24
Apr

24.4.2002

Im Jahr 1972 stand in beiden deutschen Staaten der Kalte Krieg in nicht mehr ganz so voller Blüte. Den Kalten Kriegern der BRD, die keine warmen Brüder sein wollten, war aber eben das ein Dorn im Fleische, sozusagen. Willy Brandt, der seit 1969 Kanzler war, hatte mit seiner Neuen Ostpolitik, unter die die Deutschlandpolitik rubriziert war, gegenüber DDR und Sowjetunion, welche die damalige politische Weltrealität zumindest anerkannte, die Wut nicht nur der parlamentarischen Rechten, deren nicht einmal übelster Protagonist der CDU-Fraktionsvorsitzende Dr. Barzel war, herausgefordert. Auch rechte SPD- und FDP-Abgeordnete waren mit dem Kurs von Brandt und Bahr nicht einverstanden, sprangen hurtig zu den Bänken der CDU hinüber. Die Mehrheit der ersten sozialliberalen Koalition schwand dahin, die Opposition beantragte ein Konstruktives Mißtrauensvotum gegen den Kanzler, am 24. April 1972. „Brandt muß weg!“, lautete die haßerfüllte Absicht. Auch im Bund der Vertriebenen des Kreises Biberach dachte man so, wie ich mich gut erinnere. Brandt sollte gestürzt, Barzel Kanzler werden. Die Umfragen im Bürgervolk zeigten, daß die Sympathie des Wahlvolks bei Brandts Politik lagen. Bei der Abstimmung am 27. April hätte dieser Versuch, die veränderte Politik gegenüber „Pankow“ und „Moskau“ zu stoppen, 249 Abgeordnetenstimmen auf seiner Seite haben müssen. Es kamen 247 zusammen. Dr. Rainer Candidus Barzel hatte eine Niederlage erlitten, der Kandidat hatte zwei Punkte zu wenig. Die CDU, die sich des Ausgangs der Abstimmung zu ihren Gunsten sicher gewesen war, konnte es kaum fassen: zwei Verräter in ihren Reihen hatte sie! Das Verfassungsinstrument des Konstruktiven Mißtrauensantrags war zum ersten Mal überhaupt im Deutschen Bundestag angewandt worden und hatte schon gefloppt. Der „Barzel-Putsch“, wie der Vorgang nicht nur von denen, die für Brandt auf die Straße gegangen und in Warnstreiks getreten waren (das gab es damals noch!), genannt wurde, war gescheitert, am 17. Mai 1972 wurden, nach einigem Hin und Her, zwischen den Parteien und den Regierungen der BRD, DDR, UdSSR, das zwischen beiden Terminen noch einige politische Rangiermanöver erforderlich machte, die Ostverträge im Bundestag ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich in der Welt neu verortet.
Das alles las ich in meinen Zeitungen während der Bundeswehrzeit, aber die dort alltäglich werdenden Beanspruchungen überlagerten das Interesse an diesen Schach- und Winkelzügen der BRD-deutschen Politik. Außerdem konnte mir wurscht sein, welche der bürgerlichen Parteien, zu denen selbstredend die SPD dazugehörte, den imperialistischen Klassenstaat im Auftrag des Großkapitals regierte; auch für die SPD hatte ich nichts übrig. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ – an diesen hübschen, wiewohl nicht besonders elaborierten Reim denke ich zuweilen, wenn ich in der Halle der U-Bahn-Station am Rosa-Luxemburg-Platz, gar nicht sehr weit von diesem Schreibtisch entfernt, auf den nächsten Zug warte und die collagenartig angebrachten Wandillustrationen, die Szenen aus der Novemberrevolution 1918 schildern, betrachte, und mir aus der Alltäglichkeit, in der sich für mich schon dieser Ort, dieser Platz, befindet, heraus plötzlich bewußt wird, wer diesem Platz seinen Namen verlieh. Brandt hatte bei mir wegen seines Kniefalls im ehemaligen Warschauer Ghetto, 1970, einen bescheidenen Bonus. Den er wieder verspielte, als er, der Demokratiewager, den Radikalenerlaß verkündete. Diesen Erlaß hoben sie dann auch wieder auf; als ihnen die Revolutions- und Indoktrinationsgefahr gebannt schien; nach all den Idiotien, die RAF und Rote Zellen angerichtet hatten, die die linke Politik, die eine solche Charakterisierung noch verdiente, vollkommen desavouierten. Aber die Ereignisse des Frühjahrs 1972 führten zu einem Patt im Bundestag, Neuwahlen wurden angestrebt, am 20. September stellte Brandt die Vertrauensfrage. Die Mehrheit der Abgeordneten verweigerten ihr Vertrauen, die Mannschaft der Regierungskoalition war der Abstimmung fern geblieben. Der Bundestag wurde aufgelöst, am 19. November 1972 wurde gewählt, mit 91 Prozent Wahlbeteiligung. (Das gab’s nur einmal, das kommt nicht wieder.) Diese hohe Wahlbeteilung führte sich auf den hochemotionalen Wahlkampf zurück, der die Gemüter bewegt hatte. „Willy Brandt muß Kanzler bleiben!“ So kam’s ja dann auch, 45,8 Prozent für die SPD; damit wurde sie zum ersten Mal die stärkste Fraktion im Bundestag. Eine neue Ära, die siebziger Jahre der sozialliberalen Koalition, hatte begonnen.
- „Bedeckt“, wie’s in der Wettervorhersage heißt; man erwartet immer, daß es regnen würde, aber es regnete nicht.
24.4.2002

