16
Mrz

16.3.2002

Gegen Ende März 1978 eröffnete der Kinobesitzer Adrian Kutter in Biberach im Gebäude des „Urania“-Kinos sein neues „Sternchen“. Ich hatte noch immer mein Zimmer in der Karpfengasse 24, nun das größere, das, dessen zwei Fenster zur schmalen Gasse zeigten, ihnen gegenüber lag die „Bierhalle“, eine der schlechtbeleumdeten Kneipen der Stadt, die unsereins nicht frequentierte. An jenem Tag, an dem das Kino, von dem Gerüchte zu hören gewesen waren, wie ungewöhnlich es werden würde, und der Kinobesitzer selbst hatte mir schon nach einem Filmbesuch geschildert, wie es aussehen würde, aber ich hatte es eher mit einem Ohr gehört, war ich doch neugierig und ging also hinüber zur Waldseer Straße und zur Saudengasse, wo die beiden Filmtheaterbetriebehäuser noch immer stehen. In der Hindenburgstraße begegnete ich zufällig meiner Mutter und bat sie um fünf Mark, denn ich war pleite und hatte so die Ahnung, daß ein Bier mir gut tun würde, um den Kater der vergangenen Nacht ein wenig zu besänftigen. (Ich hatte öfters zwei, denn Holden Panama Johnson ruhte sich nach seinen oft tagelangen Streifzügen durch die Stadt auf dem langen blauen Sofa aus.) In den zweieinhalb Jahren, die ich in der „Karga“ wohnte, hatte ich natürlich auch mein Zimmer in der Neubauwohnung meiner Mutter auf dem Hühnerfeld, in die wir ja im Herbst 1975 gezogen waren, und oft war ich dort, zum Mittagessen auch unter der Woche, auch fast jeden Sonntag, wenn auch nicht immer und regelmäßig. Es kam schon vor, daß ich mich dort für ein paar Tage nicht sehen ließ. Ich erhielt den Fünfer und schlenderte damit zum Kino, ging über den großen Hof zwischen den beiden Kinogebäuden, die kleine Treppe zum „Urania“-Eingang hinauf. Im Foyer führte eine neu eingebaute Treppe mit zwei Absätzen um 180° hinauf in einen ersten Stock, der früher unbenutzt gewesen war. Die schwarze Tür zu diesem neuen Kino (es roch nach Farbe) stand offen, ein Bierfäßchen auf einem Tischchen mit Pappbechern darum herum dahinter. Ich trat ein, viel los war nicht, wer konnte sich’s denn erlauben, an einem Freitag Vormittag zu einer Kinoeröffnung zu gehen; der Kinobesitzer und Wim Wenders standen an der Theke vor der linken Wand und unterhielten sich.
- Ein trüber Tag, und kalt.
16.3.2002

