16
Apr

16.4.2002

Gestern ist auch der Todestag von Sartre und Genet gewesen. Sartre starb 1980, Genet 1986. – Sartre las ich im Sommer nach dem Abitur, 1971. Aus einem Grund, der in einer Diskussion im Deutschunterricht gelegen hatte, war der Versuch unternommen worden, im letzten Schuljahr einen freiwilligen außerschulischen Arbeitskreis für die Sartre-Lektüre einzurichten, der jedoch nach zwei Treffen, für die wir uns im „Rebstock“ an der Consulentengasse eingefunden hatten, abgebrochen worden war. Der zu bewältigende Schulstoff und das herannahende Abitur hatten den drei oder vier Mitschülern – Hildegard ist als Mitschülerin in diesem Kreis schon mitgezählt, mein Nebensitzer Willi F. war auch dabei – dieses anstrengende Zusatzlesen als nicht zu schaffen erscheinen lassen. Ich nehme an, ich war dann der einzige, der nach dem Ende der Schuljahre doch zu Sartre griff, allerdings nicht zum philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, nur zu den Stücken. Nun fällt mir ein, daß Willi F. es gewesen war, der ein besonderes Interesse an diesem philosophischen Großtext geäußert hatte, warum auch immer, und das der Grund für den Versuch einer gemeinschaftlichen Lektüre gewesen sein dürfte. Ob er in der Zeit nach der Schule zu Sartre griff, ist mir nicht bekannt. Wir trafen uns in diesen Jahren zwischen 1971 und 1982 nur sehr selten, im Abstand von einigen Jahren, jeweils; ich hatte die eigene Beschäftigung mit S. schon längst vergessen. Als wir uns dann im Sommer 1982 begegneten und uns in der im Untergeschoß des Gebäudes befindlichen Diskothek „Take Five“ an der Schrannenstraße, die es seit Jahren nicht mehr gibt, über das, das uns seit der letzten Plauderei widerfahren war, unterhielten (er war schon jahrelang im Schuldienst), sagte ich ihm, in alkoholisierter Euphorie, mir würden die Knie vor Erregung zittern, wenn ich meinen Lover sähe (Till), und er verzog etwas indigniert das Gesicht. Er fand es womöglich nicht angebracht, überhaupt solche Schwulitäten und dann auf solche Weise, die doch sehr harmlos war, zu erzählen. Es wäre ihm wahrscheinlich lieber gewesen, er hätte nichts davon erfahren. Da hatte er also drei Jahre lang neben einem Schwulen gesessen und nichts gewußt. Hatte diese späte Erkenntnis ihn gestört? Jedenfalls sah ich ihn nie wieder, und wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander gehabt.
Im Sommer 1971 saß ich im Garten vor dem Lindelestraßenhaus, auf der quadratischen Rasenfläche, die zwischen den Beeten vor dem Haus und den sie umlaufenden schmalen Wegen auf der einen Seite und den Himbeersträuchern vor dem Gartenzaun auf der anderen von meiner Mutter Ende der fünfziger Jahre angelegt worden war, auf der ein nicht sehr hoher Obstbaum Schatten warf. Dieses Rasenstück gehörte zu unserem Teil am Garten, zu dem, den meine Mutter und ich benutzen durften, wie es mit dem Hausbesitzer S. und den Mietern im Hochparterre abgesprochen war. Wir hatten ein paar Gartenmöbel im Stil der Zeit, eine Liege, Sessel mit roten und blauen Plastiksträngen als Sitz- und Lehnflächen zwischen dem weißen Rohrgestänge, dazu ein zusammenklappbares Tischchen mit einer Resopalplatte. In einem dieser Sessel saß ich, das Tischchen vor mir aufgebaut, auf ihm stand eine gut gekühlte Flasche Bier. Die Sonne schien. Ich trug eine dünne weiße Tenniskappe mit einem schmalen grünlichen Schirm auf dem langhaarigen Kopf. Das Sartre-Buch, das ich las, mit allen Stücken darin, hatte ich mir in der Stadtbücherei ausgeliehen. Es war dick. In der Ausleihfrist von vier Wochen war ich durch. Sartres Begriff der „engagierten Literatur“ stand damals, in der APO-Zeit und danach, hoch im Kurs. Auch ich zählte mich schon, obwohl erst ein paar Beginnertexte in der Schublade lagen, zu den „engagierten Schriftstellern“. Dabei war das, was ich schrieb, keinesfalls linksengagiert, in dieser „Prosa“, in den Rezensionen sah es anders aus, sondern von experimentell-surrealistischer Literatur beeinflußt. Und ich versuchte mich an Science Fiction-Stories, experimentell aufgeblasen. Sehr viel entstand, weder vom einen noch vom anderen, nicht. Erst in den ein und zwei Jahren danach begann auch ich, die Parteilichkeit der Literatur einzufordern. Für die Science Fiction Times verfaßte ich einen ungemein kämpferisch-überzeugten Aufsatz, in dem ich diese "Position“ hart marxistisch-orthodox, dem Sozialistischen Realismus verpflichtet, verfocht und alles Experimentelle, das besonders, zum bürgerlichen Schund warf. Sogar Maos Große Proletarische Kulturrevolution erwähnte ich, Unwissender, lobend. Daran mag ich nicht denken, auf solche Fehler bin ich nicht stolz. (Diesen Aufsatz schrieb ich, es kann sein, 1971? Ich hielt mich nicht an die eigenen Maximen.) Nach diesem Sommer interessierte S. mich nicht mehr. Seine Philosophie, den Existentialismus, hielt ich für bürgerlich, trug aber, im „Strauß“ und anderswo, einen schwarzen Rollkragenpulli; so wie heute. Später verkaufte S. „La Cause du Peuple“, die maoistische Sektiererzeitung, auf den Straßen von Paris. Das war mir verdächtig. Aber zu dieser Zeit war ich nicht mehr linksengagiert, beobachtete freilich diese Szene weiter. Ich hielt nie etwas von den westlichen Maoisten; da die meisten von ihnen nicht viel später, in Frankreich am offensichtlichsten, zu Renegaten und zur Rechten hinübermutierten, einige sogar die „Nouvelle Droite“ bildeten, die mit demselben Furor, mit dem ihnen zuvor nichts zu links sein konnte, alles Linke und den Marxismus insbesondere verdammten und „überwanden“, hatte ich mal wieder recht bekommen. Als S. am 15. April 1980 gestorben war, diskutierte ich das im „Alten Haus“ in Biberach, der Kneipe, die ab 1977 nach dem „Strauß“ mein Stammlokal geworden war, mit Thomas G., einem meiner Freunde, der in Sartres Philosophie nicht so bewandert, aber von seiner zweifellos bedeutenden Persönlichkeit und Ausstrahlung, noch einmal durch seinen Besuch bei den RAF-Häftlingen in Stammheim aufgefrischt, fasziniert war. Und viele folgten ja auch dem Sarg.
- Ein eher grau zu nennender Tag; die Wolkenschicht probierte delikate Abtönungen von Grau über den Straßenkerben aus.
16.4.2002