23
Apr

23.4.2002

Ich war zurück in Biberach, begoß meinen 21. Geburtstag und kümmerte mich wieder um die SDAJ-Gruppe. Die DKP mußte im Bundestagswahlkampf unterstützt werden. Im Juni `72 hatte ich im mit Wandzeichnungen des vormaligen Gymnasiasten geschmückten Souterrainzimmer von Uli W., der an jenem Wochenende im elterlichen Haus gewesen war, den Aufnahmeantrag unterschrieben, der mich dann zum Mitglied der orthodox marxistischen Partei gemacht hatte, die 1968 als Nachfolgepartei für die 1956 verbotene KPD gegründet worden war. Zu dieser Zeit war noch Kurt Bachmann Vorsitzender der DKP gewesen. Uli W., dessen linke Karriere als Anarchosyndikalist begonnen hatte, war nun überzeugter von der DKP-Linie als ich, der ich noch zögerte, den Schritt in diese Partei hinein zu tun, denn nicht alles an ihr behagte mir, meinte, nun sei die Zeit aber gekommen, um den vor einem guten halben Jahr gefaßten Plan, Biberach zu einer Ortsgruppe dieser Partei zu verhelfen, allmählich konkret werden zu lassen. Alles mußte damals in linken Kreisen, früher oder später, besser früher, “konkret“ werden. Ich las die Zeitschrift „konkret“ nicht regelmäßig. War ja auch immer eine Geldfrage. Sold, ein Nichts sowieso, bekam ich nicht mehr, einen Job machen wollte ich nicht; wie eigentlich konnte ich mich abends in den „Strauß“ setzen? Einmal in der Woche trafen sich die sieben oder acht Engagierten der SDAJ-Gruppe; solche Gruppen waren ja auch, überall, Orte einer „Freizeitgestaltung“, die einen höheren Sinn für sich beanspruchte. Denn natürlich entstanden aus diesem häufigen Zusammensein Freundschaften; die wurden aber nicht als solche definiert und verinnerlicht, sondern als solidarische Bindungen der Großen Sache zuliebe. Ein Gruß allerdings hieß: „Freundschaft!“. Ein anderer „Druschba!“ Man unterzeichnete Briefe und Hinweise auf das nächste Treffen – man kam in Gastwirtschaftsnebenzimmern zusammen, aber nicht ausschließlich – auch gerne einmal mit „Rotfront!“ Die geballte Faust konnte der Empfänger, sogar die Empfängerinnen, denn solche gab es zeitweilig auch, sie entfernten sich aber wieder schneller als Empfänger, sich dazu denken. Ich weiß nicht mehr, was alles besprochen und beschlossen wurde. Leider habe ich keine Unterlagen mehr aus jener Zeit, mit der Ausnahme weniger Exemplare des „Roten Bibers“ (der ballte seine Faust aber erst 1973 und 1974) und einiger Schriebe, Adressenkarten und Ähnlichem, einiger Thesenpapiere, gedruckt oder hektographiert auch, aus der Parteihierarchie, die hüte ich in meinem Archiv. Ich weiß aber, wo alles verblieben war; davon später. Und alles plaudere ich sowieso nicht aus, allein aus Diskretionsgründen, die vom halbkonspirativen Denken jener Jahre übrig geblieben sind. Ich war Berufsrevolutionär geworden und noch der einzige DKP-Mann im Ort, denn Uli W. gehörte einer Hochschulgruppe in Stuttgart an. Als beurlaubter Soldat fand ich das apart. De facto war ich kein Soldat, und noch kein Zivi. Ich war in ein Zwischenreich der Bürokratie und des Rechts geraten, wo ich wühlen und unterwandern konnte, gemäß Dieter Süverkrüps Zeile in seinem Song „Der Kryptokommunist“: „Und dann zieht der Kryptokommunist die Unterwanderstiefel an ...“ Apropos Stiefel: seit meiner Bundeswehrzeit blieb mir eine fetischistische Vorliebe für blank geputzte Springerstiefel erhalten, die ich aber mit schwarzen, nicht weißen ..., Schnürsenkeln binde. Ich trage solche Stiefel noch heute, jetzt, in diesem Augenblick, als Fünfzigjähriger. Ich finde, sie kleiden mich vorzüglich, obwohl Freunde seit eh und je darüber lästern. Letztes Jahr im Sommer, als ich, der ich seit meinem Besuch beim Friseur in Bayreuth nie wieder einen solchen aufsuchte – mit einer Ausnahme: nach dem Tod meines Erzeugers im August 1977 ließ ich mir, meiner Mutter einen Gefallen nicht ausschlagend, die damals sehr langen Haare etwas kürzen, für die Begräbniszeremonie – , langhaarig, in Stiefeln und angetan mit hellem Trench, von der U-Bahn-Station Bernauer Straße zu meiner Wohnung gegangen war und einen Berliner Mitpassanten mit Hund überholt hatte, hatte dieser seinem Köter laut und so, daß ich es hören sollte, gesagt: „Ledermann, der auf Trenchcoat umgestiegen ist.“ Mit der Lederszene habe ich doch gar nichts, trotz Lederjacke und Springerstiefeln, zu tun! Diese boots verleihen ihrem Träger aber, wie ich es in Bayreuth und drum herum zu schätzen gelernt hatte, einen festen Tritt; beim Gehen, auch sonst. Ich bereute es nie, mich an der Sammelbestellung meiner Stubenkameraden beteiligt zu haben. Freilich trage ich nun eine Nachfolgegeneration. So stand ich einmal, im Herbst 1972, vor dem Wieland-Gymnasium zu Biberach an der Riß in meinen hochgeschlossenen Stiefeln, deren Schäfte die hochgekrempelten Jeans frei ließen, mit einer Baskenmütze, an die ich einen roten Stern drapiert hatte, schräg auf den wieder wachsenden Haaren und verteilte SDAJ-Flugblätter an die Schüler, als sie mittags den grauen Kasten verließen, und konnte hören, wie einer von ihnen, das natürlich gut, weil von mir getextete Flugblatt immerhin nicht sofort wegwerfend, zu dem, der neben ihm ging, sagte: „Hosch du den gsea, en seine Stiefel? Oglaublich.“ Tja, so trat man zünftig auf, als Berufssozialist.
- Sonnentag, über den nachmittags große, fleckenweise dunkel schattierte Kumuluswolken zogen. Vor 18 Uhr ein Minutenregen, heftig, aus der Sonnenhelligkeit, einem Gewitterschauer ähnlich, danach anhaltend „schön“. In der Dämmerung Eintrübung.
23.4.2002

