eine Holztreppe ohne Zierat, ohne poliertes Geländer, einfacher Bauart eben, die Gäste hinauf ließ, und war man oben angekommen, ging’s links ab zu den Toiletten und geradeaus durch eine weißschäbige Tür hinein in den Gastraum, dessen Grundfläche etwa quadratisch war, links vom Eingang stand hinter der gar nicht breiten Theke der Mann, der die Getränke ausgab, und das war nur selten der Pächter dieser Gaststätte (er war ein Blumenhändler und hatte den Vertrag für das ganze Haus unterschrieben), sondern R. Botzenhard, von allen nur „Botz“ geheißen, ein untersetzter, zur Voluminosität neigender junger Mann mit langen schwarzen Haaren und einem ebensolchen Vollbart. Er war umgänglich und nicht mundfaul, eine unerläßliche Voraussetzung für jeden, der hinter einer Theke steht. Die Rockmusik aus den Boxen oben in den Ecken schallte gerade so laut über die Sitzenden, daß man noch verstehen konnte, was ein anderer zu einem sagte. Zunächst war die neue Kneipe für die wenig „angepaßte“, eingepaßte, Jugend des Städtchens nach dem altruistischen Konzept, daß jeder, der hier etwas zu sich genommen und genossen hatte, das gebe, was es ihm wert gewesen war, geführt worden; freundlich-utopische Zeiten der Siebziger!; doch nur wenige Wochen gingen ins Land, in denen sich diese Geschäftsphilosophie – die diesen Begriff mit mehr Recht für sich beanspruchen konnte als die die raffgierigen Zwecke pseudo nobilitierend verschleiernden „Unternehmensphilosophien“ – als nicht ratsam und gar nicht praktikabel erwies, und auch im „Schwanenkeller“ aufgrund der in Allem so ungenügenden (Zahlungs-) Moral des Homo sapiens die üblichen Geschäftsbedingungen eingerichtet wurden. Nicht lange nach der Eröffnung saß auch ich mit Freunden in diesem wohnzimmergroßen – wenn dieses Zimmer etwa 30 m² maß – Schankraum und hob den Glashumpen mit dem Bier darin zu den Lippen. In den „Schwanenkeller“, der bald auch als „Casa di Lohengrin“ bezeichnet wurde, ging man – gingen zumindest die, mit denen ich hockte – dann, wenn im „Strauß“ die Sperrstunde nahte, oder auch erst danach, wenn die Tür des „Strauß“ inzwischen abgeschlossen war und wir dennoch einen letzten Drink ordern und wegsaufen konnten. Auch wenn es uns im „Rebstock“ zu vorgeschrittener Stunde nicht mehr behagte und der Abend noch zünftig ausklingen, in jedem Fall noch länger dauern sollte, trotteten wir, nicht mehr nüchtern, und das in unterschiedlichen Graden, noch die Wielandstraße entlang und das Stückchen des Bismarckrings hinauf, bis die Treppen zum „Schwanenkeller“ oder eben zum Gigelberg und die asphaltierten schmalen Wege erstiegen werden mußten; dafür wartete ein meistens eng bevölkerter, stark verräucherter anderer Gastraum auf uns späte Zecher, in dem die Geräusche wie in einem Hornissennest brummten. Das war eine angenehme Soundkulisse. Ich zähle die Nächte nicht, die ich an diesem Ort zubrachte, manche dehnten sich bis zum Morgengrauen. – Und wer saß dort? Die drei Brüder G., deren Oberhaupt der sehr schlanke langhaargelockte Kai, mit Ringen an den Fingern, in Hippie-Wear, war, der mit Freundin M. und Brüdern häufig den „Strauß“ aufsuchte. Ein dünner Typ mit weißblonder Mähne und einem Gesicht fahler Farbe, der auf den Namen „Weizenkeym“ hörte und der selten sicher auf den Beinen stand. Überhaupt die jungen Männer und Frauen der härteren Fraktion, besser aussehende und nicht ganz so ansehnliche, alle, doch Ausnahmen gab es, mit ellenlangen Haaren, die bis auf die Rücken fielen. Und wirkliche Freaks, manche schon heruntergekommen, die von nicht erlaubten Giften lebten, was man ihnen zeitweilig ansah und die gegen Ende des Jahrzehnts aus dem Blickfeld gerieten, und wohin? Leute, mit denen ich sprach und mit denen ich nie ein Wort wechselte, deren Erscheinungsbild mir aber vertraut war, denn die Szene war überschaubar. In manchen Sommer- und Herbstnächten wurde gepokert; mit stoischer Miene auf dem Holzstuhl sitzend, Whisky – „Johnny Walker Black Label“, gar nicht so teuer ... – trinkend, Zigaretten oder Zigarren rauchend, spielte ich meine „Straße“ oder das „Full House“ aus. Ich gewann, ich verlor. I was a gamblin‘ man. Die Einsätze waren jedoch minimal, und trug ich um drei Uhr nachts fünf Mark nachhause in die Lindelestraße, so war das viel.
- Sonnenschein, abends bedeckt, das Gewitter regnete sich aber im Süden von Berlin aus.
7.8.2002