15
Apr

15.4.2002

Ausgerechnet an Musils Todestag habe ich befürchten müssen, daß sein Roman mich heute nicht inspirieren würde, aber dann bin ich doch tatsächlich zu Beginn des Kapitels 114 auf sein Wort vom „Seelenplunder“ gestoßen, das hat schon einen schwachen Impuls gegeben; dazu kam, daß Musil die Zeitbestimmung “Siebzigerjahre“ damals so schrieb, wie sie seit der verstümperten und auch gar nicht notwendig gewesenen Rechtschreibreform – die, wenn überhaupt etwas, dann eine Deformation der deutschen Sprache ist, an der inzwischen selbst ihre Einpeitscher, uneinsichtig zwar, aber vom Desinteresse des schreibenden Volkes, wenn ich das so schreiben darf, ohne dabei auf eine eher unangebrachte Nebenbedeutung in Sachen „Volk der Dichter und Denker“ geschielt haben zu wollen, zu einlenkenden Maßnahmen, durch die Macht des faktischen Nichtgebrauchs, veranlaßt, verbissen-vergrätzt rückbauend wirkeln – zu schreiben sein soll; das kann mich fast davon überzeugen, „Siebzigerjahre“ statt, wie auch in diesem Text bisher vorgekommen, „siebziger Jahre“ für angebracht zu halten. Aber ich werde mir das noch überlegen. Sollten also in den weiterführenden Abschnitten „Sechziger-, Siebziger-, Achtziger-“, wohl auch noch „Fünfziger-, Neunzigerjahre“ nicht zu vergessen angezapft werden, statt „sechziger Jahre“ etc., dann aus diesem Grund. Und dieses eventuelle Vorhaben bedenkend, hat nun schon diese Zeilen hervorgebracht. Und wenn mir gerade heute nichts eingefallen wäre, und ist mir denn bis zu diesen Wörtern schon etwas eingefallen, was meine Erzählung weitergeführt hätte, sind denn diese Wörter nicht nur so, in Verlegenheit wichtigerer, aus dem Kopf heraus gefallen? – wäre das dann nicht auch bezeichnend, wenn einem am Todestag eines solchen Schriftstellers die Worte fehlen würden? Man borgt sich ja immer so vieles von anderen (Schriftstellern) und würfelt ein wenig mit den Wörtern, die andere längst benutzten, herum, wirft sie dann auf’s Papier und ist dann doch erstaunt darüber, daß sie auch noch etwas von einem selbst, von meinem Selbst in diesem Fall, im Fall der von mir ausgeliehenen Würfelwörter, sagen können; wenn jemand – ich benutze dieses unbestimmende Wort, um bestimmte Geschlechtlichkeit zu vermeiden – es versteht, diese stummen Krakel auf Papier und Glasflächen, mit seinen Gedanken verbunden, in sie hereingeholt, zum stummen Sprechen zu bringen. Ich habe mich heute eigentlich noch mit dem gestrigen Gedankenzug befassen wollen, mit Sex und allem, was Sie schon immer von meinem nicht wissen wollten, weil Sie nichts von mir wußten, in Tagen, in denen Sie das hier nicht in der Hand hielten, und auch meine Freunde und Bekannten sollten sich nicht einbilden, sie kennten mich so gut, daß ich sie damit nicht auch meinen würde; nun, nachdem ich klargestellt habe, daß das Erotische in meinem Leben zu kurz kam und demzufolge in dieser Ansammlung von Zeilen, die Sie unverständlicherweise noch immer lesen, mit falschen Hoffnungen – ich warne Sie! –, nicht den Stellenwert einnehmen kann, der mit einiger Berechtigung zu erwarten gewesen wäre, erst recht nicht mehr wollen. Aber ich werde mich noch etwas darüber ausjammern, und wenn ich Sie dann damit ein bißchen befriedigen kann – bitte sehr. Heute ist aber nicht der Tag dafür. Heute vor sechzig Jahren starb Robert Musil an einem Hirnschlag. Ich zitiere Franz Bleis Text, der auf dem Literaturkalenderblatt dieser Woche steht.
„Heute, wo man geneigt ist, in einem erfolgreichen Versammlungsredener einen Gottgesandten und Mystiker zu erblicken und entsprechend zu verehren, ist die Intelligenz etwas durchgefallen und gilt nicht viel. Man hält weit mehr von der Inspiration, ohne zu bedenken, daß man auch falsch inspiriert sein kann, wie nicht nur der Umstand der vielen schlechten Gedichte zeigt. Solcher Zeitneigung ist Musil „viel zu intelligent“, zumal „für einen Künstler“, dessen Wesentliches nach solcher Zeitmode eine qualifizierte Dummheit zu sein scheint, was ja auch in der Anerkennung Hauptmanns als repräsentativen Dichters dieser Zeit seinen Ausdruck findet. Aber eben deshalb, weil die Intelligenz nicht ein ganz hinreichendes Instrument der Erkenntnis ist, gerade deshalb, müssen wir sie gebrauchen als die einzige Fähigkeit, die wir besitzen und der jene Vernunft eigentümlich ist, abzudanken vor anderen Kräften, deren Mitarbeiterin sie wird. Die Intelligenz ist das alleinige Maß der Tiefe, die an sich keine Dimension ist. Aber die Tiefe, theoretisch unendlich, wird erst ein Wert durch das Licht der Intelligenz. Tiefe ist: bis wohin das Licht reicht.“ (Franz Blei, Robert Musil, 1940, in: Literaturkalender 2002, 35. Jahrgang, Aufbau-Verlag GmbH Berlin, 2001)
- Regen. Noch immer spätwinterlich kalt.
15.4.2002