15
Mrz

15.3.2002

Es war bestimmt nach dem Streik und auch nach Ostern 1970, als ich mit G. im „Biberkeller“, einer bekannten Gastwirtschaft mit einem großen Biergarten, die an der Kreuzung von Birkenharder, Mond- und Gaisentalstraße liegt, zusammen saß, um ihm bei einem Aufsatz, den er aufgebrummt bekommen hatte, behilflich zu sein. Er hatte sich im Unterricht von J. mit seinem Protestverhalten zu weit nach vorn gewagt und das war nur deshalb zu weit nach vorn gewagt, weil seine Äußerungen nicht gut genug durchdacht gewesen waren; er solle, wenn er schon davon rede, wissen, wovon er spreche. An dieser Strafarbeit also seine Gedanken ordnen. Nun, das war ja nicht ganz falsch und konnte nur nützlich für andere Auseinandersetzungen sein. Es war ein verregneter Tag. Wir hockten im fast leeren Lokal, tranken das „Kopfschmerzbier“ und formulierten an den Sätzen. (In Biberach wurde von einer bestimmten alteingesessenen Brauerei ein Bier gebraut, das spätestens nach dem Genuß von zwei „Halben“ unweigerlich leichte, lästige Kopfschmerzen hervorrief. Ob das noch immer so ist, kann ich nicht sagen, denn das Biertrinken hatte ich mir schon lange abgewöhnt, als ich mir alle gebrauten, gebrannten und gekelterten Alkoholika im Sinn des Worts über Nacht abgewöhnte.) G. schrieb, ich diktierte; das meiste von dem, was allmählich auf dem Papier stand. Das blaue Suhrkamp-Bändchen “Versuch über die Befreiung“ von Herbert Marcuse lag auf dem Wirtshaustisch, mehr „Material“ hatte ich nicht mitgebracht, aus dem wurden Zitate entnommen. Als G. fertig war, war ein erstklassiger „Neue Linke“-Aufsatz entstanden. Die Große Weigerung! Ich meine, ich habe mich ganz gut an sie gehalten. Nicht mitmachen bei kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung. Sich vom „System“ nicht vereinnahmen lassen, den Hierarchien trotzen! Diese Forderung war zwar nicht sehr marxistisch, aber ihr hoher moralischer Anspruch gefiel mir und hatte was für sich, und für mich, wie ja überhaupt das linke „Engagement“ in seinem Kern mit meiner christlichen Erziehung gut korrespondierte, in der das Gerechtigkeitsdenken und der Einsatz für die Schwachen und Benachteiligten sozusagen Beschlüsse des innerlichen ZK (nicht das der Katholiken ...) waren, von denen allerdings die Kirchenideologie nichts hatte, weil sich diese Beschlüsse gegen sie wendeten; die guten Geister, die die ernsthafte gedachte und praktizierte Christenmoral hervorgerufen hatte, waren sehr kritische, die sich in ihrer Strenge und Unbedingtheit wiederum mit der pietistischen Kargheit des protestantisch-lutherischen Denkens vertrugen. Schon deshalb konnte der rheinische (katholisch-kölnisch klüngelnde und klingelnde) Heuchlerkapitalismus – „Die Seele in den Himmel springt, sobald das Geld im Kästlein klingt“ – der „BRD“ und seine alles andere als jenseitssehnsüchtige Wirtschaftswunderreligion, mit der die Deutschen ihre Nazisünden vergessen wollten, von mir nicht verinnerlicht werden. Die Große Weigerung – ich versuchte sie zu leben.
- Spätwintertag mit großen Schneeflocken, die mittags Straßen und Wege, Dächer, Autos, Passanten, Hunde, Bäume, struppige Gehölze, Straßenbahnen, Baumaschinen, Regenschirme etc. pp. befeuchteten, für eine kleine Zeitspanne.
15.3.2002

