7
Apr

7.4.2002

Die Zelle war nicht geräumig und hatte das übliche eine Fenster. Auch die Langeweile saß in ihr gefangen. Nach etwa drei Stunden wurde ich wieder abgeholt. Ich kam „zum Chef“. Ausgesprochen höflich forderte er mich auf, Platz zu nehmen. „Sie haben also die Annahme Ihrer Waffe verweigert. Können Sie mir sagen, warum?“ „Ich bin Kriegsdienstverweigerer. Ich prozessiere am Verwaltungsgericht Sigmaringen. Leider war die Verhandlung noch nicht. Ich dachte, das sei Ihnen bekannt.“ Er schüttelte den Vierkantschädel. „Davon weiß ich nichts.“ Das wunderte und ärgerte mich. Sie hatten es nicht einmal für nötig befunden, diesen Kompaniechef davon in Kenntnis zu setzen. Wahrscheinlich dachte irgendwer, die Sache würde sich von selbst erledigen. Tat sie aber nicht. „Sie wollen doch bestimmt hier nicht den Märtyrer spielen. Ihr Gewissen, gut und schön. Wenn Sie die Waffe nicht annehmen, ist das Befehlsverweigerung, das ist Ihnen doch klar?“ Er saß entspannt zurückgelehnt in seinem Stuhl und machte allmählich auf härter. „Befehlsverweigerung bedeutet in letzter Konsequenz ein Militärgerichtsverfahren. Sie sind doch informiert, nehme ich an. Und unter Umständen geht das dann in ein ziviles Strafverfahren über, dann sind Sie vorbestraft, und ich nehme doch an, Sie wollen studieren.“ Meinen Schulabschluß kannte er also. „Das können Sie als Vorbestrafter dann vergessen.“ Ich wußte ja, wie die Rechtslage aussah. Ich sagte nichts. „Ich empfehle Ihnen, sich wie jeder andere Soldat zu verhalten. Solange ihr Prozeß nicht entschieden ist, haben Sie sich an die Vorschriften zu halten und die Befehle auszuführen, die man Ihnen gibt. Ist Ihnen das klar?“ Ich nickte etwas angeödet. „Also, werden Sie nun die Waffe entgegennehmen oder nicht? Ich verspreche Ihnen, wenn Sie sich im Dienst hier korrekt benehmen, wird es für Sie keine Probleme geben. Vielleicht wird das Ihnen sogar für Ihre Verhandlung nutzen. Was werden Sie tun?“ Das wußte ich schon. „Ich nehme die Waffe an, aber unter schriftlich festgehaltenem Protest.“ Er zuckte mit den Schultern. Das war ihm wurscht. „Wie Sie wollen. Sie können gehen.“ Ich stand auf, legte vorschriftsmäßig die Pfote an’s grüne Barett und ging auf meine Stube. Ich schrieb RA Bansemer einen Brief, in dem ich ihn bat, beim Gericht auf einen Verhandlungstermin zu dringen. Am nächsten Tag erhielt ich das Mordwerkzeug. Ich hatte einen Entschluß gefaßt: Wenn schon schießen, dann gut.
- Morgens noch etwas trüb, tagsüber sonnig, frisch.
7.4.2002

6
Apr

6.4.2202

Die Zugfahrt zum „Truppenstandort“ Bayreuth kostete nichts. Ich saß im Zugabteil, das ich für mich hatte, trank Bier aus der Dose und betrachtete die Landschaften, die der D-Zug durchschnaufte. Die Wacholderbüsche auf den kleinen Anhöhen und Hängen sind auf einem dieser zahllosen Filme, die das Gedächtnis projiziert, am deutlichsten zu erkennen. Bayreuth hieß für mich: Wagner-Weihefestspiele und Adolf der Irre. Grüner Hügel. Grüne Hügel sah ich dann genug. Ich war sogar einmal im Park der Eremitage. Unsere Kompanie durfte dort Stühle und Bänke für eine Festivität aufstellen. Das war später. Ich saß im Zugabteil, die Beine in den hohen Stiefeln aus rotbraunem Kunstleder hatte ich auf dem gegenüberliegenden Sitz platziert, und stimmte mich auf die kommende Zeit ein. Ich war neugierig, was passieren würde. Im Bayreuther Bahnhof wurden wir – ein paar andere junge Gestalten waren dem Zug ebenfalls entstiegen – vom Empfangskomitee begrüßt; im Stauraum eines Militärlastwagens wurden wir in die Kaserne, erbaut in den sechziger Jahren, transportiert. Vieh zum Abschlachten. Man hatte sich erst einmal in Reih und Glied aufzustellen, dann wurden die „Stuben“ zugeteilt. Als ich, die Trageriemen der Reisetasche in der Faust, mein neues Logis betrat, hielten sich dort bereits zwei oder drei Rekruten auf. Ich sagte ein Begrüßungssprüchlein und wählte als Schlafstätte eine der oberen Pritschen der Doppelstockbetten, die sich um die Ecken verteilten; am Fenster. Und das ganz bewußt. Es war eng, die Spinde in der Mitte des Raums machten es nicht größer. Andere junge Männer – keiner von ihnen, keiner in der Kompanie, konnte mir gefallen – stolperten herein; es war eine Acht-Männer-Stube.
Diese Jungs bildeten meine „Gruppe“ in der 2. Kompanie, die zwei „Züge“ hatte. Drei? Wochen nach dem 5. April sagte einer von denen, die sich im Zimmer aufgehalten hatten, als ich hereingekommen war, in seiner oberfränkischen Mundart zu mir: „Als du rein gekommen bist, hab‘ ich `dacht, jetzt kommt der Kinski.“ Das war schmeichelhaft. Mit diesem Typ (kräftig-bullig, aber das nicht übertrieben, Spaßmacher) kam ich gut aus; auch vor dieser Bemerkung. Er bewunderte mich ein bißchen, das kapierte ich aber erst, als er verlegt worden war und wir uns nur zufällig innerhalb der Kaserne über den Weg latschten. Die meisten Soldaten dieser Kompanie waren Sprößlinge der Bayreuther und Wunsiedeler Gegend; die Schwaben, die vor allem aus dem „Unterland“ stammten, bildeten das dritte Drittel. Ich war einer von den drei, oder nur zwei, Abiturienten in der Kompanie. Ich packte mein Zeug, darin die juristischen Ratgeber, in ein Spindfach und wartete, wie sich die Situation entwickeln würde. Man lernte sich kennen. Mit den anderen auf der „Stube“ kam ich gut aus. Fast alle hatten schon einen Beruf. Jungs vom Land oder aus Städtchen. Der Spaßmacher; ein zweiter war von Naivität nicht ganz frei; ein dritter gutmütig, ein vierter nicht so helle; der fünfte ?; ein sechster dicklich und ängstlich; der siebte Frisör und etwas schleimig. Ich war unter ihnen der einzige Schwabe. Bald kam ich zu einem Spitznamen: Professor. Im politischen Unterricht, den Hauptmann Schoen persönlich gab – groß, ein Schrank, Bürstenhaarschnitt über dem nicht einmal so häßlichen kantigen Gesicht – , pickte er regelmäßig mich heraus, denn er wußte, daß wenigstens ich eine Antwort auf seine Fragen an die versammelten Staatsbürger in Uniform geben konnte; inzwischen war ich ihm aufgefallen ... Meine Antworten waren karg. Ich hatte kein Interesse daran, ihm behilflich zu sein. Wenn keiner etwas sagen wollte oder konnte, der „Unterricht“ – jede Zeitungslektüre einmal in der Woche hätte ihn gut ersetzen können – stockte, wurde „Jäger Diedrich“ aufgefordert, seinen Senf abzugeben. Parteipropaganda enthielt er sich, wg. Soldatengesetz.
Die ersten Tage beim „Bund“, um zu ihnen zurückzukehren, brachten wir mit marschieren, einkleiden, Dienstgrade erkennen, Langeweile hinter uns. Ich ging mit den anderen in die Kantine. Ich schrieb Karten: an meinen Rechtsanwalt in Metzingen, an meine Genossen der SDAJ-Gruppe in Biberach, an die DKP-Freunde in Düsseldorf, um kund zu tun, wo und in welchen Umständen ich mich befände und zu erreichen sei. Ich wartete auf die Stunde – nicht der wahren Empfindung, sondern der Waffenausgabe. Die kam. Wir marschierten – „Links, links, links, links ...“, aber damit war nicht gemeint, was ich damit verband, insgeheim grinsend, und es war auch kein roter Wedding, der hier marschierte, wie im alten KPD-Lied, das keiner von diesen Soldaten kannte, und der Wedding ist inzwischen auch stark angebräunt – zur Waffenkammer, um die Knarren, die G3-Gewehre, entgegen zu nehmen. Als ich in der Reihe dran war, schüttelte ich den Kopf und sagte: „Ich verweigere die Waffe.“ Die „Dienstgrade“ um mich herum guckten dumm. Dann sahen sich die beiden, denen es oblag, die Dinger auszuhändigen, an, einer der beiden blaffte: „Ich befehle Ihnen, sofort diese Waffe zu nehmen!“ Ich entgegnete gelassen: „Ich verweigere die Annahme dieser Waffe.“ Einer der Chargen trat heran und sagte: „Dann kommen Sie mal mit!“ Eskortiert von Uffzen – Unteroffizieren – ging’s zum Kittchen. Ich lernte den Bundeswehrknast kennen.
- Den ganzen Tag über grau. Nur am Vormittag und am Nachmittag gelang es den Fixsternstrahlen für Minuten, durch Wolkenlöcher und -scharten die Stadt zu erreichen. Winterkalt.
6.4.2202