22
Apr

22.4.2002

Ich ging in die Schreibstube neben dem Hauseingang. Mit dem dort dienenden Schreibstubenhengst, einem Unsympath von Unteroffizier, hatte ich schon einmal, aber warum?, einen kleinen Disput gehabt. „Ich vermisse eine Zeitung, die UZ“, sagte ich, vor der Bürokratenbarriere stehend. Der Mann warf im Gehen zu einer Akte einen giftigen Blick herüber. „Die bekommen Sie nicht mehr!“, schnappte er. „Eine kommunistische Zeitung, in unserer Kaserne! Das ist unmöglich!“ Ich freute mich, gab es doch Gelegenheit, dem Kerl seine Grenzen aufzuzeigen. „Sie händigen mir jetzt, sofort, auf der Stelle, meine Zeitung aus, oder ich bin in einer Minute beim Chef!“ Haß trat in seine finsteren Augen. „Auf der Stelle!“ Ich schlug mit der Handfläche auf den Tresen. Mit verkniffener Miene bückte er sich und zog meine UZ hervor, knallte sie auf den Tresen. „Na sehen Sie, geht doch alles“, sagte ich ruhig und zeigte ein Sekundenlächeln. Vor Wut verstummt wandte er sich ab, ich schritt vergnügt fürbaß und riß das Streifband an diesem Vormittag mit neu empfundenem Widerstandsgenuß von der Zeitung. Während einer Übung im Feld, mit Schießübungen, hatte auch ich mit dem MG zu schießen. Das ist gar nicht so einfach, bedenkt man die Rohrwechselprozedur mit dem zweiten Mann, den jeder MG-Schütze neben sich hat, das Hantieren mit den Munitionsgurten dazu. Ich war dran. Ein voller Gurt wurde eingelegt, mit Munition „Ü“, das zweite Rohr lag bereit. Die MG-Stellung, das MG-Nest, erinnerte mich an Szenen in Spätwestern und in anderen Filmen. Jetzt durfte auch ich einmal, au ja, filmgerecht losballern, Django sein. Eingedenk dessen, daß Menschen zu töten, und das war ja der Sinn der Übung, staatserhaltend und u. U. sogar gottgefällig sei, wie viele anderen an jenem Ort, wenn nicht glaubten, dann das dachten, was man ihnen befahl – durfte ich mir da nicht auch einen Moment, in dem ich vorgab, von dieser gewünschten Einstellung nicht ganz unbeeindruckt zu sein, gönnen? Das Befohlene tun und es übertreiben, fällt das auch unter Subversion? „Etwas Schabernack muß sein“, dachte ich. Ich war am MG dran und zog den Abzug und hielt ihn mit gekrümmtem Zeigefinger fest, bis der ganze 100-Schuß-Gurt durch war. Es gab ein Mordgetöse. Der Rohrwechsler wollte mich aufhalten, ich kümmerte mich nicht darum. Mein Kampfgebrüll ließ die Prärie erbeben. Gleich einem olivgrünen aufgeschreckten Heuschreck hüpfte der Unteroffizier durch’s Gras heran. „Sind Sie von Sinnen?!“, brüllte er mir entgegen. „Wechseln Sie das Rohr, Sie Spinner!“ War es ausgeglüht, das gute Stück? Bis auf ein paar Patronen hatte ich die Munition durchgejagt. „Ich weiß auch nicht, was das war“, sagte ich treuherzig-verwirrt. „Es kam so... so über mich.“ Der Vorgesetzte schüttelte resigniert den Kopf. „Jäger, wechsle das Rohr, ich will sehen, wie’s da drin aussieht“, wies er den MG-Helfer an. Unter uns, ohne höhere Dienstgrade, waren wir inzwischen zur persönlichen Anrede, hin und wieder, übergegangen. Ich trat zur Seite, der Mann neben mir fummelte mit seinen Handschuhen das Metallteil aus der Mordmaschine.
Es gab Typen dort, die wollten Helden sein und führten sich entsprechend auf. Einer von ihnen blieb mir am lebendigsten vor Augen, weil er diesen Typus im Extrem und als Klischee verkörperte; vielleicht ist er inzwischen toter Held. Ein Stuffz mit scharfgeschnittener, ausgeprägter Killermaske, GI-Stoppeln auf der braunledernen Schädelhaut, mit dem Gehabe eines US-Marines; die waren seine Helden. Er war Einzelkämpfer. Er schwärmte vom Krieg in Vietnam und wie die Boys dort aufräumen würden. Er hatte, sofern ich nichts Falsches schreibe, die Befehlsgewalt über den dritten Zug. Er wollte killen, man sah es ihm an. Auf jener Übung, während der ich die MG-Nummer hatte, verlor er im Eifer des vorgetäuschten Gefechtes den Wirklichkeitssinn, als er einen seiner Leute, wg. lebensnaher Fesselung am Baum zum Zwecke fachmännischer Folterung, fast erwürgt hätte. Wir hörten davon, als wir in der Kaserne waren. Der Soldat war mit dem Schrecken davongekommen, als ein anderer Offizier der Sache ein Ende gemacht hatte. „Rambo“ hätten wir den Scharfgesichtigen genannt, hätte es den Film schon gegeben. In einer anderen Woche wurden wir im Zug zur Batallionsübung gekarrt; ein feuchter, grauer Morgen war’s, wir standen und hockten unausgeschlafen herum. Auch die Uffze und die Stuffze hatten den Abend zuvor gesoffen, auf Vorrat getankt, weil wir für ein paar Tage in ein offiziell trockenes Gebiet kommen würden. Einer der für uns relevanten Unteroffiziere, baumlang, stark wie ein Bär, wenig in der Birne, doch gutmütig meistens, hatte, wie ich registrierte, Zoff mit einem Vorgesetzten; vermutlich rügte der ihn wegen seines angetrunkenen Zustands, den man ihm ansah. Peng!, schon war die Fensterscheibe zersplittert. Der Besoffene hatte mit der Faust hineingeschlagen. Ein Urviech, ein Killer, wenn man ihn reizte.