13
Mrz

13.3.2002

1970, das genaue Datum ließe sich ja ermitteln, in Zeitungsarchiven, im Internet, auch in Akten des ermittelnden Verfassungsschutzes, in einer schon oder noch wärmeren Jahreszeit, wurden in ganz Baden-Württemberg die Gymnasien und auch – es mag sein, daß dies nur eine Behauptung ist – Hochschulen wegen der Einführung des Numerus clausus bestreikt. „Stürzt den Hahn, den alten Gockel, runter vom Ministersockel!“, skandierten die Demonstranten in Stuttgart. Hahn war der Name des Kultusministers. In Biberach wurde nicht demonstriert, sondern nur mit Fernbleiben vom Unterricht gestreikt. Als kleiner Nebenaspekt der abebbenden „Studentenbewegung“ ging dieser landesweite Schülerstreik nicht nur in die Annalen der Zeitgeschichte, sondern gar in die Seiten der Biberacher Stadtgeschichte, mit einigen Zeilen, ein. Wie in Biberach üblich, kam auch dieser Aufruhr aus einer roten (kleines oder großes „r“?) Zelle im Wieland-Gymnasium, „WG“ genannt. Im Wirtschaftsgymnasium war offenbar ich der Überkritische – „du bist zu kritisch“, hatte sogar Max S., einer der Aufrechten Sieben, die mit ihren Meinungen auch nicht immer hinter dem Berg hielten, zu mir gesagt – und das nicht ungern, und diese „Sieben gegen Theben“, einschließlich mir, beschlossen, sich diesem Streik anzuschließen. Vermutlich wurde sehr rasch eine ad hoc-Resolution verfaßt und vorgetragen, die die zu erreichenden Ziele des Streiks aufführte und begründete, oder es war eine solche schon sehr schnell in die Schule gelangt (was wahrscheinlicher ist, denn wie sonst hätten wir an jenem Vormittag von dem Streik erfahren sollen?), aber schon in unserer Klasse war ihm kein wesentlicher Erfolg beschieden. Hatten wir nicht auch eine kurze Diskussion mit Studiendirektor J.? Der mit Konsequenzen drohte? Unverdrossen klopften wir, so höflich ging es doch zu, an die Türen der anderen Klassenräume der Schule, weit zu gehen hatten wir nicht, denn es gab nur zwei Parallelklassen und die drei nachfolgenden, bauten uns vor den verblüfften Schülerinnen und Schülern auf (die Lehrkräfte guckten etwas verwirrt) und trugen den Minderheitsbeschluß unserer Klasse vor. (War es nicht wie damals bei Bolschewiki und Menschewiki? Auch damals überrumpelten die Bolschewiki, die „Minderheitler“, die Mehrheitsfraktion; später wurde daraus der Demokratische Zentralismus ...) Beteiligten sich auch Schüler dieser Klassen am Streik? Ich weiß es nicht, ob sich dort jemand anschloß, beachtete es auch nicht genau, denn Eile war geboten. (Schnell zu sein ist immer einer der wichtigsten Faktoren für das Gelingen einer Revolution.) Eine Abordnung marschierte hinüber zum Wieland-Gymnasium – seine Lage innerhalb der städtischen Topographie ist schon bekannt ist, das Wirtschaftsgymnasium befand sich in der Dollinger-Schule, in einem schmutzig-rosafarbenen Bau aus dem Jahr 1952 neben der Fachhochschule für Architektur an einem anderen Ort in der Stadt – , wo die Solidarität, sozusagen die uneingeschränkte, mit der blitzartig über’s Ländle herein geschwappten Streikwelle bekundet wurde. Im dort improvisierten Streikbüro wurde es wohlwollend notiert. Wir kehrten um, wo die anderen unserer Klasse lernend sitzen geblieben waren, um ihre Karrieren nicht schon zu diesem Zeitpunkt zu gefährden, woran man sehen kann, daß Sitzenbleiben das Vorankommen keineswegs behindert, schnappten unsere Mappen und trollten uns zu informellen Gesprächen in ein Café.