5
Apr

5.4.2002

Tiefgründig liegt das Wort vor dem Auge. Tauchte man zu tief hinein, erhöhte sich jedoch der Gedankendruck und man käme mit dumpf-dummem Kopf wieder aus ihm herauf. Das und der Umstand, das ich nicht schwimmen, noch weniger tauchen kann, veranlaßt mich, nur mit seiner verlockenden Oberfläche ein wenig zu planschen, zu plauschen, mit diesem Schreibstift – Stabilo point 88 fine 0,4; Art.No. 88/36 pp [Strichcode] 4006381105255 – ein bißchen in sie hinein zu stechen, sie mit ihm sachte zu rühren, diese papierene Oberfläche, die sich während dieser kleinen Bewegungen als die sich nun stetig erweiternde Oberfläche dieses Worts – und tiefere Erkundung, die aber bis hierher noch nichts ans Licht gefördert hat – zu erkennen gibt. Eigentlich entspricht das nicht den Tatsachen, denn es ist die Unterfläche, das Papier ist die Unterfläche, der Malgrund für das Wort; die imaginär bleibenden Reflexionen des Worts verbreitern und verlängern es mit ihren Anhängseln. Hm. Ich will nicht zu tief gehen, zu deutsch dabei werden. „Seelenfortschritt“ ist, vielleicht wird der Begriff so faßbarer, das Ergebnis einer intuitiven Leichtigkeit gewesen, mit der sich die alt vertraute „Bewußtseinsveränderung“ mir plötzlich erweiterte. Man redete ja vor dreißig Jahren unentwegt von „Bewußtseinserweiterung“ und „Bewußtseinsveränderung“; wobei die erste Vokabel eher eine des Hippie- und Haschischanteils jener jungen Generation gewesen war, die aber von der zweiten gar nicht so fern lag, die den bewußtseinsbildenden Maßnahmen (zumindest Absichten) der linkspolitischen Intelligenzia näher kam. Diese Forderung nach Bewußtseinsveränderung – indem ich gestern eine erfahren habe, offensichtlich, und endlich – hat sich etwas verändert, nein: wurde erweitert und angereichert (das ist das Wort) von dem Erfahrungsmaterial, das sich in diesen dreißig Jahren klammheimlich überall um diesen alt gewordenen Begriff ansammelte und ist mit diesem Funken Intuition auf ihn übergesprungen; hat ihn belebt, aufgefrischt und gleichsam gesellschafts-natürlich den – wir wollen nun nur diesen politisch relevanteren zweiten Begriff und seine Verwandtschaftsnähe zu Marxens Diktum „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ berücksichtigen – rationalistischen Kern um die Restmetaphysikalischen Elemente ergänzt, Teilchen, deren Entdeckung vor drei Dezennien noch nicht recht möglich war, vermutlich, weil noch zu viel Minderheitsirrationalismus herumschwebte und viel verbarg. Wie dem auch sei: In jedem Modell der Welt- und Worterforschung schwirrt ein Quäntchen Unerklärlichkeit.
Ich tendiere allerdings heute zu einer Form des Umgangs mit dem Wort „Seelenfortschritt“, wie sie Volker Braun mit dem zweiten Teil dieses eventuell Substantielles beinhaltenden Substantivs exerziert: „Fortschrott!“ (Ich setze einmal voraus, daß die Braunschen Ausführungen über die DDR, „Deutsche Demokratische Republik“, wie inzwischen vielleicht doch erklärend eingeschoben werden sollte, die Nach-DDR und den vom Sozialismus befreiten freien Westen bekannt sind. Das ist aber gar nicht unbedingt erforderlich, weil die Ironie auch den Rest des Bedachten erahnen läßt, und Zeitungen mit Artikeln über die Ursachen der Implosion der zweiten deutschen Republik las ja eigentlich jeder. In manchen stand sogar etwas Zutreffendes drin.) „Fortschrott! Fortschrott!“ Es wäre tatsächlich angebracht, wenn ich nach meinem Ausflug in nebulöse Sphären einige Zeilen weiter oben mit dem Wort „Seelenfortschritt“ ähnlich verfahren würde, etwas Derridadasche Dekonstruktion üben würde. „Seelen! Fort! Schrott!“ Was hielten Sie davon? Ganz konnte ich mich der alten Aversion gegen alles „Seelische“ offenkundig nicht entledigen. Könnte man meinen. Ich meine jedoch, den kritischen Unterton doch zu hören: Denn wie viele Seelen werden ununterbrochen verschrottet, verschrotet ... Schon bin ich wieder bei den künftigen Menschenmaschinen und Maschinenmenschen angekommen – wie eng doch die Kreise sind, in denen ich mich seit jeher bewege –, die bald gezüchtet und gebastelt werden, um nach einem relativ kurzen Intervall rasch und effektiv verschrottet zu werden, wenn sie das Plansoll der Profitraten nicht mehr erfüllen. Allerdings hört sich das nicht sehr futuristisch an, es war doch schon immer so. Auch die Zukunft wird nur das tun, was die Vergangenheit machte; nur schneller, rücksichtsloser. LaMettrie schrieb seinerzeit etwas über den Menschen als Maschine, aber von einem Gott (um auch auf ihn noch einmal zu rekurrieren) in ihr wollte er nichts wissen. Nur die Theaterleute, lange vor ihm, ließen einen aus einer heraus springen, wenn sie mit ihrem Griechisch am Ende waren, um das Ende zu retten. Aber wer weiß. Womöglich zeigt sich am Ende doch einer, den Menschen und den Maschinen? Eh bien. Vielleicht wird es einen extra für die Maschinen geben, für Robots, Compus, Bots, Cyborgs (mit organischen Teilen in den Eingeweiden), für die, denen ein kurzes Leben geborgt wird, wie den Replikanten in Philip K. Dicks „Träumen Roboter von elektrischen Schafen?“ und Ridley Scotts – sagen wir assoziative – Verfilmung dieses Romans, „Blade Runner“? Oder sie erschaffen sich auch einen, um den sie herumstampfen, -schwingen, -sirren, -singen werden, zu den Elektrobeats, die aus den monumentalen Jukes-Boxes seiner Heiligen Hallen dröhnen? Wie werden sie ihn in ihrer neuen Weltordnung nennen? Baal, Bözzer On-kel, Balzebub, JahTschaTscha, TexasBush&HisInstruments?
Ein letztes Mal zum „Seelenfortschritt“. (Übrigens heißt ein Biberacher Gebäck „Seele“. Es wird aus Dinkel- und manchmal Dünkelmehl gebacken und als kurze Stange, einem handlichen Prügel nicht unähnlich, mit groben Salzkörnern darauf, zu einem gar nicht gepfefferten Preis in den Läden verkauft. In anderen Städten, auf allen Kontinenten, werden sekündlich viele Seelen verkauft, aber Biberach ist meines Wissens die einzige, in der das so symbolisch und mit so schmackhaften Folgen geschieht.) Das ganze Drumherum habe ich nur der täglichen Musillektüre zu verdanken, denn mir ist es gestern so vorgekommen, als könnte der Begriff auch bei ihm stehen. Steht er aber nicht. (Hoffentlich steht er tatsächlich nicht dort, und ich habe ihn gestern nicht übernommen, ohne daß mir das bewußt gewesen wäre. Auf erweiterte Weise bewußt sein müßte man können.) Nicht in diesem Buch, in dem ich inzwischen die Seite 545 erreicht habe, im Kapitel 112 bin. Ich bin jeden Tag verwundert darüber, daß ich es noch immer lese. In meiner Zeit als Verkäufer in der „Dornschen Buchhandlung“ in Biberach, im Herbst und Winter 1971, kaufte ich mir diese Ausgabe. Immer wieder, im Abstand von Jahren, versuchte ich, in der Lektüre voran zu kommen, stets brach ich sie ab; nun hoffe ich, das Buch noch ganz kennen lernen zu können. Das bestimmte Wort, das ich nicht wiederhole – könnte es als ein Zeichen dafür, daß ich in die Welt dieses Romans, dieser fragmentarisch gebliebenen Welt, aufgenommen worden bin, gelten? Ich erinnere mich..., wie ich dieses Buch zum ersten Mal aufschlug und mit den Fingerkuppen über seine Dünndruckseiten strich... –
Nun zu etwas völlig anderem. Heute vor dreißig Jahren, am 5. April 1972, rückte ich ins Jägerbataillon 102 in Bayreuth ein. Damit geht’s morgen weiter.
- Sehr sonniger Apriltag, aber ein kalter. Es ist noch etwas ungewohnt, daß die Dämmerung bis fast zwanzig Uhr dauert; wegen der Sommerzeit.
5.4.2002