14
Apr

14.4.2002

Abenteuer kann ich hier nicht bieten, erotische schon gar nicht. Mein Leben verlief langweilig. Traurig aber wahr. Was soll ich tun? Nun ist es zu spät. Soll ich mich grämen? Wie in vielen Jahren? Ich kann nur noch eines tun: rekapitulieren, was und wie das so alles kam. Doch glücklicher werde ich damit nicht. Was soll das hier? Warum schreibe ich das? Aus Eitelkeit, hieß es an früherer Stelle. Eitelkeit ist ein Charakterfehler, der von Dummheit zeugt. Eitelkeit ist versteckter Stolz? Oder was ist sie? Es gibt ja Leute, die wollen zeigen, daß sie sich ihrer selbst so sicher sind, daß sie auch ihre Fehler und Mängel zugeben wollen. Wenn man stolz wird auf sein Mißlingen, dann wird es – was? Gefährlich oder lächerlich? Das Lächerliche an sich, an seiner Person, zugeben zu können, ist diese Eitelkeit, die ich wohl meinte. Ich stehe zu meinen Unzulänglichkeiten, das ist wohl der Satz, der hier gelten soll. Was bin ich doch toll, daß ich nicht befürchte, das könnte mir schaden? Ich glänze schön im Licht meiner Selbstkritik. Ist es so? Ich fürchte, so ist es.
Lächerlich war alles schon, also sollte ich in komischer Verzweiflung fortfahren? Mich nicht mehr blicken lassen, fort fahren? O liab’s Herrgöttle vo Biberach! Aber die Sache mit dem Sex war wirklich immer ein Problem. In diesem tragikomischen Konflikt (mit mir selbst vermutlich!) besetzt das Tragische den größeren Anteil. Aber wie komisch, das auch noch tragisch nennen zu wollen! Im Grunde ist das alles nur komisch; von einem komischen Vogel, der kaum zum Vögeln kam, einigermaßen unkomisch belabert zu werden. Unfreiwillig komisch vielleicht, und das kommt ja im Leben vor, häufiger. Der Stolz auf die Fehler. Leider nicht: Laster. Ich war zum Heiligen geboren? Keusch. Den höchsten Idealen zugetan. Gerechtigkeits- und Wahrheitsliebe. Sonst keine Liebe. Höchstens platonische. Der platonische Eros. Der pädagogische Eros. (Daß ich unterrichtete, Literatur: davon später. Hatte aber mit Eros nichts zu tun.) Meine Eitelkeit ist auch diese: zugeben zu wollen (o confessiones!), kaum Sex gehabt zu haben, in einer Gesellschaft, die von der heuchlerischen Tabuisierung des Geschlechtlichen zur nicht weniger entfremdeten – wenn’s erlaubt ist, auch noch mit diesem Terminus zu langweilen – Werbesendungsexualität überging. (Womöglich mag ich Houllebecqs Literatur nicht, weil ich eine Figur aus seinen Romanen sein könnte?) „Ohne GV verkaufen Sie keinen Roman.“ Hat das mehr oder weniger öffentliche Ficken die private Bettgymnastik befördert, beschädigt? Man diskutiert’s. Soll man. Soll man nicht? Es gibt ja inzwischen diese Keuschheitsbewegung, junge Menschen vögeln nicht vor der Ehe. Ob hetero, ob homo. Ich war ein Heiliger, als junger Mann, oder Tor, und litt wie einer; in sündiger Welt. Nun kann das außer mir niemand beurteilen; und das ist auch gut so. Ich will nichts erfinden. Deshalb bleibt das Thema schwierig. Ich war „theoretisch“ schwul, ab 1974. Ich war Schwuler für etliche der Biberacher Szene, die keine schwule war. Ich war rücksichtsvoll. Ich hätte haben können, glaubte aber, ich stünde darüber. Er stand mir oft. Ich nahm Gelegenheiten nicht wahr. War ich blöd. Das war’s für heute.
- Neblig, fast schon, gegen Abend, regnerisch.
14.4.2002