Auf solchen Übungen schwirrte gelegentlich und rein versehentlich, und es war nicht die Regel, statt Ü-Muni echte herum. Jégé sand hort, im Nehmen hort.
Meine unscheinbaren Heldentaten der Widerständigkeit bei den Jégé waren Ende August 1972 beendet. Es war höchste Zeit. Langsam aber sicher war mir der Verein auf die Nerven gegangen. Ein Brief vom Rechtsanwalt, der ersehnte, traf ein. Er hatte beim Gericht einen Termin erwirkt, meine Sache wurde statt einer anderen, die ausfiel, verhandelt. Die Götter, die Olympischen, standen mir bei, auch Apollo, der Gott aller Dichtenden, Mars jedoch drehte sich um und erzürnte bitterlich. So sind die Höheren, sie plagen sich auch gerne gegenseitig. Ich bekam Reiseerlaubnis. Ich fuhr nach Biberach. Am nächsten Morgen nach Metzingen zur Rechtsanwaltskanzlei. B. und ich besprachen das Verhalten vor den Richtern. Ich sah aus dem Fenster. Unten vor dem Haus ging Dr. Bangemann mit zwei Köfferchen zum Auto. Im VW-Käfer des Anwalts Bansemer fuhren wir durch einen der schönsten Augusttage, heiß war er, nach Sigmaringen. Ich sah das Schloß. Ich wußte noch nicht, daß dort in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs die Vichy-Regierung in ihrem letzten Domizil untergekrochen war, Pétain hatte in jenen Hallen gehockt und gebrütet. Céline, der faschistische Dichter, war dort eine Zeitlang Logisgast gewesen, auf seiner Flucht durch das zerbrechende Nazireich. Ich sagte den Richtern, was ich zu sagen hatte. Ulrich Weitz, der aus Stuttgart, wo er Kunst studierte und politisch aktiv war, gekommen war, wurde als Zeuge meiner Glaubwürdigkeit vernommen, während der Anwalt und ich auf dem Flur warteten. Wir unterhielten uns über dies und das, über meine Zukunftspläne. Studieren. Was? Politologie. Wir wurden in den Saal gerufen. Das Urteil wurde verkündet, „im Namen des Volkes“ war ich berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Ich hatte gesiegt. Mein Anwalt war zufrieden, ich auch. Ich dankte ihm. Abrechnung etc. in absehbarer Zeit. Er und Uli fuhren zurück in ihre Orte, ich in meinen. Ich berichtete meiner Mutter von meinem Erfolg. Sehr einverstanden war sie mit all dem nicht, ihr wäre es lieber gewesen, wenn ich ein richtiger Soldat geworden wäre. Ich wußte das ja, konnte über diese Sicht der Dinge nur mit den Schultern zucken.
Ich fuhr nach Bayreuth. Ich hatte keinen Dienst mehr, aber die mit den Streifen und den Winkeln auf der Schulterklappe wußten zunächst nicht, ob ich das Zeremoniell noch mitmachen mußte. Also trat ich frühmorgens mit an, reihte mich unter die Kameraden ein, die staunten, wie man das macht, wie man fortkommt von diesem Laden. Wie ich da so stand, noch in Uniform, beim Morgenappell, kam der Hauptmann seitlich von hinten an mich heran und sagte: „Gratuliere.“ Ich wandte den Kopf und sagte: „Danke.“ Dann mußte ich nicht mehr antreten, auch keine Uniform tragen. Ich trat weiterhin an, um die Kameraden nicht einfach so im Stich zu lassen. Allerdings in Zivil. Das fand ein paar Mal statt, schließlich sagte der Zugführer milde: „Diedrich, nun bleiben Sie mal auf der Stube oder sonstwo, klar? Was wollen Sie denn noch hier?“ Ich lag auf meinem Bett und las Westernhefte, während die armen Buben sich über die Felder und durch die Wälder schleppten. Verschwitzt und verdreckt polterten sie in die Stube herein. Sie waren nicht neidisch auf mich, im Gegenteil, ich war in ihrer Achtung noch gestiegen. Nach einer Woche war das schriftliche Urteil im Stab angelangt. Ich wurde „ohne Geld- und Sachbezüge beurlaubt“; bis zum endgültigen Inkrafttreten des Urteils. Theoretisch hätte es in einer nächsthöheren Instanz weitergehen können. Daran verschwendete ich nicht viele Gedanken. Ich war mir sicher, sie würden es nicht mehr wagen. Sich eine weitere Abfuhr einzuhandeln wäre rufschädigend geworden, hätte schlechtes Beispiel gemacht, wie sie sich schon für den ganzen Vorgang keinen Orden verdient hatten. Ich gab mein Geraffel ab. Der ältere Mann in der Ausrüstungskammer schwatzte etwas von Vaterlandsverräterei. Ich ließ ihn schwätzen. Der Abschied von den Kumpeln war kurz. Ich machte, daß ich raus kam. An einem herrlichen Sommertag verließ ich die Kaserne zu Bayreuth für immer. Ich fühlte mich blendend. Das Haarnetz, übrigens, fand ich vor zwei Wochen in einem der Archivkoffer. Ich steckte es in eine Klarsichthülle, um es zu schonen, und legte es wieder hinein. Ich hatte es ab Juni `72 nicht mehr überziehen können, weil Schmidt den Erlaß aufgehoben hatte und ich doch zum Friseur, zu einem in Bayreuth, gegangen war. Auch mit kurzen Haaren war ich hübsch geblieben.
- Sehr sonniger, milder Frühlingstag.
22.4.2002