6
Aug

6.8.2002

Wir – meine Mutter und ich, und manchmal war auch die Fischbacher Verwandtschaft dabei – unternahmen Ausflüge in die Region: so – um nur einige Orte zu erwähnen – nach Burg Stolpen, nach Meißen, wo ich die Geschichte des Porzellanmachers Böttiger erfuhr, in das Elbsandsteingebirge der Sächsischen Schweiz hinein, nach Dresden, fuhren auch – oder vermenge ich nun den Aufenthalt von 1963 mit dem von 1968? – mit einem Schiff der Weißen Flotte die Elbe hinauf nach Pirna. (Auf den malerischen Zinnen des Elbsandsteingebirges stand ich mindestens zwei Mal.) Auch gelangten wir mit der Eisenbahn ein Stück in die Landschaft, stiegen dann aus und erkundeten die Wälder und Heideflächen zwischen Dresden und der Sächsischen Schweiz oder sonstwo in stundenlangen Wanderungen, nach denen in ein Gasthaus eingekehrt wurde; oder auch nicht. – Ist es in diesem Haus endlich ruhig geworden! – Ich stand auf den Zinnen der zerfurchten Sandsteinwälle, die ein Gebirge zu nennen mir übertrieben vorkam, weil ich, von Ferne damals nur, das Gebirge der Alpen vom Lindele aus gesehen hatte, und sogar, wie mir im Augenblick vor das innere Auge – wieso spricht man nie von den „inneren Augen“? – kommt, von der Insel Mainau aus, auf der ich mich mit meiner Mutter und den Dr. Gawliks im Sommer zuvor einen prächtigen Sommertag lang zwischen Rosenrabatten und weitläufigen Blumenanlagen entlang bewegt hatte; ich thronte auf jenen weißgrauen Felsen und mein Blick schwang herrscherlich aus dieser Höhe über die Kerbe des Elbflußtals hinüber zur gegenüberliegenden Höhe, hinunter auf den anmutig in sanften Kurven liegenden Fluß, auf dem Spielzeugschiffe in beide Richtungen schwammen, die sich nach dem Abstieg wieder als beachtliche Kähne und Dampfer herausstellten.
In Dresden sah ich mir im barocken Zwinger Alte Meister an, riesige Gemälde, deren Existenz mir an jenem Tag ins kindliche Bewußtsein geriet, das so kindlich womöglich gar nicht mehr war, und die mir, doch alle Eindrücke des Tages hatten dies verursacht, in Fischbach Kopfschmerzen machten, die am späten Abend mit zwei Tabletten sediert wurden. Diese Bilder hatten mir gefallen; sie waren mir als erste aus der Welt der bildenden Kunst begegnet. An diesem Tag in Dresden hinterließen auch die Juwelenschätze im Grünen Gewölbe, von denen ja viele, die köstlichsten, zierlichsten, und ein ganzer Hofstaat dazu, vom Edelsteinschneider und -künstler Dinglinger geschaffen worden waren, der, aus Biberach stammend, am Hofe August des Starken in seine Lebensposition hineingewachsen war, ihren Schimmer in mir. Es glitzerte und glänzte und erzählte Geschichten aus den Vitrinen heraus ... Wieder an der von der Elbe erfrischten Luft, draußen vor dem „Italienischen Dörfchen“, kaufte ich ein Eis, das, wegen des Schokoladenüberzugs oder -anzugs über dem Vanillekörper, wie ein glatter brauner, nicht sehr dicker Bolzen am Stiel aussah. „Das ist die Semperoper“, sagte Tante Gerda und wies auf den geschwungenen Bau am Platz, sie ging oft in Konzerte und ins Theater.