4
Apr

4.4.2002

Was hat man auf dieser Erde zu suchen? Was soll man finden? Zwei Fragen, die womöglich schon in den noch nicht sehr stark gefalteten Hirnwindungen von homo australiensis und homo neandertaliensis herumkrochen; beide bekanntlich keine direkten Vorläufer – sozusagen, um die natürlich-sportliche Bedeutung des Worts mit seiner im technischen Zeitalter gebräuchlichen Verwendung, z.B. im Automobilbau, zusammenzulegen und dadurch die großzeitliche evolutionäre Bewegung Richtung Fortschritt zu vergegenwärtigen – des homo sapiens sapiens, der dann, nicht nur zweimal, sondern seit seiner Geburt als Gattungswesen, ständig diese Gedanken mit sich spazieren führte; wenigstens manchmal. Zwei Fragen, die auch im künftigen Zeitalter der Menschenmaschinen und Maschinenmenschen, in dessen Morgenröte wir stünden, wie uns nicht nur SF-Schreiber, sondern ernst genommene Autoren zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts A.D. einflüstern (wollen). Homo a. und homo n. hatten sich auf sie – was zu suchen und zu finden wäre – bestimmt konkretere Antworten geben können als jenes Wesen, das nach dem Willen eines höchsten schließlich den Planeten mit seiner multiplen Anwesenheit befruchtete und die Früchte des Planeten zu rauben begann, fast ganz am Anfang schon, was irgendwann im Diluvium zur Folge hatte, daß jener Garten dichtgemacht wurde, weil es dem Eigentümer mißfallen hatte, wie respektlos homo sapiens mit den Äpfeln umgangen war. Von da an ging’s bergab.
Am Ende des sechziger Jahre des hinter uns gut überschaubaren saeculums passé – saeculum adé !; das Witzeln ausgerechnet an dieser Stelle unterlassen zu sollen fiele mir besonders schwer – hatte dieses Vanitas-Problem mich erreicht. Als junger Mann begann ich wie ein alter zu denken: „Hat eh keinen Sinn“; dieser hübsche und bequem zu denkende Satz richtete sich’s bei mir auf Dauer ein und war auch dann zuhause, wenn ich annahm, er sei mal ausgegangen. Das frühe Wissen also um die Vergänglichkeit – ergo Vergeblichkeit – aller Bemühungen um so etwas objektiv Undefinierbares wie Glück und Seelenfortschritt enthob mich, philosophisch abgestützt, denn nicht lange dauerte es, und ich begann die Stoiker zu lesen, allzu anstrengender Versuche um diese Bemühungen. (Vergänglichkeit und Vergeblichkeit so eng aneinander zu hängen bewiese allerdings nur, daß ich philosophisch abgestürzt wäre? Dieser Verdacht war da.) Nun, um’s kurz zu machen: Die Welt gefiel mir nicht; insgesamt, nicht nur die bürgerliche. Diese pubertäre Schmerzempfindlichkeit ließ sich nie ganz betäuben, auch nicht mit Alkohol. Andere benützen Sex dazu, ich hatte dafür kein Talent. Dazu später. Warum war alles kompliziert? Ich verfiel dennoch nicht der Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Rückzug aus der urbanen Zivilisation – mit ihren Mängeln en gros et en detail – war mir niemals eine Frage. Mir war ja Biberach an der Riß schon zu ländlich und kleinparzellig! Wer schätzt nicht die fein gesponnenen Verflechtungen der materiellen Welt? Und diese Art von Kompliziertheit – wie kommt mein Wasser aus dem Hahn und warum ist es heiß? – meint man ja nicht, wenn einem die Welt über’n Kopp wächst, solche Zusammenhänge sind aber die Voraussetzung dafür, daß man dem Aufdröseln der Immaterialität der verwirrenden Gedanken- und Gefühlsstrukturen etwas mehr Zeit widmen kann; und daß man sich die Hände nicht nur mit Unschuld waschen kann, wenn dabei etwas falsch auseinander genommen oder zusammengefügt wurde, was hin und wieder diverse fatale causae gebiert. Hippie war ich nie; trotz langer Haare, flower power interessierte mich nicht, und „make peace not war“ korrespondierte schlecht mit Klassenkampftheorien.
„Seelenfortschritt“ ist ein Wort, das ich vor dreißig Jahren niemals in die Gedanken genommen hätte. Bewußtseinsfortschritt, das gab es oder eben auch nicht. Eher nicht. Seelenfortschritt wäre ein mystifizierender Begriff gewesen, der allein deshalb schon so nebelhaft gewabert wäre, weil der Mensch keine Seele hatte, sondern nur eine Psyche mit Bewußtsein. (Vor ihrer mystischen Verwandlung hatte die antik-mythologische Nymphe aber noch Seele gehabt? Hieße das, mit Hilfe mystischer Sprüche erhielte man Geist, Bewußtsein; würde man zum Geistwesen? Manch marxistische Exegese hatte (beim Zeus!) quasimystische Qualitäten und blieb so manchem AK-Teilnehmer für immer Hekuba, aber Gadamer ist tot und ich will nicht zu sehr ins Hermeneutische.) Alles mit Seele war vorbei und untersagt. Schlicht unmodern, denn auch außerhalb neomarxistischer Zirkel war das Wort nicht gebräuchlich; außerhalb von Kirchen, kirchlichen und George-Kreisen, wobei die letzteren, die ihren eigenen Messias gehabt hatten, als nicht mehr sehr à la mode galten, denn auch die Germanistik war fast links geworden. Ich bin wohl genötigt, diesen Begriff, der mir so leicht eingefallen ist, mir selbst zu erhellen. Das mach‘ ich morgen.
- Langweilig schöner sonniger Tag. Etwas kühler, auch wegen des Windes.
4.4.2002