21
Apr

21.4.2002

„Anerkannt werden Sie doch nie“, sagte einer der Unteroffiziere, oder der Fähnrich, auf dem Schießplatz. „Warum überlegen Sie sich’s nicht und werden Zeitsoldat?“ Ich schüttelte den Kopf. Das war einer der Versuche gewesen, mich auf die andere Seite zu ziehen. Sie waren nicht zahlreich; zeigten mir aber, was sie von mir hielten, und ich faßte es als Kompliment auf. Sie faßten mich mit Samthandschuhen an. Ich hatte mit ihnen keine Probleme; mehr. Fast akzeptierten sie meine Haltung: Dienst nach Vorschrift, nicht mehr, nicht weniger, dafür das mit jener Ablehnung, die sie kannten.
Ich hatte Führungsqualitäten. Sie wollten mich ab und zu ein bißchen auf den Geschmack bringen. Der Stabsunteroffizier, für den Zug verantwortlich, kommandierte mich gelegentlich aus der Reihe: „Jäger Diedrich, führen Sie den Zug! Sie wissen ja wohin!“ Ich trat heraus, neben den dahin latschenden Zug, die Lücke in der Reihe wurde geschlossen, ich war kommissarischer Zugführer für `ne Viertelstunde, aber kein Politkommissar. Den gab’s nicht bei der Bundeswehr, nur auf der anderen Seite. Die Jungs kannten das schon, wenn ich schrie: „Liiinks um!“, oder „Reeeechts um!“, oder „Zwoter Zuuug halt!“ Das „um!“ oder das „halt!“ stieß ich umso kürzer aus, je länger das „Liiiinks ..“ oder das „Reeeechts ...“ gezogen worden war; eher verstümmelt, ein Grunzlaut. Es war, das beabsichtigte ich jedenfalls, versteckt parodistisch; manche im Zug feixten tatsächlich. Der Stuffz marschierte irgendwo daneben und tat so, als bemerkte er es nicht. Sehr häufig kamen solche Szenen aber, auf meine letzte Zeit dort angerechnet, nicht vor.
Übrigens hatte ich ziemlich gute Schießergebnisse. Einmal, nicht damals, als ich mir den erwähnten Vorschlag durch den Kopf gehen lassen sollte, und er ging dort ja auch, bis zu der Stelle, an der er in einem Erinnerungsneuron verschwand und blieb, lobte mich einer der Dienstgrade, der neben mir hockte, denn man schoß ja im Liegen, dafür, ich gab ihm zu verstehen: „Na ja, vielleicht kann ich’s noch mal brauchen.“ Ich konnte sehen, wie ihm das Kinn runterfiel. Er wußte, was ich meinte. (Es gab in jener seltsamen Zeit – seltsam schon deshalb, weil kein Rekrut von heute, übrigens auch kein Kriegsdienstverweigerer, sich vorstellen könnte, mit Haarnetz sei man bei der Bundeswehr, und innerhalb dieser in einer Art special force, einer Kampfeinheit, in der das perfektioniert wird, herum gesprungen; überhaupt hat sich seitdem viel verändert, nur eben nicht so, wie vor dreißig Jahren erhofft, auch wenn schon zu erahnen war, daß auch solche Hoffnungen zum Willen zur Irrationalität zählten – junge Genossen in der DKP, die zur Bundeswehr gerne wollten; die nicht im Namen des Herrn, wie auch noch zu meiner Zeit mancher Feldprediger dem Panzerfutter mit dem Oberbegriffsnamen „Infanterist“ in nicht mehr so offenen Worten wie zu Wilhelms und Adolfs Zeiten, eher gewundener, weismachen wollte, sondern im Parteiauftrag unterwegs waren, in die imperialistische Armee. Viele waren es nicht, einige von ihnen marschierten dann nicht nur dort, sondern in Uniform auf linken Demos vorneweg, damit jede Kamera sie einfangen konnte. Dafür erhielten sie anschließend, wg. Verstoßes gegen das Soldatengesetz, Disziplinarverfahren, denn es ist nicht erlaubt, in Uniform auf Veranstaltungen von Parteien zu erscheinen. Ob die höheren Ränge, die dekorierten, das auch so hielten?) Diesem Dienstgrad neben mir, dem sich der Mund öffnete, ohne daß er etwas hätte sagen wollen, war nämlich bekannt – das war der background seiner Verblüffung, sein Etappenwissen sozusagen – , wie ihnen allen, die mit mir zu tun hatten, daß ich die „UZ“, Zeitung der DKP, regelmäßig bezog. Daß ich inzwischen, ab Juni 1972, Mitglied dieser Partei war, war ihm jedoch nicht bekannt. Ich marschierte nicht in Uniform draußen auf Demos. (... Außerdem hatte die RAF schon mit ihrem unseligen Treiben begonnen.) Eines Tages im frühen Sommer war ein Exemplar dieser im Streifbandzeitungsversandverfahren verschickten Zeitung bei mir nicht, wie bisher üblich, wie das andere Blatt, auf der Stube angekommen. Ich vermutete etwas.
- Frühjahrssonnenschein. Nur selten Verschattungen. Mild.
21.4.2002