Onkel Heinz bastelte manchmal am wuchtigen Fernsehgerät, das aus der Firma kam, in der er arbeitete, „Robotron“ in Radeberg, herum, verstellte, „HB“- oder „Stuyvesant“- oder „Astor“-Zigaretten zwischen die Lippen geklemmt, die Antennenrichtung, zwackte an irgendwelchen Eingeweiden des elektrischen Bildmachers, um in diesem Haus der ehemaligen Försterei bei Fischbach hinter Dresden auch „Westfernsehen“ in den Kasten zu bekommen, doch dem war höchst selten ein – griesliger – Erfolg beschieden. Hinter Dresden begann das „Tal der Ahnungslosen“, wie die DDR-Bevölkerung die Gegend nannten, denn überall im „Ländchen“, wie die Lyrikerin Sarah Kirsch später diesen Staat nennen sollte, war Westfernsehen, das aus dem Ersten Programm der ARD und dem Zweiten Deutschen Fernsehen, das erst kürzlich auf Sendung gegangen war, bestand, zu empfangen, nur zwischen Dresden und Görlitz nicht. Die Erwachsenen und wir Kinder sahen abends also „Ost“, aber ich weiß nur noch vom „Sandmännchen“ und vom „Pitiplatsch“, die in der Gute-Nacht-Sendung für die Kleinen ihre kurzen Abenteuer hatten. Diese Sendung sahen wir uns jeden Abend an; sie war ein Muß.
Solche Tage endeten noch vor meinem Geburtstag; wir fuhren zurück nach Oberschwaben. Am Tag vor der Abreise sahen meine Mutter und ich zu, daß wir unser Ostgeld noch los wurden, auch ich, denn meine Verwandtschaft hatte mir eigenes Taschengeld, und reichlich, zugesteckt, und wir kauften noch allerhand Geschnitztes aus dem Erzgebirge und Krimskrams, ich noch ein Buch oder zwei, und Süßigkeiten für die Reise. „Geh nicht so damit um“, hatte Mama mich während des Besuchs von 1970, als ich wieder viel Ostgeld in der Tasche hatte, gerügt, „sie müssen auch dafür arbeiten.“ Ich wußte es ja: Als Westler war ich sowieso schon unverhältnismäßig priviligiert, und dann hatte ich auch noch im Osten mehr Geld als im Westen. (Das 1970 auch für marxistische Theorie ausgegeben wurde, um im Westen sozialistische Verhältnisse herstellen zu können.) Mir ging’s im Osten immer gut. Zu zynisch? – Die Grenzkontrollen gerieten noch schärfer und ausgiebiger als auf der Einreise. In und unter den Waggons wurde jede Stelle, die ein Versteck hätte bieten können, abgesucht. Die Vopos drehten und wendeten die „Papiere“ in den Händen, als wollten sie nicht glauben, daß mit ihnen alles seine Ordnung habe. Fast widerwillig gaben sie die Dokumente zurück. Zwischen hohen Stacheldrahtverhauen, zwischen denen Grenzer mit Schäferhunden standen, verharrte der Zug wie eingefangen. Endlich spürten wir erleichtert, wie er sich wieder bewegte, wie die Eisenschlange wieder voran rutschte, voran glitt, dann geschmeidiger und schneller wurde, aus Probstzella, dem Ort, dem die Zellen schon eingeschrieben sind, entkam. (Ich fand den Namen auch deshalb eigentümlich, weil das „Probst“ mich an die Probststraße zuhause gemahnte. So gab dieser Ort beim Übergang in die andere Welt ein Zeichen des Abschieds aus der gewohnten, und bei der Heimkunft – und die ganze Bundesrepublik Deutschland hatte mit einem Mal so etwas Heimatliches an sich – eines der Begrüßung und der Vorfreude auf die vertrauten Pfade des Lindeles.) Abends kamen wir in Biberach an, Frau H. hatte einen Blumenstrauß auf den Coachtisch des Wohnzimmers gestellt und empfing uns herzlich.
- Sonnig, mild, nicht gar so heiß.
6.8.2002