13
Apr

13.4.2002

Ich hatte drei Jugendfreunde, die das Wort verdienten; alle anderen waren zweite Reihe. Helmut K., Heinz-Wolfgang B., Tilmann F. In dieser Reihenfolge der Bedeutsamkeit; ab jetzt schreibe ich ihre Vornamen aus. Warum sie in der Anonymität der Initialen lassen? In meinem Leben waren sie nicht anonym. Auch schwule Männer hatten in ihrer Jugend Freunde, die nichts dafür konnten, daß ihr Freund, eines schönen Tages, schwul war, und der Tag, an dem mir das klar war, war nicht schöner oder häßlicher als alle anderen, denn nichts Dramatisches hatte sich ereignet, in der Gedankenwelt nicht und in der, die das umgebende Leben ist, erst recht nicht, denn für Jahre wußte das doch keiner; und auch meine Freunde nicht, diese beiden nicht (denn Tilmann war noch ein Freund der Kinderzeit gewesen) und die anderen nicht, von denen es nur sehr wenige gab und die in meiner Jugend keine wichtigen Rollen spielten. Das blieb alles schön bei mir. Und es stellte überhaupt keine Schwierigkeit dar, diese Selbsterkenntnis für sich zu behalten. Ich war nie der Typ, dem der Mund überfloß. Eines Tages, oder, das schildert diesen sehr langsamen, sogar kaum bewußt vollzogenen Gefühlsbildungsprozeß und die damit einhergehende Weltbetrachtung genauer, stellte ich mit einer Selbstverständlichkeit, die solche Feststellungen häufig an sich haben, fest: „Du magst Jungs.“ Das erstaunte mich nicht im geringsten, beunruhigte mich in keiner Weise. Nie unternahm ich einen Versuch, eine Anstrengung, diese Formierung der Gefühle zu verdrängen oder zu verleugnen; mir selbst gegenüber nie, und anderen gegenüber nur einmal: Meinem Freund Heinz-Wolfgang, „Lupo“ von seinen Angehörigen gerufen, wie ich es oft aus dem Garten nebenan hörte, gegenüber, als er mir einmal, im Hinabgehen der Treppe von der Wohnung im Lindelestraßenhaus, sagte: „Du kuckst ja so komisch.“ Da sagte ich kühl, und das war eine Reaktion, die zu denen, die man eine automatische nennt, gehörte, ohne es eigentlich nötig gehabt zu haben, das zu sagen: „Ich bin nicht schwul.“ Und ich war etwas erstaunt darüber, warum er das gesagt hatte, denn ich war mir keines „Fehlers“ bewußt, und scharf auf ihn war ich sowieso nie gewesen. Auf Helmut übrigens ebenso wenig. Nicht einmal pubertäre Spielchen gab’s. Was waren wir für brave Jungs. Aber ich sagte das und ärgerte mich sofort darüber. Nicht weil ich gefürchtet hätte, Heinz-Wolfgang würde nun annehmen können, daß sein Anfangsverdacht vielleicht doch seine Berechtigung gehabt haben könnte, das war mir egal, sondern eben wegen dieser Reflexantwort, deren Bedeutung für mein Innenleben mir schon in den zwei Sekunden des Aussprechens der vier Wörter bewußt wurde. Ich hatte es nicht gut genug unter Kontrolle, und dieses „es“ in mir wollte eventuell, daß ich einmal von ihm, diesem Etwas, ein wenig hinauslasse. Heinz-Wolfgang kam danach nie auf diesen Augenblick in meinem siebzehnten Jahr zu sprechen. Ich war auch ärgerlich, weil ich ihn angelogen hatte, was in all den Jahren, in denen wir befreundet waren, davor und danach, nie vorgekommen war. Damals, 1968, 1969, war die Zeit der Schwulenemanzipation noch nicht gekommen, in der unsereins so mir nichts dir nichts hätte zugeben können, gleichgeschlechtlich „veranlagt“ zu sein. Und ein Geschlechtsleben hatte ich, mit der Ausnahme der autoerotischen Betätigung, nicht. Die sexuelle Revolution war zwar im Anmarsch, so richtig erreicht hatte diese Umwälzung mich aber nie. Ich verhielt mich als Gymnasiast völlig normal; zu normal, zu desinteressiert an den fleischlichen Gelüsten, denen heterosexuelle Jugendliche sehr wohl erlagen. Ich hatte keine Lust, im wörtlichen Sinn, mich mit Problemen, die sich aus den in einer kleinbürgerlich-konservativen Umgebung als abnormal geltenden Lüsten zwangsläufig, wie mir klar war, ergeben hätten, herumzuplagen; so stark war mein Sexualtrieb nicht, daß das unbedingt hätte riskiert werden müssen. In sexuellen Angelegenheiten war ich stets viel vorsichtiger als in politischen, das ist mir (leider) geblieben. Ich war sehr vernünftig, wollte unangenehme Erklärungen, natürlich zunächst meiner nervenkranken Mutter gegenüber, erst einmal noch nicht abgeben. Und andere hatte das nichts anzugehen. Ich wollte ernst genommen werden, auch meiner sich allmählich herausbildenden linken Ansichten zuliebe. Einige Jahre danach waren die Verhältnisse schon andere. Ende der Sechziger jedoch wurden mir auch aus diesen Gründen, Gründen des Stolzes auch, der Situationen einer möglichen Demütigung gar nicht erst zuließ, die beschränkten Umstände eines Kleinstadtlebens deutlicher. Damals litt ich nie an unerfüllten Sehnsüchten. Das kam später. Die ganze Sexualität oder Libido, in meinem Fall die schwule, hatte nahezu unbemerkt die unteren Etagen des Gedanken- und Gefühlshaushalts bezogen und sich im Lauf der Zeit dort eingerichtet, eine Hausbewohnerin, die sich unscheinbar gab, dennoch etwas ungewöhnlich war, noch – noch – nicht störte, sich ruhig verhielt, bei gelegentlichen Begegnungen aber zu verstehen geben konnte, daß ihr die Rechte, die ihr gestatteten, hier auf Lebenszeit bleiben zu können, gut bewußt waren. Sie zeigte sich in den beiden letzten Schuljahren manchmal in der Schule, sehr zaghaft, als einer meiner Mitschüler, ein netter, fröhlicher, um ein Jahr Jüngerer, mein verborgenes Interesse auf sich zog, von dem er nie erfuhr.
- Das Wetter ist vom Grauen voll.
13.4.2002