20
Apr

20.4.2002

Es wurde wärmer, allerdings, auch auf meiner Stube, in der Hitze einer Nacht. Im Schlaf, wenn er nicht sehr fest ist, spürt man oft, wenn etwas um einen herum nicht ganz stimmt, etwas vorfällt, von dem man besser erfährt, was es ist, und dadurch erwacht. Eines Nachts im Sommer schlug ich die Augen auf; Gezischel und Getuschel hatte mein nicht völlig abgeschottetes Bewußtsein wohl vernommen, Geräusche, die für die Stube ungewöhnlich waren. Ich bemerkte, wie drei der Kameraden neben dem zweistöckigen Bettgestell standen, etwas gebückt, und flüsterten und kicherten. Ich richtete mich auf. Erschrocken blickten die Kameraden auf. Sie grinsten aber, wiesen nach unten. Ich sah von oben auf das untere Bett. Die lieben Kameraden kicherten wieder. Unser Stubengefährte auf seinem unteren Bett, ein Bauernbub, etwas schüchtern, unauffällig, ein normaler Soldat, ohne höhere Bildung (...), unkompliziert, lag auf seiner Pritsche und gab kleine Laute von sich, offenbar im Schlaf. Seine Schlafanzughose, privates Modell, hatten die anderen ihm heruntergezogen, bis auf die Knie, sie spielten abwechselnd mit seinem halbsteifen Schwanz, kicherten. Ich schwang mich vom Bett und stand daneben, ungläubig. Der junge Soldat auf seinem Bett seufzte. Tat er nur so, als schliefe er, oder kam sein Seufzen wirklich aus dem unbewußt empfundenen Lustgefühl? „Das könnt ihr nicht machen“, sagte ich halblaut den anderen. Sie vergnügten sich mit diesem Bauernnbubenschwanz. Nie hätte ich sie dessen für fähig gehalten. „Man lernt nie aus“, sagte ich mir, stumm. Dann erwachte der so Liebkoste, oder tat so. Die drei vor mir kicherten wieder. Er sah an sich hinunter, lächelte. Er lächelte. Er war wirklich großzügig; oder er hielt das, was geschehen war, für nicht der Rede wert; oder er hatte es genossen. Er zog die Schlafanzughose über sein Glied und drehte sich um, schlief noch `ne Runde. Die anderen und ich verkrochen uns auch in die Betten; solo. Nie wurde die nächtliche Begebenheit zum Thema.
- Bis zum Nachmittag angegrautes Licht. Dann zeigte sich das des Sterns. Es zog sich vor dem Abend zurück und überließ das Firmament den von Osten eindringenden dunkelgrauen Wolken. In der Dämmerung graublauer Himmel.
20.4.2002

19
Apr

19.4.2002

Ich konnte mich aber beherrschen, wie ich mich stets beherrschte. Während mehrtägiger, mehrnächtlicher Übungen lagen wir zu zweit in kleinen Zelten in verschiedenen Wäldern. Mir war aber nicht romantisch zumute, den Typen neben mir, wie ich sie inzwischen kannte, auch nicht. Wir fluchten oft, aber mit Ironie. Einer von den beiden aber, die ich erwähnt, aber nicht beschrieben habe, nicht sehr hübsch, aber irgendwie etwas weich im Wesen, wäre wohl zu haben gewesen; für Sekunden, die vorübertickten, geriet ich in Versuchung. Es wäre unter uns geblieben, natürlich, das spontan Unnatürliche. Andere Male, während der vier Wochen im „Steinwald“, mitten im Bayrischen Wald, während der längsten Übung, die wir je hinter uns brachten (in meinen Monaten), dort im ehemaligen Hotel, das als Ausbildungslager diente, lag ich in einem Ehebett mit ihm; wir waren Partner, was die Schlafplätze anging..., das war nicht unerotisch, womöglich empfand er ebenso, obwohl er, natürlich, die übliche Freundin hatte, zuhause, lästerte unser kleines Stubendickerchen: „Die liegen zusammen wie Schwuuule!“ Ich konterte kühl. „Wenn du wüßtest, Dicker“, dachte ich. Ich war der in-offizielle Gruppenführer, wenn ich das hier schreiben kann, ohne daß ich eines SS-Jargons geziehen werde. Die Jungs hörten auf mich.
Dem Dicken trug ich dann, so menschen- und kameradenfreundlich war ich in jenen Jahren, aus lauter Mitleid über längere Strecken, als wir 120 Kilometer heimwärts vom Wald nach Bayreuth marschierten, sein Kampfgepäck, seine Knarre nahm einer aus der Gruppe zu seiner dazu; ich schleppte sein „Geraffel“ über die Brust geschnallt, denn im Rücken hing mein eigenes. Herrliche Hügel humpelten wir hinauf und hinab. Wir trugen die Sachen des Dicken, weil wir vorankommen wollten. Er schnaufte uns lamentierend hinterher. Nach zwanzig Kilometern hatten wir offene Blasen an den Füßen; daran waren wir gewöhnt. Wir gingen nur weiter. Die Socken steckten, von Schweiß und Blut getränkt, in den Springerstiefeln, die wir nie auszogen; das war der Trick dabei. Wir hätten sie nicht mehr drüber bekommen. Wir latschten als Gruppe solo nach Bayreuth. Ich hatte die Karte, unser Kräftigster trug das Funkgerät; zusätzlich zum sonstigen Gepäck, das sein Gewicht hatte. Das G3 war mir so vertraut, als trüge ich einen Stecken durch’s Land. Unteroffiziere waren nicht dabei, wir mußten den Weg ohne sie finden; Teil der Übung. Nach zwei oder drei Stunden übernahm ein anderer das Zeug vom Dickerchen, so wechselten wir uns ab. Drei Tage benötigten wir, um Bayreuth nahe zu kommen. Ich machte dann noch einen Kartenfehler und schickte meine Jungs ein paar unnötige Kilometer mehr herum, vielleicht, weil’s so schön war. Schönes Wetter war ja. Wir schwitzten schön. Aus dem Funkgerät kam schließlich: „Verdammt, wo seid ihr?! Die anderen sind schon da!“ Ich sah auf der Karte nach – oha. Die Jungs waren nicht gar so sauer, sie verziehen mir, schon deshalb, weil uns aufgrund der Verspätung ein Fahrzeug abholte. In der Kaserne zogen wir ächzend die Stiefel aus. Ende dieser Schilderung.
Das passierte mir im Juli 1972. Erst nach sechs Wochen, im Mai, hatten wir zum ersten Mal Heimaterlaubnis erhalten. Fünf Wochenenden waren wir, in zivil, in Bayreuth herum gelungert. Ich besah mir die Stadt, die in mir keinen Eindruck hinterließ, trotz Wagner. Ich blieb an Wochenenden sogar in der Kaserne, las und trank Bier auf meiner Pritsche, ging in die Kantine. Keiner wollte etwas von einem. Ich lernte andere Gesichter aus anderen
Kasernenbereichen von denen in unserer Kompanie zu unterscheiden. Es war öde. Post kam aus Biberach, Ch. G., den alle nur „Kiki“ nannten, schrieb Postkarten, vielleicht zwei, berichtete, wie die Dinge in der SDAJ-Gruppe standen und welche Aktionen vorgesehen waren. Kiki war nett. Ein großer, schlaksiger Junge, damals noch in einer der letzten Gymnasiumsklassen (Wieland-G.), mit halblangen blonden, ein wenig strähnigen Haaren, vollen Lippen, die er über den weißen Zähnen spöttisch schürzte.
Sein Lachen war nett und kippte gern in eine etwas höhere Stimmlage, deshalb: Kiki. Ich schrieb zurück, gab meinen Rat zu den Plänen dazu. Ich wurde körperlich fit. An einem Freitag im Mai fuhr ich nachmittags von Bayreuth nach Biberach. Abends kam ich an. Den Samstagabend verbrachte ich zwischen neugierigen Genossen im „Strauß“. Am Sonntag nach dem Mittagessen fuhr ich zurück. Die Fahrten kosteten nichts.
- Heute das Wetter ähnlich dem gestrigen. Dünnes Sonnenlicht vormittags, dann Eintrübung, zwischendurch wieder Sonnenlicht. Es wird wärmer.
19.4.2002