5
Aug

5.8.2002

Das große Haus, das an der Ostseite des Hofes stand, um den sich im Quadrat noch andere, niedrige Häuser und Schuppen zogen, in denen noch andere, nicht zur Verwandtschaft zählende Bewohner hausten, die ich so gut wie nie zu sehen bekam, war nun also Schlaf- und Lebensort für die drei Wochen des Ferienaufenthalts. Ging es in der Wohnung in der Lindelestraße in Biberach ruhig und gedämpft zu, eine Wohnstimmung, die mir stets gefiel, so verlief das Leben auf dieser alten Försterei, die ihre Zwecke in einer Vergangenheit, von der mir nie etwas bekannt wurde, erfüllt hatte, lebhafter, doch in ländlicher Prägung. Lebhafter, weil dort meine um knapp zwei Jahre jüngere Kusine K. und mein kleiner Cousin S. wohnten, und mit ihnen streifte ich in Sommertagen durch die umliegenden Felder und Wälder, auch ihr Papa, Onkel Heinz (der mit dem Motorrad), begleitete uns, führte uns in die Pilze, und abends kredenzte dann Oma Sommer, die in der Küche das Hauptregiment führte, zu Kartoffeln köstliche Steinpilze und Pfifferlinge, dazu wurde Kaninchenfleisch aus den Ställen hinter dem Anwesen, vor den Wiesen, über deren Feldwegen es zu den südlich und nahe stehenden Wäldern ging, gereicht. Die Tierchen, die morgens noch ihr Gras und ihre Möhren gemümmelt hatten, taten mir ja leid, aber dennoch, ich mußte es mir zugeben, schmeckten solche Mahlzeiten sehr gut. Vater Sommer, der Großvater, ein zuweilen herrischer alter Mann mit einer Glatze, die ihn noch kerniger erscheinen ließ, äußerte zuweilen ein Wort der lauten Mißbilligung, aufgrund dieser oder jener recht unbedeutenden Begebenheit (er konnte sehr unwirsch reagieren), doch ahnten wir: rauhe Schale, weicher Kern. Er war unumstritten der – etwas tyrannische – Herr im Haus. Vormittags kümmerte er sich, wie ich so manchen Tag beobachtete, um die Bienen, die aus zwei aufgebockten Bienenstöcken um ihn summten und brummten, aus den „Törchen“ hinausschwirrten und hineinmanövrierten. Opa Sommer trug keinen Imkerhut mit dem Schleier vor dem Gesicht und schien mit den Honiglieferantinnen in recht gutem Einvernehmen zu stehen. Ich hatte allerdings meine Bedenken hinsichtlich der stechenden Biester, aber ich kann mich nicht entsinnen, jemals gepiekt worden zu sein.
In der Mitte des ungepflasterten Hofs befand sich der Brunnen. Ich betätigte den großen geschwungenen Eisenschwengel, zog ihn in die Höhe, drückte ihn hinunter, das helle Wasser strömte aus dem dicken Hahn und füllte die beiden Wassereimer, deren Inhalt im Haus gebraucht wurde und die ich die Treppe hinauftrug. Auch die Kusine, die das ja täglich gewohnt war, packte mit an. (Aber im Wohnhaus gab es doch fließendes Wasser? Auf der Toilette aber nicht, soviel steht fest.) Nachts ruhte ich in einem Zimmer, in dem auch der sechsjährige Cousin Stephan schlief und im Schlaf mit den Zähnen knirschte – zunächst wußte ich mir dieses eigenartige, noch nie vernommene Geräusch nicht zu erklären. Vielleicht aus innerer Anspannung, die durch den in jenen Tagen bevorstehenden Schuleintritt verursacht wurde? Denn eines wolkenverhangenen Tages Anfang September schritten alle Hausbewohner und auch meine damals in Dresden in einer Klinik als Krankenschwester arbeitende Tante Gerda, und Onkel Roland, ein jüngerer Bruder von Onkel Heinz, der in späteren Sechzigerjahren Tante Gerda heiratete, über die sandigen Wege, die durch Felder hinüber zum Dorf wiesen, S. balancierte seine große Schulanfängertüte, die über ihn hinausragte, in den Armen, und ich Zwölfjähriger, dem die Schule längst zur Selbstverständlichkeit geworden war, dachte einmal: „Sehr glücklich sieht er ja nicht drein.“ In der Schule wurde dann eine Rede gehalten. Ich langweilte mich. Der Tag drohte regnerisch zu werden. Endlich standen alle Eltern mit ihren mehr oder weniger glücklichen Sprößlingen im und vor dem Schulgebäude herum, es wurde viel fotografiert, und ich habe diese Schwarzweißfotos von diesem Tag noch, auf denen auch ich zu sehen bin.
- Ein regnerischer Tag, dennoch nicht kühl.
5.8.2002