12
Apr

12.4.2202

Gestern, in das allmähliche Aussinnen der gestrigen Darlegungen zwischen der Buchlektüre und dem Anruf von Manfred Schmidt, der ja fast keinen Tag oder eher Abend verstreichen läßt, ohne mich aus Biberach anzurufen, ist plötzlich ein Geräusch in meine Gehör- und Gedankengänge eingedrungen, das ich in Berlin bisher, in drei Jahren, nur sehr selten hörte: das Fluggeräusch eines „Düsenjägers“. Ist dieses Wort noch im Sprachgebrauch? „Düsenjäger“ – das waren, vor allen anderen militärischen Strahlflugzeugen (ein Flugzeugbauer würde jetzt wahrscheinlich die Stirn runzeln, aber technisch war ich noch nie sehr versiert), und größere und zivile Flugmaschinen wurden mit diesem Wort nicht bezeichnet, die Starfighter der Bundeswehr, die, um deren Beschaffung durch den CSU-Boß und Verteidigungsminister F.J. Strauß, Urheber auch der „Spiegel-Affäre“ im Jahr 1962, ein Mann, der „lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ sein wollte und der das deutsche Parlament der Demokraten belog und gehen mußte, sich wenig Lorbeer, dafür ein nicht ganz unbeachteter Skandal wand. Das wußte ich natürlich nicht, in der Mitte der sechziger Jahre, als das Dröhnen hoch in den blauen oberschwäbischen Lüften mit dem Knall endete, in dem diese Maschinen die Schallmauer durchbrachen. Der Luftraum über Oberschwaben war immer Übungsflugraum gewesen; bis im Jahr 1983 solch ein Ding, jedoch keiner der „Sternenkämpfer“ – hallo Sci-Fi; diese Flugzeuge wurden in respektlosen Kreisen auch gerne „Erdnägel“ genannt, weil sie die eigenartige Neigung, sozusagen, hatten, sich unvermittelt in die Erdkruste zu bohren –, sondern ein Exemplar eines anderen Fabrikats auf den Biberacher Stadtteil Birkendorf hernieder krachte und ein Wohnhaus zerlegte. Biberacher wurden dabei allerdings – o liab’s Herrgöttle vo Biberach! – nicht getötet, der nichtbiberacherische Pilot meines Wissens auch nicht. Nach diesem Unfall wurde, denn immer müssen ja nach solchen Zwischenfällen die Ängste der murrenden Bevölkerung für einige Wochen oder gar Monate eingeschläfert werden, und dafür störten die Knallereien, mit denen Mach 1 erreicht wird, verständlicherweise, der militärische Flugverkehr über der Region ausgesetzt, dann eingeschränkt erlaubt, bis sich der Unmut im Alltag auflöste wie der Kondensstreifen hinter einem Jet. Das langgezogene, durchdringende, mal lautere, mal in höheren Höhen leisere, mal dumpf orgelnde, mal pfeifend sirrende Geräusch, das mit diesen wenigen Adjektiven noch längst nicht hinreichend charakterisiert ist, aber jeder, diejenige und derjenige wenigstens, die und der ihre und seine Jugend, und wenn es nur die Jugend war, in Oberschwaben, meinetwegen auch in anderen Alt-BRD-Landstrichen, verlebte, hat dieses Geräusch im Ohr; es war ein typisches jener bundesrepublikanischen Jahrzehnte der Sechziger und Siebziger. Mit diesem Geräusch steigt in mir das erstgenannte aber plastischer auf als das zweite; das „Düsenjäger“-Kreischen ist für mich ein Ton der Sechziger.
In ein paar der Nachmittage jener Zeit, die mir im Nachdenken als eine noch behaglich-unaufgeregte in den Erinnerungen erscheint, worin auch dieses beruhigende adoleszente Gefühl des Zuhause- und Beisichseins, mit seinem sanft und lang schwingenden, doch unhörbaren Grundton, der noch, gerade im Erinnern, durch die Körperzellen summt, seine Wirkungen tut, saß ich mit meinem Jugendfreund Helmut im Eßzimmer seines elterlichen Hauses, im ersten Stock, aus dem der Blick über den sanft abfallenden Garten – in dem der Unfall mit dem Ast geschehen war – zum älteren Haus ging, nach Süden, Richtung Stadtmitte, von der freilich nichts zu sehen war, wo wir uns die Zeit nach der Erledigung der Hausaufgaben mit einem Kartenspiel vertrieben, in dem man auf gewisse Weise, an die ich mich nicht mehr entsinne, verschiedene Flugzeugtypen, vor allem Jetflugzeuge, zusammen bekommen mußte, um eine Runde des Spiels gewonnen zu haben. Und Starfighter waren auf diesen Karten auch abgebildet. An solchen Nachmittagen in der Mitte der sechziger Jahre, nicht nur an grauen Tagen, von denen Biberach reichlich hatte, und in den Herbsten konnte die Stadt ein rechtes Nebelloch sein, spielten wir auch oft Monopoly, wobei ich regelmäßig verlor. Aber ich glaube, das steht hier schon irgendwo.
- Heute schien der Tag eine einzige lange Minute zu sein, so unverrückt stand das Grau über allem. Aber manchmal wurde eine der weißen Blüten im Hinterhofgärtchen bewegt.
12.4.2202