18
Apr

18.4.2002

Heiter ging’s weiter, beim „Bund“, manchmal. – Nach den verbalen Geplänkeln mit Dienstgraden lief nun auch der Dienst für mich richtig an. Ich marschierte, meistens „in der Gruppe“, durch die Landschaft um Bayreuth, wurde mit MTWs – gepanzerten Mannschaftstransportwagen – herumkutschiert, zu Übungen an der frischen Luft am Tag und in den Nächten. Winzige rote Pünktchen über Gras: ich rauchte mit den Kameraden in ruhigen Minuten, in ruhiger Stellung, Zigaretten, wir tranken manchmal Bier, das wir uns besorgten oder der Unteroffizier. Drückte mich, so gut es ging, und oft ging es, vor’m Schwimmen in Hallen. Schoß mit dem G3 auf Pappkameraden. Einmal pro Monat gab’s „Nato-Alarm“, es wurde der Ernstfall geprobt, der damit begann, daß ganz schnell der Spind, in dem man seine sieben Sachen hängen und liegen hatte, leer geräumt und sein Inhalt in See- und Rucksäcke verstaut werden mußte. Regelmäßig bekamen wir Rekruten am Abend zuvor einen verklausulierten Tip vom Unteroffizier. Gerüchte machten die Runde, die, wie wir dann wußten, ihren Wahrheitskern hatten. Mein Problem waren die Zeitungen, die ich dann los werden mußte. Ich bezog im Abo, an die Bundeswehr-Adresse, die „Frankfurter Rundschau“ und die „UZ“, Zeitung der DKP. Ich kaufte die „Zeit“ außerhalb der Kaserne, in ihr gab es sie nicht, die „Rundschau“ natürlich auch nicht. Von der Existenz einer „UZ“ hatte, bevor sie wegen mir in der Schreibstube ankam, kein Insasse dieser Kaserne eine Ahnung. „Bild“ und „Welt“ und ein örtliches Blatt gab’s. Das Papier war bei Alarm lästig. Ich stopfte es einmal, weil ich aus irgendwelchen Gründen keine Zeit gehabt hatte, es zu vermüllen, in meinen Seesack, zum anderen Zeug. Der kam zu den anderen Seesäcken, die wurden vor dem Gebäude aufgehäuft und wurden an einen geheimen Ort gefahren, an den, der auch für uns geheim blieb. Das geheime Örtchen – mit bald installiertem Donnerbalken im Gebüsch nebenan (wirklich ein Balken über einer ausgehobenen Grube, über der man den Arsch balancierte) – lag dann in einem Wald der Umgebung, denn im Wald, da sind nicht nur die Räuber, sondern auch die Jäger. Aus solchen Angelegenheiten wurden mehrtägige Übungen. Wir krauchten durch’s Unterholz und suchten den Feind, mit Tarnen und Täuschen vertraut. „Jégé sand hort! Im Geben hort, im Nehmen hort!“ Das war der Ruf zum Schlachten. Jégé: Jäger; im Dialekt der Gegend. Mit grimmiger Belustigung an meiner Perversion brüllte ich den Ruf und beobachtete das Tier, das sich in mir regte. Abends schüttelten wir Langhaarigen, aber bald nicht mehr, den Kopfschmuck aus dem Netz.
Zapfenstreich in der Kaserne war um zehn oder elf. Manchmal rotteten wir uns zu fünft oder sechst zum Diskobesuch in Bayreuth zusammen. Wir hockten um die Biergläser herum. Ich trank auch schon mal einen Whisky, den ich nicht vom Sold zahlen konnte. Aber ich hatte etwas Geld mitgenommen. Um sechs Uhr morgens kam der Uffz herein und brüllte, wir schlichen zu den Duschen. Danach Appell auf dem Gehweg vor dem Kasernengebäude. Der Tag wurde aufgeteilt. Wir marschierten, stapften über den Kasernenasphalt, hin und her, rannten mit Gasmasken durch schlecht belüftete Straßenkampfszenerien und quälten feuchte Wiesen mit unseren Stiefeln. Alles ausgiebig.
„Lauft nicht auf wie die Warmen!“ schrieen die Dienstgrade. Ich grinste wieder, innerlich. Dieser beliebte Spruch sollte heißen: rückt dem Vordermann nicht zu nah an den Arsch. Gab es Schwule in der Kompanie, im Zug, in der Kaserne? Zwei Gesichter, nicht unhübsch, meinetwegen drei, aber auf keinen Fall mehr, waren dabei, deren Inhaber schienen mir empfänglich für’s Thema zu sein. Einer aus Geislingen. Mit ihm zusammen fuhr ich einmal, im Sommer, per Daumen von Bayreuth nach Ulm, weil der Dienst eines Freitags zu spät geendet hatte und der Zug weg war. Ein anderer, von weiß Gott woher. Ich forschte bei beiden nicht nach, weder im Dienst noch außerhalb. Mein Auftreten war ziemlich männlich; auch sonst im Leben übrigens, trotz, wegen, feminin wirkender Züge. Auch bei der Bundeswehr war ich hübsch.
- Zwischen den grauen Wolken tanzten immer wieder, aber in Stundenabständen, Sonnenstrahlen hervor. Alles in allem bedeckt, hin und wieder Frühlingshelligkeit. Ca. 12 Grad Celsius.
18.4.2002