4
Aug

4.8.2002

Dann sah ich sie zum ersten Mal: ein von hohen Stacheldrahtwänden eingezwängter Streifen Lands, der Todesstreifen, sank und hob sich zwischen die Felder, Wiesen, Wälder, hinab, hinauf in die Waldschneise, in der ich einen Wachturm entdeckte, mit einem eigenartig verkanteten Betondach, das wie ein Papierschnipsel zwischen dem dunklen Waldgrün dort oben schwebte. Das war sie also, die Mauer, die Grenze, die durch Deutschland verlief. Ich stand am geöffneten Fenster im Wagengang, Rußgeruch wehte von der Lokomotive heran, mir um die Nase; das Sonnenlicht brach sich an manchen Stellen des metallenen Doppel- und Dreifachzauns. Ich trat ins Abteil. Meine Mutter wurde schon etwas nervös, war es doch das erste Mal, daß wir durch die seit dem Mauerbau in Berlin im August 1961 verschärften Grenzkontrollen mußten. Als wir Ende der fünfziger Jahre nach Fischbach gefahren waren, hatte diese Grenze noch nicht existiert, nur auf dem Papier, auf den Landkarten, und in den Köpfen. Wie vordem wurden die Kontrollen im Zug durchgeführt. Der Zug nahte Probstzella, dem Grenzübergang, verlor an Geschwindigkeit, wurde langsamer. Meine Mutter legte ihren bundesdeutschen Personalausweis und die anderen Papiere, die zur Einreise in die Deutsche Demokratische Republik berechtigten, und meinen Kinderausweis zurecht. Auch die anderen Reisenden im Abteil nestelten in ihren Taschen. Plötzlich herrschte eine angespannte Atmosphäre. Der Zug hielt ächzend, kreischend. Baracken links und rechts der zwei Gleistrassen, Wachtürme, Soldaten in einer anderen Uniform mit Maschinenpistolen patroullierten entlang des Zuges; ich beobachtete es aus dem offenen Abteilfenster neugierig, bis meine Mutter in besorgtem Tonfall sagte, ich solle den Kopf nicht so hinausstrecken, solle mich setzen. Ich schob also das Fenster zu, setzte mich. Es dauerte dann auch nicht lange, bis die Vopos, die Volkspolizisten der DDR, zu zweit ins Abteil traten, einen Gruß schnarrten und die Papiere sehen und den Reisegrund wissen wollten. Dieser mußte zum Beispiel durch eine familiäre Einladung, die vom Rat der Stadt abgestempelt worden war, schriftlich nachgewiesen werden. Überaus gründlich wurden die Unterlagen geprüft, Blicke in die Gesichter der Sitzenden geschossen, die Papiere mit zackigen Arm- und Handbewegungen zurückgereicht. „Gudn Auffendhalt in dr DeDeÄrr!“, mit einem kräftigen Ruck wurde die Abteiltür geschlossen. Aufatmen. Erste spöttische Bemerkungen fielen, sehr leise, verstummten, denn nun fand der Zwangsumtausch der Währungen statt. Für jeden Tag Aufenthalt mußten schon an der Grenze soundsoviel DM in „Mark der DDR“ umgetauscht werden; eins zu eins, verstand sich. Die Schwarzmarktrate lag gewöhnlich bei eins zu fünf. Das wußte man, das tat man aber nicht, wenn man noch bei Sinnen war und nicht im Stasi-Knast verschwinden wollte; konnte man auch gar nicht, denn das noch (offiziell, denn wer trug was im Schuh hinein?) verbliebene Westgeld – das ja nach der Ausreise aus dem deutschen Sozialismus wieder benötigt wurde – mußte deklariert werden und wurde verzeichnet; wie schon Uljanov sagte: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Im Bauchladen der weiblichen Uniformierten verschwand unser gutes Westgeld, DDR-Geld, Scheine und verblüffend leichte Münzen, steckte meine Mutter in ihre Börse. Auch diese Devisenhändlerin verschwand, die Prozedur war überstanden. Das Gehabe der DDR-Grenzbeamten war doch etwas eigentümlich gewesen, wie wohl alle empfanden, dieser Tonfall war für uns Westler nicht eben alltäglich. Nach einer Weile, die schon lang zu werden drohte, ruckelte der Zug an, nahm Fahrt auf, schnaufte ins Vogtland hinein. Plauen wurde zurückgelassen, die sächsischen Städte zogen vorüber. Die Landschaften wurde industrieller, Halden entlang der Strecke, graue und braune Bauten; auf unerklärliche Weise, die vielleicht nur das Resultat eines Vorurteils war, schienen die Gegenden, durch die der Interzonenzug dampfte, einen kaum zu bemerkenden Grauschleier übergezogen zu haben. Der Bahnhof von Karl-Marx-Stadt (inzwischen wieder Chemnitz) war duster, verrußt. Weiter nach Dresden.
Im Dresdner Hauptbahnhof hievten wir unser Gepäck aus dem Zug, schleppten es unter einem schwarz geschwungenen Gewölbedach in die Halle, verließen in der Menge der Herein- und Hinauseilenden das Gebäude, sahen uns um, warteten, bis ein Wartburg-Taxi frei war, denn so viele waren da nicht. War der Platz vor dem Bahnhof weit und leer? Vor neunzehn Jahren erst war Dresden im Höllenfeuer der alliierten Bomben in Schutt und Asche und unter Leichenbergen versunken. Ich wußte das. Endlich war ein Taxi zu haben. „Nach Fischbach!“, wies meine Mutter den Chauffeur an. Der freute sich, eine längere Fahrt ergattert zu haben und begann zu plaudern. Natürlich über keine geheimdienstlich relevanten Dinge. Westler im Auto! Gab es in Fischbach überhaupt einen Bahnhof? Arnsdorf, der größere Ort dort in der Gegend, besaß einen, in ihm hatte meine Mutter nach dem Krieg für einige Zeit als Reichsbahnangestellte der sowjetisch besetzten Zone gearbeitet. Es war sinnvoller und bequemer, mit dem Auto zu fahren. Kiefernwälder beschatteten da und dort die nicht sehr breite Straße, auf der kaum ein Auto uns entgegen kam. Ich saß hinten und kannte die Strecke schon. Wir erreichten Fischbach. Die ehemalige Försterei, in der meine Verwandtschaft wohnte, lag rechts der Straße, wenn man aus Dresden kommend heranfuhr. Vor dem Einfahrtstor im umlaufenden Gemäuer hielt das Auto. Meine Mutter zog den Geldbeutel. Der ältere Chauffeur aber fragte etwas verlegen, ob wir vielleicht Westzigaretten hätten, ob er ein paar bekommen könne, statt des Geldes. Die seien doch viel besser als das Ostkraut. Meine Mutter bezahlte mit Ostgeld und kramte aus einer der Taschen eine der Zigarettenschachteln, die sie für die männliche Verwandtschaft nicht eben sparsam eingekauft hatte, hervor, „HB“ oder „Stuyvesant“, und reichte sie dem Fahrer. Er konnte sein Glück kaum fassen. „Westzigaretten hat ja unsereins nie in den Fingern!“ Wir stiegen aus, der Fahrer holte unser Gepäck aus dem Kofferraum, trug es vor den Eingang. Das Taxi wendete und wurde auf der Landstraße kleiner. Bestimmt, dachte ich, denn sofort hatte der Chauffeur die Packung aufgerissen, qualmt er es jetzt voll mit Westzigaretten.
- Heiteres Sommerwetter, das im Verlauf des Nachmittags in Eintrübung überging. Etwas Wind, der mit den Blättern spielte.
4.8.2002