Wir ließen uns also am nächsten Tag nicht sehen. Nachrichten kamen: Oberstudiendirektor T. hatte die Eingangstüren der Schule abgeschlossen, damit während der Unterrichtszeit niemand hinein und niemand hinaus konnte. Ich saß – und war nicht auch Hildegard, die einzige Frau unter den Glorreichen Sieben, dabei? – im „Rebstock“ in der Consulentengasse und studierte die Streik-Artikel in der „Schwäbischen“ und der „Stuttgarter Zeitung“ und in der „Frankfurter Rundschau“. Schon las man, daß er abzubröckeln begann. Natürlich machten auch wir uns ein paar Gedanken, denn irgendwelche disziplinarischen Folgen waren nicht ausgeschlossen. Aber in Stuttgart war man nervös geworden, es gab Zusagen für „Überlegungen“ usw., viel konnte man darauf nicht geben, aber der Spaß war nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Wann wurde dann der Streik für beendet erklärt? Wir jedenfalls setzten uns nach drei Tagen wieder auf die Stühlchen. Es gab keine Konsequenzen. Was immer hinter der Tür des Lehrerzimmers gesagt worden war – wir erfuhren es natürlich nicht. Die revolutionären Umtriebe waren damit beendet. In meinen volkswirtschaftlichen Klassenarbeiten gebrauchte ich ein marxistisch eingefärbtes Vokabular, was D. – der mehrmals versuchte, mich mit Läppischkeiten im Unterricht auflaufen zu lassen, was aber leichte Havarieschäden eher bei ihm verursachte, er ließ es sein, seit geraumer Zeit schon ist nun er Direktor des Wirtschaftsgymnasiums – offensichtlich nicht störte, solange die Fakten und Zusammenhänge stimmten; marxistisch-materialistisch betrachtet stimmten sie eigentlich noch „besser“. Die makroökonomischen Belange interessierten mich durchaus, D. honorierte das mit der Note „gut“.
Bei E., einem älteren, musischen freundlichen Mann, der Querflöte spielte, charmant zu den jungen Damen der Klasse war, sich öfters laut darüber wunderte, wie er ausgerechnet an diese Schule gekommen war, freigeistige Sprüche über Himmel und Hölle äußerte und mich nach dem Streik einmal milde ironisch – in dieser Ironie glaubte ich eine Spur Anerkennung zu hören – als „Volkstribun“ ansprach, hatten wir Englisch; ich lernte etwas. Wir lasen „Macbeth“, wir lasen Coleridge. „In Xanadu did Kublai Khan a stately pleasure dome decree / Where Alph, the sacred river ran / Through caverns measureless to man / Down to a sunless sea ...“ Super.
Mit dem letzten Deutschlehrer – sein Vorgänger Z., der nach Mozambique ging, hatte die Angewohnheit, meine Aufsätze vorzulesen, auch vergatterte er zweimal Willi F., meinen Nebensitzer, er ist Deutschlehrer geworden, dazu – freundete ich mich an. Wir duzten uns; nicht in der Schule. In K.s Wohnung hielt ich dann bis zum Sommer 1971 meinen Arbeitskreis im „Republikanischen Club“, dem er angehörte, ab. „Ben“, wie er auch von den andern Sieben Samurai genannt wurde, die mit ihm ebenfalls einen ungezwungenen Umgang hatten, war Ende Zwanzig und verließ mehr oder weniger fluchtartig das Wirtsch.gym., in dem er sich völlig am falschen Platz sah, und ließ sich, nach diesem doch noch von radikalen Aktivitäten, die allerdings außerhalb der Schule stattfanden, geprägten letzten Schuljahr vom Goethe-Institut nach Japan schicken. Wir schrieben uns einmal hin und her, über Thomas Mann und den Visconti-Film „Der Tod in Venedig“, und in seinem Brief stand, daß Heinrich Mann ihm näher sei; dann versandete diese Bekanntschaft. Ein paar Monate zuvor hatte er gewollt, daß ich mich der mündlichen Prüfung stellen sollte, die in seinem Fach und bei E. von meiner Freiwilligkeit abgehangen hätte; aber ich schlug es aus, es war mir zu viel Ritual dabei, ich wußte, was ich wußte, das genügte.; ich ließ die Spitzennote in diesen Fächern sausen. Zum Schluß wurde es aber wegen Mathematik, Sport, BWL und Physik doch noch knapp. Das „Mündliche“ in Physik, dem ich mich notgedrungen unterwarf, brachte mich durch den Engpaß. Als der Quatsch vorbei war, sagte ich J., ich wüßte sehr wohl, daß er es nicht ungern gesehen hätte, wäre ich durchgerasselt. Er grinste nur. Dann lag der Wisch im Schrank; ich warf Mathe-, BWL- und VWL-Bücher in zwei Plastiktüten, den Rechnungswesenschund dazu, und überantwortete diese dem Müll. Mir war ganz klar, niemals mehr würde ich damit zu tun haben. So war’s ja dann auch.
- Grau, unfreundlich. Abends Regen.
13.3.2002