11
Apr

11.4.2002

Den ganzen Tag über habe ich auf die richtige Minute, in der ich zu schreiben beginnen würde, gewartet. Vorhin, nach achtzehn Uhr, habe ich den „Mann ohne Eigenschaften“ wieder zur Hand genommen, in dem ich seit einigen Tagen, seit der Seite 545, nur wenige Zeilen voran las. In diesen Tagen hat das Buch, wie seit Monaten, immer aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch gelegen, und ich habe es höchstens ein paar Mal etwas hin- und hergeschoben, um Platz beispielsweise für das Telefon zu machen, das ich mir zum Telefonieren vom großen Tisch an der Wand gern auf das Tischchen hole, um bequem im Chefsessel sitzend plaudern zu können. Als hätte ich gewußt, daß mich das Weiterlesen sofort im Schreiben fortfahren lassen würde, habe ich es mir aufgespart für heute, denn ich habe nicht an den Schilderungen meiner Bundeswehrzeit weiter schreiben wollen, vorerst; ich habe zwar schon zu einer Fortsetzung des Gestrigen angesetzt – „Ein Jahr später schob ich schon seit zwei Monaten Tag für Tag einen länglichen Karren mit tiefer Ladefläche“ –, jedoch ein Szenenwechsel scheint mir heute angebracht zu sein, auch, um mir das eine oder andere Anekdötchen klarer werden zu lassen. Prinzipiell will ich mich aber bei den Berichten über jene Monate nicht allzu lange aufhalten. Ich habe mich also vorhin wieder in die Überlegungen Paul Arnheims, des Großindustriellen in Musils Roman, im Kapitel 112 eingeklinkt und dann auf Seite 548 festgestellt, daß dort steht: „Dieser Mann [gemeint ist der Protagonist Ulrich] besaß noch unverbrauchte Seele: da es sich um eine intuitive Eingebung handelte, hätte Arnheim nicht genau angeben können, was er damit meinte; aber irgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, sodaß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen.“ Dies zu lesen hat mich vorhin gefreut und nun zu flüchtigen Grübeleien über den von mir skizzierten Begriff des „Seelenfortschritts“ (den ich gar nicht mehr bemühen wollte) veranlaßt. Mich erfreut im Augenblick das Zusammenspiel der intuitiven Vorgänge; der in meinem Kopf und im Manuskriptabschnitt am 4. April und der im Kopf von Arnheim auf Seite 548 des Buches, ein Zusammentreffen von zwei Ausgestaltungen derselben Gedankenbildungsart, sozusagen die Überlagerung dieser Gedankenbildungsart durch sich selbst in einer etwa zweiundsiebzig Jahre alten Ausgestaltung; wenn auch, besieht man sich die Inhalte dieser Ausgestaltungen, nicht unbedingt deckungsgleich. Man könnte ja untersuchen, wenn es denn dieser Nebenbeibemühung lohnte, ob sich Arnheims Ansicht, die Seele löse sich in jedem Menschen in die Faktoren Verstand, Moral und große Ideen auf, wobei, obwohl ihm dies so explizit nicht einfällt, anzunehmen wäre, die Seele existiere dann eben in diesen Bestandteilen weiter, mit dem Begriff des Seelenfortschritts zusammenbringen ließe; denn gerade weil die Seele, so wie sie dieser Großkaufmann und -schriftsteller offenbar für gegeben hält, in jene Teilmengen zerfällt, und man kann sich noch eine andere, die Erinnerung, die größte eigentlich, die die anderen umfaßt und in sich aufnimmt, wiederum, wenn man den Vorgang genau betrachtet, denken, entwickelt sie, in diese Partikel separiert und transformiert, wieder Anschubkräfte, die den Menschen, der sie in sich trägt, auf seinem ungewissen Weg ein Stückchen weiter nach vorn schieben. Sollte hier ein Fragezeichen gesetzt werden? Verstand, Moral, große Ideen sind ja geblieben und dürften, so ist zu vermuten, gewisse Wirkungen hervorrufen, nur eben nicht als die ungeteilte Einheit, die sie als Seele waren. Wobei uns Musil auf dieser Seite, zu dieser Stunde in Arnheims Leben, nicht verrät oder andeutet, was diese Auflösung der Seele verursacht; Präsens hier, sofern dieses Ereignis noch heute in den Menschen stattfindet. Aber es sei ja, wie Arnheim überlegt, ein aktiver Akt, jeder Mensch löse seine Seele in die genannten Bestandteile auf; so wäre zusätzlich zu fragen, warum er das überhaupt tut, aus Laune oder Notwendigkeit. Im Augenblick würde das aber noch weiter nebenan führen. Es wäre, dies doch, auch zu ergründen, ob die Seele in solcher Faktorengestalt nicht besser zu steuern wäre (vielleicht ist das einer der Gründe für das aktive Auflösung der Seele). Ersetzen wir die Faktoren durch Vektoren, so wird uns diese Überlegung vielleicht eingängiger. Mit einer kompakten, ganzen Seele käme ihr Träger unbeholfener durch’s Leben? An dieser Stelle könnten wir uns doch eine Ankopplung mit dem „Seelenfortschritt“ vorstellen; oder nicht? Seelenfortschritt sei Bewußtsein, das sich durch die Anreicherung mit den nicht ganz erklärlichen Elementen – Arnheims „Elementen“, Ulrichs „Elementen“, um korrekt zu sein, wird ein toter, bloß mechanischer, eben seelenloser Zustand bescheinigt – der Non-Rationalität, wie Ahnen, verschüttete Gefühle, Glückserwartung, Intuition und andere, erweitern würde, war die Hypothese auf einer der Seiten vor dieser. Die Beschäftigung mit den Bestandteilen der zerlegten, nicht völlig „aufgelösten“ Seele brachte die Erinnerung als einen möglichen dieser Faktoren oder Vektoren in die Erörterung; inzwischen könnte es fast so sein, als sei sie das wichtigste von diesen Einzelteilen, das alle anderen in sich aufnimmt, wo sie ein Gerangel um den besten Platz veranstalten, und eben dieses Gerangel in der Erinnerung, diese Energie, treibt den Menschen um und verhilft ihm zu neuen Handlungen und Taten oder sogar Unterlassungen, weniger Bereicherungen, par example. Eine so fortgeschrittene Seele, somit fortschrittliche, dürfte dann jederzeit den Anspruch für sich erheben, ein erweitertes und verändertes Bewußtsein zu sein. Seelenfortschritt, wenn wir darunter eine sich erweiternde Veränderung eines Bewußtseins annehmen wollen, wird, um abschließend zu konklusieren, scheinbar wesentlich von der Erinnerungskraft begünstigt, die wir aufgrund des Vorigen als eine Teilkraft der sich auflösenden Kompaktseele verstehen dürfen, in der sich die anderen Kräfte wie Verstand, Moral, große Ideen verfangen und bekämpfen, woraus eine neue Gesamtkraft erzeugt wird, die, neueste kosmologische Denkmodelle könnten hier als Analogie hinzugezogen werden, eventuell eine neue, erweiterte, veränderte Gesamtseele hervorzubringen imstande wäre. Erinnerung bewirkt Seelenfortschritt.
Es ist doch bemerkenswert, wie der Unterscheid zwischen gelesenem und gelebtem Leben im Lesen des selbst aufgeschriebenen eigenen Lebens eingeebnet wird, und schon sind wir auf der planen Fläche, auf der sich die Fiktion mit der Wirklichkeit (aber welcher), irrlichternd einander umspielend, verspiegelt; sogar im Aus- und Verrutschen.
- Wie ein alter grauer Topfdeckel lastete die Wolkenschicht auf der kalt brodelnden Stadt. Dann gleißte über den Dachfirsten die Abendsonnenhelligkeit als ein großer Fleck auf, aus dem eine Atmosphärenlandschaft aus zartem Blau und eilenden Kumulus- und Zyrrhuswolken wurde.
11.4.2002