3
Aug

3.8.2002

Nachdem am Nachmittag in meinem tragbaren TV-Gerät kräftig gemosert worden ist, an die Eintragung von heute. – Dreizehn Jahre früher reiste ich mit meiner Mutter – reiste meine Mutter mit mir - nach Fischbach hinter Dresden in die DDR. Am Tag der Abreise erhielt Frau H. – der ich nun eine genauere Gestalt geben will: sie ist mittelgroß, hat ein eher breites Gesicht, lebhafte Augen, eine keineswegs große Nase und schmale Lippen, von denen eine lebhafte Rede in der Mundart des Landstrichs fließt, wie ich vor einem Monat wieder hörte; hellbraunes Haar umfaßte in ihren jüngeren Jahren den schwäbischen Kopf – die Wohnungsschlüssel, dann fuhren wir, die zwei schweren großen Koffer und verschiedene Taschen erforderten es, mit dem Taxi hinunter zum Bahnhof. Wenn es richtig ist, was ich hier angebe, dann mußte damals in Ulm nicht umgestiegen werden, der D-Zug (der „Interzonenzug“, wie die Bezeichnung aus der ersten Besatzungszeit nach dem Krieg noch lautete) – von einer schwarzen Dampflokomotive gezogen, deren Qualm während der ganzen Reise in zerfasernden dunklen Fahnen über der Landschaft vor die Sommersonne flatterte und sie in hin und wieder in flüchtiger Weise verfinsterte – rollte, nach kurzem Aufenthalt, weiter nach Günzburg und Richtung Nürnberg. Wir hatten es uns inzwischen im Zugabteil gemütlich gemacht, hatten, wie stets für solche Reisen, Fensterplätze reserviert, und die Stunden vergingen, indem ich aus dem Fenster auf die sich unablässig abwechselnden Erhebungen, Senken, Felder, Wälder, Bahnhöfe und Hinterhöfe entlang der Trasse blickte, und das charakteristische rhythmische Fahrgeräusch des Waggons – tadak, tadak... tadak – spielte die minimalistische und einschläfernde Musik dazu. Schließlich erreichten wir Nürnberg und stiegen aus. Ein Onkel Richard meiner Mutter und dessen Frau wohnten hier. Wir fuhren mit der Straßenbahn in die Nähe der Straße, wo das schon alte Paar wohnte, schleppten die letzte Wegstrecke Koffer und Taschen über die Bürgersteige, bis wir vor dem vier- oder fünfstöckigen Wohnblock standen und klingelten. Wir wurden empfangen, luden das Gepäck ab, erfrischten uns. Nach einer Erholungspause spazierten wir durch den sonnigen Abend, ich durfte den Dackel an der Leine führen. Noch später gingen meine Mutter und ich noch durch das nächtliche Nürnberg, sahen uns ein bißchen in dieser für uns großen Stadt um, kehrten mit der Straßenbahn zur Wohnung der Verwandtschaft zurück. Eine große Standuhr tickte in dem Zimmer, in dem ich in einem Bett lag und auch bald einschlummerte. Am nächsten Vormittag nahmen wir das Gepäck auf, Tante, Onkel und Hund begleiteten uns zum Hauptbahnhof. Mit urweltlichem Fauchen und rußigem Rauch rollte wieder eine mächtige schwarzmetallene Lok auf den matt schimmernden Gleisen an den Bahnsteig heran, der Zug hielt, mit unserer Last erklommen wir die schmale Waggonstiege, quetschten uns durch die Tür, kämpften uns zu unserem Abteil vor. Ein letztes Winken aus dem heruntergezogenen Oberteil des Fensters zu den Verwandten, der Zug fuhr an, hinaus aus der Halle. Der zweite mehrstündige Teil der Reise begann. Die Stunden verstrichen. Meine Mutter packte Proviant aus. Ich stand lange an einem der Gangfenster und sah hinaus. Nach Hof wuchs die Spannung. Der Zug wand sich durch die Vorgebirgslandschaft, der Grenze entgegen.
- Hoher Sommer, heiß, kaum eine Wolke unter der Bläue.
3.8.2002