1
Apr

1.4.2002

Das Moralisieren bringt ja nichts. Drum weiter mit Film, SF, WG; und rein damit in den PC. -
1977 war ein Jahr, in dem ich fast nie ins Kino ging. Das hatte mit meinem Geldmangel zu tun, aber nicht nur. Das bißchen Geld, das ich irgendwie hatte, brauchte ich für Wein und Whisky für den häuslichen Konsum. Sogar für die Kneipenbesuche reichte es wundersamerweise, sogar zweimal oder dreimal pro Woche. Ich wohnte in der Karpfengasse, ging damals vor allem ins „Alte Haus“ an der Kolpingstraße, die „Strauß“-Besuche wurden schon weniger, waren aber noch alte Gewohnheit. Meine Mutter gab mir ab und zu etwas Geld; und ich hatte, im Frühjahr 1977, damit angefangen, meine Miete für das größte Zimmer in der „Karga“ nicht mehr regelmäßig zu bezahlen – an mich, denn Anfang Januar war ich als Nachfolger von Herbert Kohout, der um Weihnachten 1976 zurück nach Wien gezogen war, als Hauptmieter in den Mietvertrag für das ganze Haus eingestiegen. Von nun an ging’s bergab. Hatte nicht Rolf C., von allen bis heute nur „Cäsu“ gerufen, bei der Bank, von der ich einmal einen Kredit über eine nicht allzu hohe Summe eingeräumt haben wollte, für diesen Kredit in dieser Zeit gebürgt? Cäsu und sein Kompagnon Gerd N. betrieben im Hochparterre der Karpfengasse 24 ein kleines Musikaliengeschäft, das dort hinter einem fast quadratischen Schaufenster, neben dem eine dreistufige Treppe in den engen Laden hineinführte, schon existiert hatte, als ich ins Haus eingezogen war. (N. ist tot, der Laden befindet sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Engelgasse neben dem Marktplatz; größer, schöner.) Ich weiß noch, wie ich eines Tages von oben, von meinem Zimmer kommend, das Lädelchen – in dem man sich auch sonst öfters aufhielt, wegen des Jazzclubs, den wir (wer wir war, wird man noch lesen) im Frühjahr `76 gegründet hatten – betrat und Cäsu direkt fragte, ob er sich’s vorstellen könne, für meinen Kredit zu bürgen, und er nur nickte. Ich war doch überrascht. Ich firmierte als Schriftsteller – der fast nie etwas schrieb, sondern seine Tage in der Stadtbücherei und in den Kneipen vergeudete und auch gar nicht in der Lage war, etwas Brauchbares in die IBM zu tippen. Auch der Bank gegenüber. Ohne Cäsus Bürgschaft hätte sie mir keinen Heller gegeben. Ich beabsichtigte aber nun ernsthaft, mit dem Schreiben von Science Fiction-Schundromanen das Geld zur Tilgung dieses Kredits zusammenzuschmieren, und Cäsu schien das wohl auch für eine realistische Idee zu halten, denn einige Wochen zuvor hatte ich Post erhalten, die er selber mir durch das bei frühsommerlich schönem Wetter geöffnete zweite Fenster meines Zimmers, durch das, vor dem nicht der Schreibtisch stand, und zwar so, daß ich mit dem Rücken zur Wand saß und die Tür im Auge behalten konnte, geschleudert hatte; ein Päckchen, aus dem ich die Belegexemplare meines SF-Heftromans „Der Mann aus dem Transmitter“, erschienen bei Kelter, Hamburg, gezogen hatte. Diese Sendung war C. gegenüber also meine Legitimation, die zeigte, daß ich gewillt war, mit diesen Dingen fortzufahren, gewesen. Ich bekam den Kredit. Ich setzte meinen unruhigen Arsch hinter die geliebte rote IBM, Weinglas und Zigaretten in Reichweite, und begann einen Schunder herunterzuhacken. Die näheren Umstände bitte ich dem Text zu entnehmen, den ich 1991 für eine Veröffentlichung der Stadt Biberach zu den 10. Baden-Württembergischen Literaturtagen im Herbst 1992 in Biberach schrieb. Voilà.