10
Apr

10.4.2002

Ich war nicht der einzige, der nach Weiden verlegt wurde. Ein paar andere Burschen aus der 2. Kompanie sprangen mit mir vom Lastwagen, als der im Innenhof dieser Kaserne gehalten hatte. Sie hieß „Ostmark-Kaserne“, wie in Adolfs Zeiten, das stieß mir schon mal unangenehm auf. Hier war die Demokratie der BRD noch nicht angekommen, schon gar nicht in der Truppe, das sah man auf einen Blick, der an den alten Gemäuern entlang streifte und die Visagen der Uffze und Stuffze (Stabsunteroffiziere) und Leutnants prüfte. „Ostmark“ – so hieß im Nazireich das alte Kakanien.
Wir stellten uns in der gewünschten Linie auf, die Dienstgrade bauten sich vor uns auf, darunter ein fetter Oberst mit Schweinsäuglein im geröteten Gesicht, der in meine Gedanken als „Schweinchen Dick“ Einzug hielt.
„Sie, Sie, Sie und Sie gehen zum Frisör! Sie haben bis siebzehn Uhr Zeit dafür!“
Ein unfreundliches Willkommen. Die anderen Langhaarigen waren nach dem „Wegtreten!“ ebenso wenig erfreut wie ich; zumal mit dem Frisör der in der Kaserne und keineswegs einer vor den Toren derselben, in einem eventuell etwas verstaubten Lädelchen an einer der unbekannten Straßen des Provinznests gemeint war, und wir uns vorstellen konnten, wie dieser Soldatenfrisör mit unserem gepflegten Haupthaar verfahren würde. Überhaupt – dieser Ton. Im Vergleich zu ihm hatten sich die Vorgesetzten in Bayreuth geradezu zivilistisch geäußert, obwohl man auch dort zu verstehen bekommen hatte, nicht im Kirchenchor angekommen zu sein. (Wie dort die Gepflogenheiten sich darstellten, darstellen, weiß ich allerdings nicht.) Gemaule um mich herum, Empörung, einsetzende Trauer um die Mähnen. Denn in jenen Tagen des Frühjahrs 1972 galt noch der „Haarerlaß“ – eine wundervolle Eingebung des Zeitgeists und seiner revolutionär-friedensbewegten Anti(amerikanischen)kriegshauptströmung, die sogar ein Löchlein – und es war wie wundersam gewesen – in den Betonköpfen der Militärs – nein, dort nicht, sondern in den zugegeben zeitweilig nicht ganz so zugezimmerten und von den anhaltenden Prostesten und Unmutsäußerungen der Nach-APO-„Bewegung“ verunsicherten SPD-Politikern fand. Die, diese Politiker, wollten ja mehr Demokratie wagen und hatten sich – auch ein blindes Huhn findet dem Sprichwort zufolge einmal ein Korn – in dieser Bemühung vielleicht pflichtschuldigst der demokratischen Grundrechte des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entsonnen und sich deshalb vorstellen können, daß man auch mit langen Haaren Menschen töten kann, wie die Geschichte, die berühmt-berüchtigte, jedenfalls ihre Schreibung, ja genug Beispiele vorführt. Aber das Stroh, von dem auf der Hardthöhe zu Bonn am Rheine stets viel vorhanden war und das dort ständig gedroschen wurde und wird – in unseren Jahren haut man ab und zu aber tatsächlich zusätzlich auf Köpfe ein, wenn auch zunächst nur auf ausländische in Asien und anderswo vermutlich auch, auch ein demokratischer Fortschritt –, das wurde, es war dies nur ein unbedeutender Anteil an der Gesamt-, ja Überproduktion, im Juni 1972 dazu benutzt, dieses Löchlein abzudichten, was der damalige Bundesverteidigungsminister und nachmalige Bundeskanzler Schmidt besorgte, als er den „Haarerlaß“ aufhob.
Aber so weit sind wir noch nicht. Die anderen maulten und kamen nach 17 Uhr von diesem Frisör zurück. Ich ging am frühen Abend in die Waschräume und wusch meine langen Haare, die, vom Haarnetz, unter dem sie als hübscher Dutt eingepackt gewesen waren, befreit, von der Schädeldecke baumelten, als sie vom Strahl aus der Dusche benetzt wurden. Leider hatte ich keinen Fön zur Hand, so mußte ich mir die über die Schultern fallenden Haare naß kämmen und von der Luft trocknen lassen. Ich kämmte mich schön, als der Batteriechef, der mittags vor uns gestanden hatte, hereinkam, aus Gründen, die erst einmal nichts mit mir zu tun gehabt hatten, mich sah, stutzte. „Hat man Ihnen nicht gesagt, daß Sie zum Frisör gehen sollen?“, fragte er erstaunt. „Doch, ich fühle mich aber nicht dazu veranlaßt“, sagte ich und kämmte weiter. Er stand und starrte. Ich meine, ich war ein hübscher Typ, und vielleicht war er empfänglich? „Und warum nicht?“, hakte er nach. Er wollte nicht glauben, was seine Ohren aufgenommen hatten. „Das war ein Befehl, ist Ihnen das nicht klar?“ „Er steht aber wegen des Haarerlasses nicht in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht und seiner Anwendung auf die Truppe“, sagte ich, sinngemäß. „Solange dieser Erlaß gilt, sehe ich keine Veranlassung, so einen Befehl auszuführen.“ Ich war kühl bis an’s Herz hinan und ließ mich nicht stören. Das war wohl der Augenblick, in dem dieser Hauptmann sich sagte: „Das habe ich noch nicht erlebt.“