17
Apr

17.4.2002

Über Genet las ich da und dort in den Feuilletons der frühen Siebziger, aber so richtig interessiert war ich an diesem Autor nie. Sartre hatte ihn in den Fünfzigern, Sechzigern unterstützt, ihn als Schriftsteller, eher: Dichter, aus einer nicht gesellschaftsfähigen Ecke an’s Licht gezogen; gemeinsam mit Cocteau beim französischen Staatspräsidenten seine Begnadigung erreicht; wußte ich im Jahr 1971, oder ’72. Elian Feuchter-Uhl, die seit den Tagen des Republikanischen Clubs zu meinem Freundeskreis gehörte, eine Freundin war, wie sie Schwule haben, ohne Schwulenmutti zu sein, das war sie nämlich ganz und gar nicht, obwohl sie natürlich für das Thema ein aufgeklärtes Verständnis hatte, hatte mir öfter von Genets Stücken, „Der Balkon“, „Die Zofen“, erzählt, aber eher so nebenbei. Wenn ich mich nicht irre – ich denke jetzt aber nicht an Jack Hawkins –, hatte sie, irgendwann Ende der Sechziger in Düsseldorf, wo sie einmal Schauspielunterricht genommen hatte, in einem dieser Stücke auch gespielt; aber dafür würde ich nun nicht meine Hand ins Feuer legen. Sie war mittelgroß, trug die schwarzen kräftigen Haare sehr lang, bevorzugte Röcke, die ihre ein wenig stämmige Figur gut kleideten, war interessant-gutaussehend, aber nicht in der banalen „hübschen“ Weise, hatte Intelligenz und eine spitze Zunge, wenn es ihr geboten schien. Wir hatten uns schnell angefreundet und saßen oft, nach meiner Bundeswehr-, während der Zivildienstzeit (über beide gibt’s noch etwas zu lesen), aber hauptsächlich danach, im „Strauß“ und in anderen Biberacher Lokalen zusammen; sie war dann die Hausherrin über die Karpfengasse 24, als sie mit Freunden und Bekannten dort in der ersten Phase dieser Wohngemeinschaft, bis etwa Sommer 1975, wohnte. Eine prägende Persönlichkeit, und sie so zu bezeichnen ist berechtigt, der Siebzigerjahre-Szene in Biberach an der Riß.
Genet war Sartre damals gerade recht gekommen, um an ihm seine Philosophie etwas zu schärfen. Eigentlich beeindruckte mich Sartres Lob über Genet und dessen schwuler Außenseiter- und Knastliteratur nicht. Ich las es, vergaß es; ich müßte in den Büchern nachsehen, wollte ich hier darüber referieren, was langweilig wäre. Soll jeder, den es angeht, selber tun. Aber irgendwann in der ersten Hälfte der siebziger Jahre las ich doch „Notre-Dame des Fleurs“; ich glaube, das Buch war sogar in der Biberacher Stadtbücherei auszuleihen. Genets Literatur, die sich nicht nur mit dem Schwulsein begnügt, ist sicherlich etwas vom Ehrlichsten und Eindringlichsten, und ich lasse dieses Wort stehen..., auch das Wort „stehen“... , was das Genre der Homosexuellenliteratur hervorbrachte, aber mich sprach es nicht sehr an. Natürlich stand mir da wieder die Moral ein bißchen im Weg. Was ich las, fand ich aufschlußreich und exotisch, aus einem gesellschaftlichen Raum kommend, für den man als Linker Sympathien zu haben hatte, der mich dennoch wenig anging, wenngleich einer wie ich sich freilich immer heimlich und fast unhörbar für sich selber flüstern mußte, daß man sehr wohl nicht davor gefeit war, entweder aus politischen oder sexuellen Gründen eines Tages im Kittchen zu landen; aber sehr wahrscheinlich war das bei mir nicht, dazu war ich nicht abenteuerlich genug drauf. Ich kann mich aber schon einmal an einem hübschen Jungen erfreuen, rein platonisch, versteht sich, aber selbst das kann einen doch sehr unvermittelt rasch in den Ruch des Kinderschänders bringen; damals war das Thema auch nicht gerade einfach. Doch meine Liebe gehört dem jungen, meinetwegen sehr jungen Mann; der aber kein Kraftprotz sein darf, so käme einer wie Querelle nicht in Frage – seine Abenteuer sah ich mir 1982 oder 1983 in Faßbinders Film an. Den Roman von diesem Mörder- und Matrosen-Helden, so er einer ist, und ich denke schon, daß er einer ist, hatte ich nie gelesen; habe ich bis heute nicht, nur wenige Seiten, denn als die Stadtbücherei Mitte der neunziger Jahre ihre Bestände neu sortierte und vieles hinausbeförderte, da nahm ich auch dieses Taschenbuch an mich, ohne daß ich das Bedürfnis, es zu lesen, gehabt hätte. Nun lehnt es sich an das „Tagebuch eines Diebes“, ebenfalls von Jean Genet, an. Das las ich zu Beginn der Achtziger. Das ist alles, was ich von diesem Dichter kenne. Einige seiner politischen Ansichten gefielen mir. Hatte nicht Hubert Fichte Interviews mit ihm gemacht? Müßte ich nachsehen, aber der Text, der fortzuschreibende Text, wird mich nicht lassen. Mehr fällt mir zu Genets Einflüssen auf mein Leben jetzt nicht ein.
- Der Tag begann mit zögerndem Sonnenschein, verdüsterte sich für Stunden, bekam nach 17 Uhr noch einmal helles Sonnenlicht, das rasch von Regenwolken verdrängt wurde. Abends fiel ein bißchen Regen, über längere Zeit.
17.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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