12
Mrz

12.3.2002

Die Nichtsympathie für J. nahm zu, als er mir Ende September 1969 nicht erlaubte, dem Samstagsunterricht ausnahmsweise einmal fernbleiben zu dürfen; ich hatte noch brav gefragt. Ich wollte zu einem Treffen von Science Fiction-Fans, zu einem „Con“, nach Saarbrücken fahren, der an jenem Samstag schon am Nachmittag begann. (Bis zum Ende meiner Schuljahre hatten wir uns auch an den Sonnabenden, trotz Unterrichts auch an einem Nachmittag in der Woche, hinter die Schulbänke zu quetschen und wäre das bei den Schülern von heute so, gäbe es keine schlechten Ergebnisse bei PISA-Studien.) J. konnte meinen Erklärungen, daß es sich in dieser Angelegenheit ja um die Pflege meiner literarischen Interessen handele, nicht folgen, was mich an einem Betriebswirtschaftler nicht verwunderte, er erlaubte es nicht, meinte, ich hätte anwesend zu sein, andernfalls wäre ein Gespräch „mit Ihrer Frau Mutter“ nicht auszuschließen. Ich brachte diesen Vormittag hinter mich und fuhr dann nach Saarbrücken, wo mich A. Stuby, Initiator und von 1980 bis 1991 Leiter des Saarbrücker „Max Ophüls Preis“-Filmfestivals und immer noch Leiter des Filmhauses, mit seinem flotten Alfa Romeo-Sportwagen abholte und zur Tagungsstätte fuhr. Dort lernte ich von den Anwesenden ein paar Leute kennen, mit denen ich auch später noch zu tun hatte, so war H. Pukallus dort anwesend, der mir nur Tage später aus Düsseldorf „Info-Material“ des Verbands der Kriegsdienstverweigerer zukommen ließ. Im Kino, das in späterer Zeit Abspielstätte für die Filme des Saarbrücker Festivals wurde, sahen wir am Sonntag „Fellinis Satyricon“ an; über diesen Film schrieb ich meine erste Filmrezension, die in der SFT erschien. Am Montagmorgen war natürlich Schule; die Bahnverbindung am späteren Sonntagabend nicht mehr die beste, so wurde in der „Bierakademie“ beratschlagt, wie ich zur richtigen Stunde in Biberach sein konnte. Ein Student aus Stuttgart, ebenfalls Teilnehmer des Cons, nahm mich in seinem VW-Käfer mit. Wir fuhren durch die Nacht nach Stuttgart und dort zuerst zum Hauptbahnhof, um die Abfahrtszeit des ersten Zuges nach Ulm zu erkunden. Die drei Stunden, die ich noch warten mußte, verbrachten wir, etwas einsilbig uns etwas erzählend, bei Kaffee, den der freundliche Student, ich behielt seinen Namen nicht im Gedächtnis, uns kochte, in seiner kleinen Wohnung, bis er mich zum Bahnhof fuhr. Ich war, übernächtigt, aber pünktlich, 7.30 Uhr in der Schule.
- Ein eher trüber Tag, den hin und wieder etwas Sonnenlicht heller auffrischte.
12.3.2002