Karpfengasse 24, 1977
Wummm, Wummm, wuuaah“ K.s Bett vibrierte, als er im späteren Vormittag aufschreckte! Nicht schon wieder!! Unter ihm, im Laden, spielte Cäsu Baß. Sommerlicht spähte in den langen Raum herein, K. lag auf seiner „Rockbühne“, wie er das alte breite Bett bezeichnet hatte, und lauschte den Baßrythmen. Wummm ...! „Der spielt wieder“, sagte er zum Kater Panama, der, auch wach, aber noch träge, lang ausgestreckt auf der linken Seite des Bettes ruhte. Der Verstärker knallte den Sound herauf. Eine E-Gitarre setzte ein, Cäsus Baß wurde leiser. „Verkaufsprobe, Dicker“, sagte K. zum Kater, der nun gähnend den Rücken durchbog und vom Bett hüpfte. K., 25 Jahre alt, blieb liegen. Das Licht stach ihm in die Augen, er wälzte sich zur Wandseite. Wummm, wuuaah ...! Erbost sprang K. auf und fütterte den Kater, öffnete eines der Fenster zur Gasse hin. Der Blues aus Cäsus Laden harmonisierte sich – „wird auch Zeit!“, dachte K. – und wurde eine ganz hübsche Morgenmelodie. Aber! Aus dem Stockwerk unter dem Dach blies Markus aus seiner Anlage den reinen Bebop in die Sommerluft! Von Tönen ausgefüllt war nun – unten fuhren Autos – die westliche Karpfengasse. K., noch nackt, sah aus dem Fenster. Markus legte was anderes auf. „A love supreme, a love supreme ...“ Coltranes Musik schallte zwischen den Häuserwänden. K. stampfte und tanzte, der Kater rannte herum. Cäsu unten spielte gegen John C. oben an. Ins Bad. Danach leichte Kleidung. K. ging hinunter und in den Laden hinein und sagte: „Was soll der Scheiß? Bei mir zittern die Bettstangen!“ Cäsu grinste spöttisch. „Aufgewacht?“ Er zupfte den Baß. Der Gitarrist war offenbar weg. Markus‘ Anlage lief volle Power, die Gasse dröhnte. „Der hat sie heut auch nicht alle!“, sagte K., Cäsu zuckte mit den Schultern. K. kehrte zurück in seinen Raum und schaltete die IBM ein. Der Kater wollte Ausgang. „Wiedersehn macht Freude“, sagte K., Panama wetzte die Treppe hinunter. Vom Fenster aus beobachtete K., wie er das winzige Kellerfenster verließ, verharrte, dann Richtung Schulstraße/Ratzengraben sich trollte. Seufzend hockte K. sich hinter die IBM. Oben trommelte jetzt Max Roach. Das Junilicht spielte mit den Flecken auf dem verschlissenen Teppichboden. Die IBM surrte. Tickticktick. Tick. Ticktick.
Manfred kam herein und sagte zornig: „Wenn der nicht bald aufhört, bezieht er Prügel!“ K. reckte sich auf dem Schreibstuhl. „Der übt doch nur“, antwortete er und griff nach der Zigarette. Die Merzsche Musikanlage schwieg jetzt, aber aus dem Kellergewölbe, wo der Schlagzeuger seine Drums aufgebaut hatte, drangen, wie aus dumpfer Gruft, immer gleiche Schlagfolgen heraus. „Ich kann das nicht mehr hören!“, grollte Manfred. K. tippte weiter. Das Hi-hat klirrte; Markus drosch die Trommeln. So ging das schon seit zwei Wochen.
Siesta war beendet, Autos fuhren unten wieder vorbei. „Das gibt’s doch nicht!“, sagte Manfred böse. K. tippte weiter. Manfred, der oben neben Markus wohnte, mit Agathe und Paule – Collie und Katze –, mochte Beethoven und die Stones und haßte Jazz. „Hör mal“, sagte K., „ich muß noch zehn Seiten runterreißen, okay?“ Manfred zog ab. K. wußte, was nun kommen würde, ging zum Fenster – das zweite ließ er immer geschlossen – und wartete. Na los! Manfreds Zimmer lag über seinem. Jetzt! Aus Manfreds sehr kleinem Gassenfenster, das einer Luke glich, wie K. einmal ironisch angemerkt hatte, denn Manfred war gelernter Binnenschiffer, schwoll mächtig die „Neunte“ von Ludwig van. „Lauter Spinner hier!“, sagte K und nahm Weißwein zu sich. Tickticktick. Usw. Der Science Fiction-Roman hieß „Die Kirche der Reinen Kulte“, und K. kicherte manchmal, während er die Seiten füllte. Irgendwann nachmittags registrierte er, daß Markus und Manfred die Ohren voll hatten. Stille. Auch Cäsu schien nur zu verkaufen. Die IBM summte ungeduldig. „Nachher nochmal“, sagte K. zu ihr, schaltete sie ab, klappte die Sonnenbrille übers Gesicht, verschloß den Raum, schlug die Haustür zu, ging zur Stadtbücherei. War ja nur um die Ecke. Ein heißer Nachmittag. Noch zwei andere, die nicht zum Baden wollten, die nicht baden gehen wollten, saßen in den Stühlen zwischen den Regalen. K. beschloß, nach kurzem Blick über die Szenerie, die Literaturzeitschriften einzusehen, im ersten Stock. Sein Aktenstudium war dies. Er mochte diese ruhigen Frühsommernachmittage im Lesesaal. Doch schließlich trieb es ihn hinaus auf die Straßen, wo er den Menschen zusehen konnte. „Du bist doch nur ein Statist, du wartest doch bloß!“, hatte Markus kürzlich ihn angeschrieen. K. hatte genickt. Während einer gewissen Zeit hatte auch er mitgemacht,aber das Warten schien ihm nun die bessere Ausprägung des Möglichkeitsinns zu sein.
Die abendlichen Giebelschatten zeichneten ihre Umrisse auf Straßen und Gassen und Plätze, als K., vom Marktplatz kommend, wo er in einem sog. Supermarkt Tomaten, Rinderleber, 1 Gurke, Reis und 2 Flaschen Rotwein gekauft hatte, die „Karl Marx-Allee“ – diesen sehr sehr schmalen Durchgang zwischen zwei Wänden – benützend, wieder vor der Haustür stand. Zwei Moto Guzzis und eine 750er-Honda aufgebockt neben der Hauswand. „So“, dachte K., stieg die Treppe hinauf und sah auf dem Blechbalkon Leute. In seinem Raum stellte er die Tasche ab und ging zurück zum Balkon, der nur eine kleine Fläche einnahm, von Häuserwänden eingekeilt war und sozusagen umzäunt war von einem halbhohen Gitter. G., dessen Zimmertür weit offen stand, hatte, nach längerer Zeit von weiten Reisen einmal wieder zurück im Haus, Gäste. Motorradgepäck auf dem Flur. K. trat auf den Balkon. „Wieder da“, sagte er dort. Sie nahmen ihn, wie er nicht anders erwartet hatte, kaum wahr. Auch das paßte ihm. Im Zimmer knipste er einige Lampen an und schaltete das Radio ein. Er sorgte sich um den Kater, der vor einigen Wochen erst nach elf Tagen zurückgekommen war; humpelnd, blutend. K. trank den Weißwein leer, aß eine Tomate. Er dachte an jenen, den er sehr gern hatte und der ihn vielleicht besuchen würde. Sah die Seiten durch, die er getippt hatte. Es war ein Geldjob.
Im Haus wurde es lauter; Leute kamen, gingen, die Tür schlug. Ein Redeschwall, lautstarkes Gefasel, aus den offenen Fenstern der „Bierhalle“ gegenüber. K. saß wieder hinter der Schreibmaschine und spannte, Zigarette zwischen den Lippen, ein neues Blatt ein. Fünfzehn Seiten pro Tag waren sein Limit; sechs, sieben Stunden. Okay.
Charles klopfte; K. wußte, daß Charles es war. „Ja!“, rief er, sein Zimmernachbar trat ein. „Hat er dir gefallen?“ fragte K.. Im Urania-Kino wurde die überhaupt erste Retrospektive von Werner Herzog-Filmen gezeigt. Charles lud K. zum Tee ein. Im anderen Zimmer dominierte der Reißbrett-Tisch. „Leg Bob Marley auf“, sagte K., während er über die Zeichnung sah. Charles zelebrierte den Tee klassisch. Der Earl Grey floß in die Tassen. Sie sprachen über Herzogs Film „Aguirre, der Zorn Gottes“. K. holte dann den Scotch aus seinem Schreibtisch. Draußen auf dem Gang ein Kommen und Gehen.
Später ging K. in den „Strauß“, wo die Szene sich traf, wenn der Tag älter wurde. Die Juke-Box heulte; man kam, trank, ging, Palaver, Palaver. K. wechselte hinüber zum „Rebstock“. „Du kriagscht gar nix meh!“ sagte ruppig Tina Bauer, „wa witt?“ „Käsbrot ond Heilbronner“. „Du!“ sagte Frau Bauer und verschwand mit vorgetäuschter drohender Miene hinter dem Tresen. K. redete mit den anderen am langen Tisch. Der Heilbronner wurde ihm hingestellt, das Käsbrot folgte. K. aß es hungrig. Seit Jahren saß er, gerne am frühen Abend, in diesem Raum mit der Tabakpatina an den Wänden – in Büchern und Zeitungen blätternd, lesend, die Dämmerung beobachtend, Wein schlotzend. Ein schnelles Gewitter hatte die Nachtluft gekühlt, über den stillen Marktplatz trieb ein Rest Regen, als er zurück in die „Karga“ eilte. Leise rief er vor dem Haus nach dem Kater, schlich einige Meter Richtung „Karl Marx-Allee“, neben deren Eingangsecke kleine bepißte Sträucher wucherten, kehrte um. Im Haus alles ruhig. Aus der Küche wehte der Geruch von Spaghettisauce. „Die Oregano-Fraktion...“, dachte K. und schloß die Küchentür. Er ging auf den Balkon, rauchte eine Zigarette an – drei, vier halbabgebrannte Kerzen in Untertassen auf dem Tischchen – und lockte den Kater.
„Panama, Panama ...“ Ihn fröstelte. In seinem Zimmer hatte er die Lampen eingeschaltet gelassen. Eine halbe Seite tippte er noch, dann nahm er eine der Rotweinflaschen mit hinauf in den zweiten Stock und klopfte bei Manfred. Der lebte zur Zeit wieder nachts. „Dachte ich mir“, brummte Manfred, als er öffnete. Die Collie-Hündin kroch um K.s Waden und versuchte, sie zu beißen. „Gathe, hör auf!“, sagte K., „wie wär’s mit Beethoven?“ Das Tier hatte früher schlechte Erfahrungen gemacht. Offensichtlich malte Manfred an einem neuen Bild. Er legte K. den Korkenzieher hin und setzte für sich frisches Teewasser auf. Er bevorzugte die friesische Mischung. Sie kannten einander schon lange.
„Man ertastet noch nichts“, stellte K. fest. Paule, die schwarze Katze, schmuste auf seinen Oberschenkeln. „Dauert halt“, entgegnete Manfred, der den Tee abgoß. Panama und Paule, das alte Spiel... Ludwig van dann. – Fast dämmerte der Junimorgen schon, als K. hinunter stieg. Zwölf oder zwanzig Schlafende im Haus. „In jeder Kammer wirklich andere Lebenskonzepte?“, überlegte K. sarkastisch. Er öffnete im Zimmer das vorhangfreie Fenster weit, um die Kühle hereinzulassen, und plötzlich an der Tür das vertraute Kratzen! K. riß die Tür auf, der Kater schoß herein und stürzte sich über die Futterschüssel. Endlich durfte K. aufs Bett fallen.“