2
Aug

2.8.2002

Ein neuer Tag und ein neues Heft, in das ich neue Aufzeichnungen vom Verlust der alten Tage eintrage. – Im Sommer von 1976, und auch im nächsten, aber bleiben wir erst einmal noch in dem sechsundsiebziger, ging ich, auch eine der Regelmäßigkeiten meines damaligen Lebens, die sich an denen einer „Normalität“ eher orientierte als andere, an den Samstagen und Sonntagen oft, doch nicht immer, mittags oder erst nachmittags aus dem Kapfengassenhaus hinaus und zur Bushaltestelle am Marktplatz (samstags, wenn noch ein letzter Bus hinauf zum Hühnerfeld fuhr) oder durch das Straßengewirr sofort zum Wohngebiet auf dieser südwestlichen Hochfläche über dem Stadtinneren, um in der Wohnung meiner Mutter, die immer auch noch unsere Wohnung, für die meine polizeiliche Registrierung galt, war, ein Mittagessen oder ein Stückchen Kuchen etwa (selten) zu mir zu nehmen. Oder ich machte mir dort etwas zu essen, wenn meine Mutter nicht gekocht hatte, was vorkam, wenn sie keine Lust dazu gehabt hatte oder ihr nicht wohl war; das war sehr oft der Fall. Ich aß dann also etwas, um gegessen zu haben (nie in meinem Leben habe ich besonderen Wert auf’s Essen gelegt), in meinem Zimmer, das klein und mit Möbeln aus der Lindelestraße vollgeräumt war, am Tisch sitzend, einem der großen Tische, denn der Schreibtisch stand in der „Karga“, und sah während des Mahls mal auf die Zeitungsseite, die vor mir lag, oder auf ein Buch, und las ein paar Zeilen, mal aus dem Nordfenster auf die zu jener Zeit dort noch nicht zugebaute Freifläche und die Straße und ihre Gehwege, auf denen sich an Samstag- und Sonntagnachmittagen wenig rührte. Alles schien von der starken Sonneneinwirkung wie eingedickt zu sein. Nach dem Essen trug ich den Teller und eine eventuelle geleerte kleine Salatschüssel in die Küche und pflanzte mich in einen der Sessel im Wohnzimmer, wo meine Mutter schon, oder noch, oder wieder auf unserer alten Chaiselongue, der weinroten Coach, lag, dösend oder im Halbschlaf oder sie sah die lächerlichen Sendungen, denn ich hatte das Schwarzweiß-Fernsehgerät aus Gewohnheit schon, für die ich mich eigentlich schalt, eingeschaltet, mit an; wir sahen amerikanische Nachmittags- und anschließend, denn ich verfügte ja über Zeit und mußte nicht zu bestimmter Stunde ins Karpfengassen-zimmer zurückkehren, Vorabendserien an, die „Waltons“ und auch „Bonanza“, die Westernserie aus den Sechzigern, die in den Siebzigern ebenfalls ihr Publikum noch oder wieder hatte. Ich trank Bier aus den gedrungenen Flaschen der – nicht in Biberach ansässigen – Brauerei Rapp; 1973 hatte meine Mutter mir zuliebe, denn die paar Sprudelflaschen, die für ihre Verwendung mitgeliefert wurden, waren nicht der Schreibe über sie wert, eine Dauerbestellung getätigt, und einmal pro Woche wurde der leere Bierkasten vor die Haustür gestellt und der volle hereingeholt, und gelegentlich änderte ich die Sorte, trank statt Pils Märzen-Bier oder ein Export. Dies setzte sich auch in der Hühnerfeldwohnung fort, obwohl ich zu jener Zeit längst eher Wein trank als Bier, auch die harten Sachen. In späterer Zeit, nach Auflösung der Wohngemeinschaft im Juli 1978, konsumierte ich höchstens noch spätabends im „Sternchen“ ein Altbier, das ich von meinen kurzen Reisen nach Düsseldorf kannte, wo ich auch gelernt hatte, wie man einen gut eingeschenkten „Samtkragen“, der vortrefflich zum „Alt“ mundet, von einem mißratenen unterscheidet. Zurück zum faulen Fernsehnachmittag: eine Erscheinungsform meiner abgrundtiefen Gleichgültigkeit gegenüber jeder Form von Arbeit, insbesondere der Schreibarbeit, die ich, wie mir sehr klar war, hätte tun sollen, aber ich war von den rudimentären Ergebnissen, denn hin und wieder tippte ich tatsächlich ein paar Zeilen auf der roten IBM, angeödet und keinesfalls überzeugt, und so bestrafte ich mich gleichsam für meine Untätigkeit und mein mangelndes Talent mit solchen Schwarzweiß-Serienfilmen der allerdämlichsten Art und mit der zynisch amüsierten Glotzerei von Hans Moser-Filmen aus der Nachkriegszeit. Diese Heimat- oder Klamaukfilme, in denen auch Theo Lingen seine näselnde Nase zeigte, sah ich mir wirklich nur wegen Hans Moser an; und morgen werde ich einen Heimatfilm von 1956 ansehen, weil Hans Moser in ihm spielt; so existiere ich also in diesen Tagen in einer ähnlichen Geistesstumpfheit wie im Sommer 1976, und deshalb dieser Text, heute.
- Grau, aber ohne viel Regen, kühler als in den Tagen zuvor.
2.8.2002