11
Mrz

11.3.2002

Das Wirtschaftsgymnasium war die falsche Schule für mich und doch auch nicht. Von humanistisch-geisteswissenschaftlichen Werten war, außer in den Fächern Deutsch und Englisch, wo sie „Stoffe“ hießen – wie freilich auch dort, wo der Begriff „Humanismus“ auch schon eher in die Nähe der Fremd- und Lehnwörter gerückt war, und diese „Stoffe“ sind ja in allen Schulen und Schularten zur späteren Verwertung gedacht, und insofern lagen sie da im Wirtschaftsgymnasium eigentlich schon viel näher an ihrer Bestimmung als in Instituten, wo von Bildung, möglichst umfassender und allgemeiner, gefaselt wurde, was dem Ort meiner Lernbemühungen sogar eine gewisse Ehrlichkeit verlieh –, von vornherein nichts geboten, dazu war diese Schule nicht da, und auch nicht viel zu bemerken, dafür kam wiederholt die Sprache auf andere Werte, eben jene, zu denen Stoffe aller Art gehören, und bezüglich dieser Stoffe, ihrer Verwertung, zu denen nun einmal auch die „humanen Resourcen“ gehören (so war das „Humane“ also doch anwesend), und ihrer korrekten Verbuchung – zumindest wollte man uns beibringen, wie es sein sollte, wie es wirklich ist, würden wir ja erfahren – herrschte ein angenehm aufrichtiger Ton, wenn J., eine forsche Type, in seinem Betriebswirtschaftslehre-Unterricht sagte, wie es war und ist: „Der Unternehmer muß über Leichen gehen!“
Wie ich aus meiner Marx-Lektüre und nicht nur aus ihr, die Zeitungen waren ja voll davon, wußte, hatte er, beziehungsweise der „Gesamtkapitalist“, der IVK, der „Internationale Verband des Kapitalismus“, das bis zum Jahr 1969, in dem diese hübsche Äußerung fiel, schon ausgiebig befolgt. Was wir in diesem Unterricht in manch schöner Stunde hörten, war – richtig beleuchtet – ergänzender Unterricht zu den überall im Lande in helleren Köpfen stattfindenden Marxismusstudien und hätte demnach schon damals mit Berufsverbot für solche Lehrer unterbunden werden müssen, nicht erst 1973, als sich in der so viel mehr Demokratie wagenden Kanzlerägide Willy Brandts – „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ sagte Brandt mit seiner Cognacstimme ins Land – die SPD vor den Linksradikalen, vornehmlich der DKP, die Lehrer werden wollten und sollten, aus Angst in die Hosen schiß; sie schiß sich jedoch nicht wegen dieser paar Studenten in Lehrerstudiengängen in die Bundfaltenhosen, sondern wegen der noch reaktionäreren politischen Kräfte in Verkörperung noch besserer Demokraten, die ihren Franz Josef S. und Alfred D. folgten, die von Rechten, demokratischen, nichts hielten, wenn sie ihren Interessen zuwiderliefen und die sich um die ehernen Rechte von Großgrundbesitzern, Kardinälen und Konzerneigentümern kümmerten und nebenbei ihr eigenes Schäfchen ins Trockene brachten, und weil diese Herren Demokraten – ihr Nachwuchs ist auch nicht weniger geworden – ihnen bei gefürchteten fürchterlich demokratischen Wahlen die mühsam ergatterten Pfründe wieder hätten entwenden können (denn wie es der Zufall so wollte, hatten die ersten terroristischen Machenschaften „der Linken“ das Volk, den großen Lümmel, wie Heines Worte waren, schon gut genug geängstigt), und so kam’s ja auch, und warum auch nicht, es hatte sich nicht viel geändert und es änderte sich danach auch nicht viel; nur die Konten manch unternehmungslustiger Unternehmer änderten sich, wurden noch dicker, so dick wie der, der ihnen die Auffüllung, gegen Bares für die Parteikassen, verschaffte.
J., um die vierzig, vielleicht jünger, war der Klassenlehrer, wir gerieten ein wenig aneinander. Er trug die Haare kurz, fast militärisch (seine Ansicht, und nicht nur seine, wie der Unternehmer vorzugehen habe, bedenkend wäre „militaristisch“ wohl das richtige Wort), und eine Brille mit dünnem Rahmen um die Gläser. Eine kleine Ähnlichkeit mit Schiller – nicht Friedrich, sondern Karl, übrigens eine Figur aus den „Räubern“ – fiel mir auf. Der war in der Regierung Brandt in Personalunion Finanz- und Wirtschaftsminister und deswegen von den Medien zum „Superminister“ ernannt worden. War es nur Zufall, daß J. die Ähnlichkeit kultivierte? Allerdings hatte die Brille des Ministers dickere Ränder. Jedenfalls ließen die anerkennenden Ausführungen J.s zur mittelfristigen Finanzplanung und anderer Errungenschaften des Superminister vermuten, daß der sein heroe war. Superkarli. Oder Superkerli? J. war eher ein Verteidiger der Freien als der Sozialen Marktwirtschaft und plauderte zuweilen aus dem Wissensschatz des BWL-Lehrers zu den Einverstandenen der ersten beiden Reihen, in meinen Augen, die von ihrer Position über dem Stuhl unmittelbar vor der Rückwand des Raumes gelangweilt auf die Bilanzaufstellungen der doppelten Buchhaltung – die Zeichen der doppelmoralischen Haltung – an der Tafel blickten, die unkritischen Angepaßten, die mit mir nichts anzufangen wußten und vice versa.
- Mildes Sonnenwetter. Wolkenschleier über der Stadt.
11.3.2002