-Von morgens bis abends ruhiges Sonnen- und Frühlingswetter. Milde Luft. Kaum Wind.
1.April 2002

30
Mrz

30.3.2002

Was die Biberacher, auch die jüngeren, gar nicht besonders verwunderlich finden mochten. Schließlich besitzt die oberschwäbische Stadt einen besonders guten Draht nach oben; zum Liaben Herrgöttle vo Biberach. „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, hilf!“ lautet(e) eine geläufige – inzwischen seltener gewordene – Anrufungsfloskel, die auch in der erweiterten Veränderung „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, mach, daß i des Mädle kriag!“ oder „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, hilf, daß i di Erbschaft kriag!“ oder aus anderen Anlässen gen Himmel seufzend ausgestoßen werden, allerdings fast immer nur in Gedanken, denn der Schwabe ist vorsichtig und hat’s nicht so gern, wenn andere Schwaben, auch nur zufällig herumstehende, Einblicke in seine Pläne und Hoffnungen erhalten. Dieser Seufzer ist fast nie ein Ausdruck sich erleichternder ernster Belastung und Seelennot, sondern in ihm schwingt die Erheiterung über die Umstände mit, die zu ihm geführt haben; ja sie schwingt nicht nur mit, sondern überwiegt sogar, denn dieser Seufzer ist einer der komischen Verzweiflung. Wenn der Schwabe in seiner Ausformung als Oberschwabe, eine Unterspezies für sich, wirklich Sorgen hat und sich noch der Christenreligion verbunden fühlt, und davon gibt es etliche, spricht er – als katholischer oder protestantisch-pietistischer, was eigentlich nicht zu vernachlässigende Unterschiede ausmacht, die zu erörtern wir nun aber nicht die Geduld aufbringen und uns auf gut schwäbisch sparen – wohl doch anders zu seinem Gott. Dann verkleinert und verniedlicht er ihn nicht zum Herrgöttle, zu einer halb komischen Figur wie aus dem Kasperletheater, das alljährlich zum Schützenfest in Biberach auf dem Gigelberg zwischen den technisch avancierteren Angst- und Schrecken-, Gut- und Bösemaschinerien seine uralten Geschichten von der Anfechtung des schwach-guten Menschen durch die Kräfte der Finsternis und seiner Erlösung, tatkräftig befördert von den Hieben des schelmischen Kasperles für die Bösen, darstellt. (Andererseits ist ja das ganze Weltgeschehen ein einziges Kasperletheater, wie erst kürzlich wieder ein Abstimmungsverfahren im Deutschen Bundesrat erheiternd vorführte.) Der Schwabe verkleinert gern, was er hat; eine Schutzfunktion, die ihn vor dem Neid der Nachbarn bewahren möge; wenn er von seinem „Mädle“, seinem „Autole“, seinem „Häusle“ spricht. Er will nie zeigen, wieviel er wirklich hat. Diese tiefe und besorgte Ernsthaftigkeit im Umgang mit Besitz ist dann wiederum der Grund, warum seine Diminutiv-Sucht aber nicht den Kern der Persönlichkeit erreicht, nicht zur Quelle all dieser schönen Erwerbungen vordringen darf: er sagt nie „mein Geldle“. Das hieße, das Geld zu beleidigen, und da sei sozusagen Gott vor. Er redet stets von seinem „Geld“. Da hört dann nämlich doch der Spaß und die Verharmlosung auf und das Selbstbewußtsein, durch fleißiges „Schaffe“ erworben, zeigt sich – unbewußt – stolz, was also letztlich die umsichtigen Verkleinerungsbemühungen wieder zunichte macht, und notfalls erweist er dem Geld größeren Respekt und höhere Ehre als dem Herrn Gott, den man schon einmal ungestraft zum Herrgöttle machen darf, um besser mit ihm umgehen zu können, auf halbmenschlicher Ebene, auf die er mit dieser traulich-putzigen Anrede heruntergeholt wird, gleichsam als eine Art Professor Vitzliputzli mit Zauberkräften. Man darf sich aber nicht täuschen: auch diese Vertraulichkeit in der Anrede negiert die Frömmigkeit, die dennoch hinter ihr zu ahnen ist, keineswegs; sie beweist vielmehr ein inniges zärtliches Zutrauen in jenes höhere Wesen, das sie verehren.
„O liab’s Herrgöttle vo Biberach!“ – dies Anflehen wird in Biberach jedoch – man mag mich eines Tages berichtigen, wenn’s nicht so ist – vor allem, nahezu ausschließlich, von den katholisch eingesegneten Köpfen der Einwohnerschaft ausgeübt, die Evangelischen haben – oder hatten, die Religionskritik machte auch vor dem Biberacher Ulmer Tor nicht halt – doch ein etwas distanzierteres Verhältnis, dem gläubigere Strenge eingeschrieben ist, zum Lenker der himmlischen Heerscharen und Herrschaften. Seit den grausamen Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges wurden die religiösen Differenzen in der Freien Reichsstadt (ehedem) durch die segensreiche Erfindung der Parität gemildert, die beiden Glaubensrichtungen – eine Rarität in deutschen und anderen Landen – sogar die Benutzung ein und derselben Stadtpfarrkirche (in APO-Zeiten „St. Phallus“ genannt) zur Ausübung der unterschiedlich gewordenen Kulte erlaubt. Und das funktionierte über Jahrhunderte hinweg, auch in der paritätischen Benutzung weltlicher Ämter! Freilich, während einer allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft schliffen sich auch die strikten Abgrenzungen der religiös bedingten Verhältnisse ab, und in einem der Jahre, die weit zurückgelassen worden sind, setzte sich ein neuer Rat der Stadt und Gemeinderat später aus Bürgern beider Konfessionen zusammen; so weit ist man in Biberach also schon seit längerem. Doch zeigt nicht die Tatsache, daß jene Regelung nach dem Westfälischen Frieden eingehalten worden war, vom Wirken und Walten eines Herrgöttles speziell für diese wahrlich kleine urbs?
Auf dem höchsten Punkt des Lindele, der höchsten Erhebung über Biberach, von der aus früher, als dort die Bäume noch nicht so hoch in den Himmel gewachsen waren, das Alpengebirge betrachtet werden konnte – in eine runde Platte, auf der ein hochklappbarer Metalldeckel zum Schutz vor den Witterungseinflüssen lag, waren die einzelnen Gipfel eingraviert worden – und wo ich mich als Kind und Jugendlicher ab und zu herumtrieb, steht hoch aufgerichtet ein hölzernes Kruzifix; das steht über dem Tal, aber der Ermordete, der da hölzern hängt, der war das Herrgöttle vo Biberach nicht; der soll einmal der Sohn gewesen sein, vor annähernd zweitausend Jahren; und auch das nicht, sondern dessen Symbol. Ich entfremdete mich aber im Lauf der Jahre von seiner Lehre, und wenn nicht von seiner, so von der seiner Apostel und Epigonen und seiner Kirche, die er nie hatte begründen wollen, und deshalb war er, als ich als Jugendlicher mit Pfeife dort oben herumspazierte – ungefähr in dem Alter, in dem Wieland mit Sophie Gutermann, spätere LaRoche, dort flaniert hatte –, nur der übliche INRI, und irgendwann dachte ich im Vorübergehen: „Es wäre besser gewesen, du wärst nicht auferstanden, es wäre eine Illusion weniger in der Welt.“ Das Liabe Herrgöttle vo Biberach mußte ich – evangelisch eben aufgezogen – auch nie bemühen, wenn’s um ein Mädle ging, aber um ein Mädle ging’s bei mir ja nie. (Wie war denn das übrigens wirklich, das mit dem Lieblingsjünger des Nazareners?)
In einer ununterbrochen blutig hin und her gerissenen Welt sollte aber über die Lehre dessen, den die damals herrschende Weltmacht als „König der Juden“ verspottet hatte, nicht gespöttelt werden, an einem Karsamstag, denn seine Worte und Taten waren nicht ohne, wenn sie denn geschehen waren, nur die seiner Jünger waren ohne heiligen Geist, ohne Erleuchtung; zu oft gnadenlos. Ausnahmen gab’s und gibt’s immer. An ihm wurde exemplarisch vorgeführt, wie die schönen menschenfreundlichen Ideen immer von den Exekutoren der tristen Realpolitik umgebracht werden. Das ist die wahre Lehre davon, das bleibt leider wahr.
- Sonnig, nachmittags zog sich der Himmel zur dritten Stunde zu; aber gestern war Freitag.
30.3.2002