Während ich Toilette machte, legte er seine andere Platte auf, die des um Verständnis Heischenden. Er redete von Kameradschaft, aus der ich fiele, wenn ich mich anders als die anderen Kameraden benehmen würde; ich würde doch nicht überheblich wirken wollen. Er wurde bildungsbürgerlich. Ich sei doch Abiturient – wußte er ja aus der mitgeschickten Akte – und würde den Kantschen Imperativ kennen. Auch seien lange Haare während tagelangem Aufenthalt „im Feld“, zumal bei Sommerhitze, in der man oft schwitze, doch unbequem und schlecht zu säubern; und ich solle morgen den Frisör aufsuchen. Ich dachte nicht daran. Seine Säuselplatte war abgelaufen, da legte ich eine härtere aus meiner auch für solche Zwecke nicht besonders umfangreichen Sammlung auf. Ich sei Kriegsdienstverweigerer, dies zuerst vorab. Mein Prozeß sei noch nicht entschieden. Er solle sich mal erkundigen. Ich bestünde auf meinen Rechten als Soldat und Staatsbürger in Uniform, um die damals beliebte integrative Phrase ihm um die Ohren geschlagen zu haben, ich sei außerdem Mitglied der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, Jugendorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei, und mir behagte, um das einmal klarzustellen, der Name dieser Kaserne nicht, in der man sich offenbar noch dem alten Naziwehrmachtsgeist verpflichtet fühle, und ich hätte Beziehungen zu linken Zeitungen wie der „Deutschen Volkszeitung“, und ich würde hier auch gar nichts androhen wollen, wegen der Verschwiegenheitspflicht nicht, aber er könne sich denken, was ich damit meinen würde, und ich ginge nicht zum Frisör. Wortlos retirierte er.
Ich zog am nächsten Tag mein braunes grobmaschiges Haarnetz über die Pracht, bevor wir im Frühtau zu Berge zogen, ein fein‘ braun‘ Liedlein – „Schwarzbraun ist die Haselnuß ...“ – singend, das heißt, ich sang nicht. Ich wußte, meine kreuz-und quer-Lektüren waren mir im Dienst öfters dienlich, daß dieses Lied von Hitlers Soldaten geträllert worden war. „Diedrich, singen Sie!“ brüllte Unteroffizier rechts, „Kanonier Diedrich, singen Sie!“ schrie Leutnant links. „Halten Sie den Tritt!“ Ich wußte, wie man in Reih und Glied marschiert, das hatte ich bereits bei den Schützenfesten zu Biberach in den sechziger Jahren perfekt drauf. Dieser Verein hier war es nicht wert. Sie wollten Druck machen. Darüber konnte ich nur lachen. Die anderen um mich herum staunten. Ich wußte aber, sehr lange würde es so nicht funktionieren. Nach dem Marsch wollten die, die mich angebrüllt hatten, mit mir „diskutieren“. Dieses Wort hörte sich aus solchen Mündern eigenartig an. Ich merkte, wie ungewohnt es ihnen war. Sie stotterten etwas von Vaterlandsliebe und Pflichterfüllung, und was der Floskeln mehr waren, zusammen; ich verlor das Interesse, und sie gaben es auf, mich umstimmen zu wollen. Ich holte mir ein Bier, denn die Dienstzeit war zu Ende und schluckte die Flasche leer. Ich war gespannt auf den nächsten Tag. So lange dauerte es nicht, bis man höheren Orts zu einer Entscheidung kam. Der MAD, Militärischer Abschirmdienst, war vielleicht zu der Überzeugung gelangt, ein renitenter Kommunist in einer Kaserne an der Grenze zur kommunistischen Gefahr sei für die Verteidigungsanstrengungen nicht dienlich. Ich sollte, trotz Dienstschluß, „zum Chef“ kommen. In zuvorkommendem Ton – hoppla – wurde mir mitgeteilt, daß ich zurück nach Weiden gehen würde. Ich ging auf die Stube und schrieb den Brief an den Rechtsanwalt. (Dieses Gespräch mit diesem Batteriehauptmann hatte ich in der Erinnerung mit dem letzten Morgen meiner Anwesenheit dort zusammengelegt.)
An jenem Morgen hatte ich mich also noch einmal bei ihm zu melden. Höflich, mir das beste für meine Zukunft bei der Bundeswehr wie für’s Leben wünschend, entließ mich dieser mittelgroße Offizier aus seinem Zuständigkeitsbereich. „Kanonier Diedrich meldet sich ab!“, sagte ich und grüßte militärisch. Als ich auf den großen Kasernenhof trat, fuhr einer der Lastwagen, mir ein inzwischen vertrauter Anblick, herein. Ihm entstieg – der Unbedarfteste meiner alten Stube in Bayreuth. Statt meiner mußte der arme Tropf nun Dienst unter erschwerten Bedingungen tun. Er grinste ratlos. Was war ihm Knall auf Fall passiert? Für zwei Sekunden fühlte ich mich schuldig. Ich ganz allein wurde nach Bayreuth chauffiert. In meiner alten Stube begrüßten mich die Kumpel mit Hallo. Ich war wieder „Jg. Diedrich.“
- Ein vergrauter Tag, in den nur nachmittags in unregelmäßigen Intervallen Sonnenstrahlen fielen. Vor dem Schwinden des Lichts an manchen Segmenten der Wolkendecke Öffnungsflecken, die zu hell waren, um ihnen die Farbe Rosa zuschreiben zu können.
10.4.2002

8
Apr

8.4.2002

Nach einer Woche oder zweien hieß es plötzlich: „Jäger Diedrich, Sie gehen nach Weiden! Geben Sie Ihr Graffel ab!“ Weiden ist eine Kleinstadt im Bayerischen Wald, nahe der (damals tschechoslowakischen) Grenze. Nie vorher von dem Kaff gehört. Mein „Graffel“, auch in der Version „Geraffel“ gebräuchlich, die Ausrüstung samt Flinte, gab ich ab. Ich hatte mich schon fast an die Kaserne gewöhnt. Was der Grund für die Verlegung war? „Gehen Sie mal da hin und fragen Sie nicht blöd, die brauchen da Leute oder“ --- [Moment mal, da stimmt’s doch nicht. In der Akte nachsehen!] –
- Die blasse Lichtmasse verlieh allem Pastellfarben.
8.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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