1
Aug

1.August 2002

Im August 1976, wahrscheinlich in seiner ersten Hälfte, waren G. und seine Freundin Christina S. und andere von einer längeren Motorradreise wieder in die „Karga“ zurückgekehrt und saßen nachmittags – es war heiß – auf dem kleinen Blechbalkon an der Nordseite meines Zimmers, der aber vom Hausflur aus betreten wurde, und ich bemerkte, als ich durch das von Stores vor Blicken von außen etwas abgeschirmte Fenster sah, jemanden, den ich nicht kannte; ein attraktiver schlanker junger Mann in kurzen Hosen, barfuß, vielleicht siebzehn Jahre alt, hockte auf einem der wackligen Stühle bei den anderen; ich ging aus dem Zimmer hinaus und auf den Balkon, um am Geplauder eher sparsam teilzunehmen. Irgendetwas mußte ich ja sagen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, als stummer Fisch ist man nicht sehr attraktiv. Es ergab sich rasch, daß er mit übereinander geschlagenen Beinen in meinem Zimmer auf dem Boden hockte, in seinem Unterhemd und seiner kurzen Hose, und das erotische Verlangen stieg in seiner natürlichen Weise in mir hoch. Ich mußte es stark vergewaltigen, um es niederzuhalten – aber warum tat ich das? Dieser gut aussehende intelligente Siebzehn- oder Sechzehnjährige, Christinas Bruder, war, wie sich rasch herausstellte, literarisch interessiert, lebte in Wien, wie ich mich glaube zu erinnern, sprach aber gar kein Wienerisch; für ein paar Tage wollte er sich in Biberach aufhalten, seine Schwester hatte ihn irgendwo aufgegabelt. Gern hätte ich ihm sofort geil den Schwanz gelutscht, ihn im Arsch geleckt und noch anderes mit ihm getrieben; stattdessen unterhielten wir uns gesittet über Literatur und stellten fest, daß wir beide den Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz gelesen hatten – was mich bei ihm doch überraschte, schließlich dachte ich, Lenz sei so etwas wie ein Geheimtipp, und daß ein Schüler ihn las, das wunderte mich doch. Ich erzählte ihm, während ich die Erektion niederkämpfte, wie ich ein gutes Jahr zuvor, im Frühjahr 1975, eines Stuttgarter Sonnennachmittags mit der Straßenbahn am Lenz’schen Haus vorbeigefahren sei, und zu jener Stunde hätte ich doch in der Vorlesung des Konservativismus-Experten Greiffenhagen sitzen sollen. Ich hatte mich lieber in der Stadt herumgetrieben. Wir quatschen über dies und das, tranken Whisky, rauchten Selbstgedrehte, während Begierde und edle Zurückhaltung mich innerlich, wieder einmal, langsam in kleine Stücke zerrissen. Es wurde Abend. Wir hörten mit dem Reden gar nicht mehr auf; A. verließ das Zimmer, um sich wieder im Haus sehen zu lassen, kam zurück. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anzumachen. Irgendwann in der Nacht ging er dann und ich fiel, die Whiskyflasche hatten wir gut geleert, auf’s Bett. Mit Brummschädel, üblem Geschmack auf der Zunge und einer Fahne verließ ich am späten Vormittag das Zimmer und Christina sagte mir im Vorübergehen in verhalten mißbilligendem Ton, ihr Bruder habe kotzen müssen, „was hast du denn mit ihm gemacht?“ Ich stand also unverdient unter Verführungsverdacht, was meine Laune nicht besserte. Sie nahm es wohl als selbstverständlich an, ihr kleiner Bruder, hätte ich ihn „rumgekriegt“, hätte danach kotzen müssen. Jedenfalls traute sie mir eine solche Unternehmung zu; na dann. „Gar nichts“, raunzte ich genervt, „er hatte vermutlich zuviel Whisky intus.“ Ich wünschte in diesem Augenblick erst recht, ich hätte etwas „gemacht“.
Einige Wochen danach, langsam wurde aus dem heißen Rekordsommer ein warmer Herbst, brachte Christina mir übrigens drei Fläschchen original mexikanischen Tequilas von ihrer Lateinamerika-Reise mit; irgendwie – durch A. vermutlich – hatte sie mitbekommen, daß ich während des Sommers neben anderem auch Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ las; in dem der versoffene Konsul mehrfach feststellt: „Etwas Schwächeres als Mesqal würde nichts nutzen.“ In Ermangelung echten mexikanischen Mesqals schluckte ich also diese Tequila-Flaschen leer, und eines Abends klopfte es an meiner Tür und Bernd H., damals noch in Tübingen wohnhaft, der gelegentlich nach Biberach zu den Eltern kam, trat ein. Er kannte das Zimmer, er hatte zwei Jahre zuvor in ihm gewohnt. Er sah die Wand über meinem Schreibtisch hinauf, ob das Einschußloch, das er in einer unruhigen Stunde mit einer Pistole produziert hatte, noch zu sehen war. Ich hatte seine Existenz längst vergessen; aber da ich das Zimmer nicht renoviert hatte, als ich einzog, die Rauhfasertapeten und die Zimmerdecke nicht gestrichen hatte, bei welcher Gelegenheit das etwas ausgefranste Loch in der Wand oben mit einem halben Spachtel voll Gips unsichtbar geworden wäre, war es noch da. Ich stellte ein zweites Gläschen auf den Tisch und wir machten uns zu zweit über das goldgelbe Gesöff her. Es half tatsächlich nicht sehr.
- Heiß, schwül; im Laufe des späten Nachmittags setzte ein schwacher Regen ein, der allmählich stärker wurde. Himmelsverdüsterung. Zwei-, dreimal Gewittergrollen, aber ein Unwetter blieb aus.
1.August 2002

30
Jul

Bild: Peter Waibel

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Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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