28
Mrz

28.3.2002

Im März 1972 bekam ich über Nacht einen Hautausschlag; am linken oder am rechten Ohr? In meiner Kindheit, zu der das Jahr 1972 wahrscheinlich nicht mehr gehörte, in den Jahren, in denen das kleine Zimmer das Wohnzimmer gewesen war, hatte ich eine Zeitlang an Psoriasis, Schuppenflechte, gelitten, hatte mit Salbe bestrichene Umschläge am linken Unterschenkel erhalten; noch heute sieht man diese längliche Stelle, an ihr ist die Haut all die Zeit über immer weißlich und trockener als sonst und normal geblieben, nach der Abheilung. Ich habe aber auch eine andere, noch diffusere, zufasertere Erinnerung aus jener Zeit: war, im kleinen Zimmer, nicht eines Tages oder Abends dieses Heizgerät, das „Höhensonne“ genannt wurde (wurde es so genannt, bildete die „Sonne“ nicht ein mit einem anderen Wort zusammengesetztes Substantiv?), ein hohlspiegelähnliches Leichtmetallgebilde mit einer aus der Mitte herausragenden Heizspirale, die rot erglühte, wenn sie die volle Wärme spendete, gegen mein Bein gefallen? Und war dieser häusliche Unfall womöglich die Ursache der Bandagen und Umschläge? Vielleicht bilde ich mir aber den Vorfall mit dem Heizgerät nur ein. Ich favorisierte immer die Erinnerung – selbst wenn sie eine künstliche sein sollte, und warum sollte sie dann eine solche sein? – an die Schuppenflechte, denn sie unterstützt meine psychologischen Selbstdeutungen plausibler, die, in diesem Vorfall, oder Fall, sich darauf beziehen, daß die Psoriasis, die in den meisten Fällen erwiesenermaßen vor allem eine psychosomatische Genese hat, nach der Bedrohung meiner Mutter durch meinen Erzeuger aufgetreten sein könnte. Könnte – den zeitlichen Zusammenhang eruierte ich nie. Viel Zeit war vergangen, als ich an die Möglichkeit des Zusammenspiels dieser Ursache mit einer solchen Wirkung zum ersten Mal dachte; irgendwann zu Anfang der achtziger Jahre. Im März 1972 stellte ich also, an einem nächsten Morgen, diesen Ausschlag am Ohr fest. Er juckte, aber nicht sehr heftig, war rot, überzog das Ohrläppchen, das auch angeschwollen war. Ein Insektenstich konnte es nicht gewesen sein; wie auch Dr. N., der Hautarzt am Marktplatz, nach zwei Tagen diagnostizierte, denn erst dann ging ich hin. Er war ein wenig ratlos, konnte eine genaue Aussage nicht machen. Eine Allergie? Er verschrieb eine Salbe, die schmierte ich eine Woche lang auf’s Ohr, dann bemerkte ich eine kleine Veränderung zum Besseren. Ich ging wieder zum Arzt, der besah sich das Ohr, verordnete weiteres Einsalben. Dann verschwand das Ekzem. Es kehrte nie zurück. Es war eine Allergie gewesen, eine psychogenerierte. Diese Diagnose stellte ich mir selber, weil der Arzt dazu nicht in der Lage gewesen war. Mir stand nämlich zum 5. April 1972 ein gewisser Termin bevor: der Tag, an dem ich die Bundeswehr kennen lernen sollte.
Mein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung, am 10. Oktober 1969 gestellt, war von „Prüfungsausschuß“ und „Prüfungskammer“, beide beim Kreiswehrersatzamt Ravensburg ansässig, abgelehnt worden. (Im Abstand von einem dreiviertel Jahr war ich in die zweite oberschwäbische, näher am Bodensee gelegene Stadt von regionaler Bedeutung gefahren, um meine Gewissensentscheidung prüfen zu lassen. Das war damals noch so. Den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern war 1969 bis 1972 noch keineswegs so geläufig unter den jungen Männer wie in den Jahrzehnten danach, und einfach ein Kärtchen abschicken, damit war’s auch nicht getan. Drei Herren saßen in einem dusteren Zimmer an einem breiten Tisch vor mir, ich vor dem Tisch vor ihnen, im Jackett und mit schon langen Haaren. Einer der Herren, der „Vorsitzende“, übrigens beider Erkundungskommissionen, ein fetter, großer Typ, führte das Wort, die beiden anderen hatten nichts zu sagen. Einer der „Beisitzer“ las beim ersten Mal gemütlich seine Zeitung, während ich meine Gründe vortrug, der andere hockte gelangweilt daneben. Die anderen Adjutanten des Dicken bei der zweiten „Anhörung“ verhielten sich nicht viel anders; pro forma eine Frage gestellt, um die Berechtigung ihrer Anwesenheit zu beweisen, damit hatte es sich. Eine reelle Chance, von diesen Herrschaften ein Gewissen, das sich, staatsgefährdend, sogar bis zum Tötungsverbot – das immerhin unter den Sollvorschriften des Heiligen Buches, das in einer traditionell stockkatholischen Gegend wenigstens an gewissen Tagen zitiert wird, aufzufinden ist – erstrecken könnte, attestiert zu bekommen, wäre nur dann gegeben gewesen, wenn der Antragsteller – hübsche Idee des säkularen Gesetzgebers, ein Gewissen auf Antrag bescheinigt zu bekommen, eventuell – religiöse Aktivitäten aufzuweisen gehabt hätte, natürlich vom Pater sozusagen beglaubigt. Der Antrag, lästiger Wisch, war vom Tisch gewischt worden. Ich würde aus politischen, nicht aus Gewissensgründen verweigern. So wurde aufgeschrieben und für gültig erklärt, en passant, daß Politik und Gewissen nichts miteinander zu tun haben, und das war ja ein brauchbares Zugeständnis, an einen linksradikalen Schüler ... , jedenfalls in den Zeiten des Vietnamkrieges. Mit kalter Wut im Bauch und noch mehr davon im Kopf war ich im Zug nach Biberach zurückgefahren, die Formulierung der Klage gegen diesen tollen Staat schon im Kopf.) Diese Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Verteidigung, Bonn, dieser vertreten durch die Wehrbereichsverwaltung V, Stuttgart, etc., war Ende März 1972 anhängig, aber nicht verhandelt worden; zu viele Verfahren beim Verwaltungsgericht Sigmaringen vor meinem. Der Ohrausschlag war eine körperliche Reaktion auf diesen inneren Konflikt, der Einberufung nicht Folge leisten zu wollen und doch, bei Androhung diverser Strafen, inklusive zivil-rechtlicher, zu sollen, gewesen. Am 5. April rückte ich ein.
- Vom Morgen bis zum Abend Sonnenwetter. Milder als gestern.
28.3.2002

27
Mrz

27.3.2002

Vermutlich wurde ich gefragt, was mein Erzeuger mich gefragt hatte. Hatte er etwas von den Lebensumständen und der Einstellung meiner Mutter zum Grundproblem, das die zwei miteinander hatten, erfahren wollen? (So wurde ich freilich nicht gefragt, so frage ich heute.) Aus meinem Mund, denn bekanntlich tut Kindermund Wahrheit kund. Ich meine sagen zu dürfen, daß ich aufmerksam und vorsichtig genug und so zuverlässig fest an der Seite meiner Mutter stand, daß mir kaum etwas entschlüpft sein konnte, was meiner Mutter hätte schaden können – Kinder können in solchen Momenten ja gewitzt und – vielleicht sogar das – gewarnt sein. Für mich stand immer fest, daß ich zu meiner Mutter gehöre, nie empfand ich auch nur das kleinste Bedürfnis, mit diesem Mann, der offenbar mein Vater war, längere Zeit, gar auf Dauer, zusammen zu sein. In der Zeit, in der dieser Sonntagsbesuch stattfand, fuhr ich, einmal, vielleicht mehrmals, ich weiß aber nur von dem einen Mal, mit meinem Vater hinaus ins Grüne; im Seitenwagen seines Motorrads. Gibt es an einem Motorrad eine kleine Benzinpumpe, die mit dem Finger betätigt wird? So eine Erinnerungssequenz, wie der Finger über einem dünnen Metallröhrchen auf und nieder wippt, habe ich vor dem inneren Auge. Ich saß im Beiwagen, von einer Plane bedeckt, wir fuhren durch den Burrenwald nordwestlich vor der Stadt – nehme ich an, es ging jedenfalls durch einen Wald. Das war das dritte Erlebnis, das ich in meiner Kindheit mit meinem Vater hatte, das mir schemenhaft im Gedächtnis blieb.
Daß mein Vater mit einer anderen Frau ein Verhältnis hatte, das war mir längst bekannt. Frau H. sagte mir Jahrzehnte danach, ich hätte diese Frau gehaßt und mich so geäußert. Ich haßte sie aber nicht, weil sie mir den Vater wegnahm – ich kann das verständlicherweise nicht belegen; sondern weil sie meiner Mutter ständigen Kummer machte; das war etwas anderes. (Freilich kann ich nicht ausschließen, das Gefühl gehabt zu haben, daß es nicht so übel wäre, einen Vater zu haben; aber dann einen weniger üblen, und wahrscheinlich haßte ich diese fremde Frau, die jünger als meine Mutter, natürlich, war, deshalb, weil sie meinen Vater zu einem schlechten Mann machte. Ich wußte damals noch nicht, daß ich einen Halbbruder habe, daß mein Vater schon einmal mit einer anderen Frau verheiratet gewesen war, daß auch diese Ehe wegen seines Verhaltens nicht gehalten hatte; hätte mich auch kaum interessiert. Habe ich schon geschrieben, daß meine Mutter diesen Mann unbedingt wollte? Daß die Initiative zu dieser Ehe von ihr ausging?) So war, so sei es gewesen, und ich weiß fast nichts mehr davon.
In den sechziger Jahren gab es Abende, an denen ich meiner Mutter ihre – mal besser, mal schlechter versteckte – Niedergeschlagenheit ansehen konnte. Eine Begegnung mit ihrem Mann (geschieden waren sie ja nicht) und dessen Lebensgefährtin irgendwo zufällig in der Stadt war geschehen. „Ich hab den Alten mit dem Weib gesehn“, sagte sie dann; ihre Miene war verbittert, die Worte „den Alten“ oder „der Alte“ kamen verächtlich, einmal heftiger, einmal deprimierter, in unterschiedlichem Maße eben, wie die Kraft, Verachtung und Trauer ausdrücken zu können, nach solchen schockierenden Augenblicken noch reichte, hervor. Das war aber alles, was sie dann sagte, das, was man stumme Verzweiflung nennt, hatte sie so in der Gewalt, daß sie es bei dieser Einsilbigkeit fast immer belassen mußte; jedes ausführlichere Sprechen darüber hätte die Situation nur stärker werden lassen. Ich entgegnete meistens nichts darauf, und wenn doch, war es etwas wie: „Vergiß doch endlich den Quatsch“, was weder einfalls- noch hilfreich war; eben weil ich wußte, daß ihr nie und niemals zu helfen sein würde, daß sie diese existentielle Demütigung, die ihr das Leben zerfraß, nicht überwinden würde, wußte ich nichts anderes zu sagen, und versuchte ich doch, sie mit einigen jugendlich-verständnisvollen Worten zu trösten, lächelte sie müde und schmerzlich. Müde war sie dann, nahm eine ihrer Beruhigungspillen ein und legte sich auf die Coach. Ich wußte schon als Dreizehn- und Vierzehnjähriger: eines Tages würde sie zu viele von ihren Pillen nehmen.
- Sonniger, kalter Tag, undramatische Himmelsentwicklung während der Abenddämmerung.
27.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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