8
Mrz

8.3.2002

Die sechziger Jahre – für mich ein angenehmes Jahrzehnt, über das nur wenige Schatten fielen; die Siebziger begannen leuchtend, waren intensiv und lebendig und wurden gegen Ende immer düsterer; die Achtziger waren, trotz Till oder wegen ihm, aber auch wegen anderem, schlimm; die Neunziger wieder freundlicher – liefen allmählich aus und nun stand auch ein Band Beckett, der seine drei großen Romane enthielt, im Bücherbord; 1969 bestellte ich ihn vom Bertelsmann-Lesering. Ich lag auf der Coach und las darin, kam aber nie bis zum Ende auch nur eines der Romane. Erst viel später setzte ich diese Lektüre fort. Aber bis 1968 las ich wenig zeitgenössische Literatur. Böll; und Brecht („Das Leben des Galilei“, „Mutter Courage und ihre Töchter“) und Hemingway („Der alte Mann und das Meer“) als Schullektüre. Kein Grass, kein Thomas Mann. Auch später war Grass nie mein Fall; die „Blechtrommel“ ist mir als Roman unbekannt, nur Anfang der Siebziger sah ich kurz hinein, das war’s. Für Thomas Mann war dann in der ersten Hälfte der Siebziger Zeit. Die Siebziger waren mein Lesejahrzehnt; nach Schule, Bundeswehr, Zivildienst hatte ich die Jahre für mich und hütete mich vor einer „festen Tätigkeit“. Als Handke bekannt wurde, las ich „etwas Handkle“, wie ich in der kurzen Selbstdarstellung in der „Science Fiction Times“ 1969 von mir gab. Irgendwann in diesem Jahr kamen Oswald Wiener und Gerhard Rühm nach Biberach in die (volle) Aula des Wieland-Gymnasiums. Wiener las aus seinem Roman „Die Verbesserung von Mitteleuropa“, das war meine erste Begegnung mit der „experimentellen Literatur“, und ich bestellte mir das Buch und las es; es war ungewöhnlich, inspirierte mich. In der neuen Stadtbücherei las ich von der Wiener Schule, dort stand sogar „Der sechste Sinn“ von Konrad Bayer. Ich lieh das Buch aus. (1996, als die umgezogene Bücherei ihre Bestände neu organisierte und Nicht- und Kaumgelesenes hinauswarf, erwarb ich es, rettete ich es, zusammen mit etlichen anderen Büchern, zum Kilopreis. Kulturschande über Biberach, wo man die Bedeutung eines Konrad Bayer nicht einzuschätzen vermag!)
1969 hatte ich, ehe ich für die SFT zu schreiben begann, zwei Short Stories im Stil von Hemingway – das von der Schule geschenkte Buch hatte seine Auswirkungen gezeitigt – verfaßt, die ich 1970 nach Düsseldorf zu Horst Pukallus – mit dem ich mich befreundet hatte, und in den folgenden Jahren wechselten wir viele Briefe, ich war mehrere Male bei ihm und seiner Frau Sylvia in Düsseldorf zu Besuch, weil er eben auch zum Redaktionsteam der SFT gehörte – zur Ansicht schickte. Er korrigierte so viel, daß ich danach an den Stories gar nichts mehr tat. Schrott. Ich hatte eh begonnen, „experimentelle Texte“ zu fabrizieren, allerdings sehr wenige. Es waren die ersten ernst gemeinten Schreibversuche, denen weitere folgten. 1970 machte ich mich über Biberach etwas lustig, aber es war nicht der Rede und des Schreibens wert, leider, indem ich drei Seiten, in kargen Sätzen, hervorbrachte und das hieß „Auf der Idiotenrennbahn“, und der schöne Marktplatz, seine Passanten und der dort jährlich zu bewundernde Aufmarsch des Schützendienstagumzugs, in dem die Büste des Großen Sohnes der Stadt mitgeführt wurde und wird, sollten damit karikiert werden. (Wenn die Biberacher ihren Wieland nicht hätten, der 1769 ff. mit den Bewohnern des Städtchens gar nicht so einverstanden gewesen war und zugesehen hatte, es verlassen zu können. Ein Ruf nach Erfurt hatte ihn erlöst. („Von Biberach erlöset zu sein wäre Glückseligkeit, aber wohin, und wie ist es möglich, mit Ehre fort zukommen?“) Das Textlein war eher lasch und läppisch als satirisch. Warum auch auf den armen Biberachern – sie sind gar nicht so arm, gewerbesteuermäßig – rumhacken? Das war nie meine Absicht und ist es auch jetzt nicht. Schmunzeln allerdings muß erlaubt sein, denn das Abderitische, das Wieland nicht nur, aber auch in Biberach gefunden und so unnachahmlich zur Sprache und zur Welt gebracht hatte, auf daß man wisse, wie eigenartig und zum Lachen die Abderiten aller Länder – vereinigt euch besser nicht! – sind, ist ihnen nicht ganz verloren gegangen. Ich jedoch hatte um 1970 nicht viel zu sagen und nicht zu schreiben, Fragmente zeugen davon. Und heute?
- Viel milder Sonnenschein, kein auffälliges Wetter.
8.3.2002

7
Mrz

7.3.2002

Im Januar oder Februar 1982 sah ich Till zum ersten Mal. Er war Schüler in einem der Gymnasien, die vom Kino durch einen großen Parkplatz vor dem Kaufhaus und eine Kreuzung getrennt sind und schlug – und das nur ein paar Mal, nehme ich an, denn sonst wäre er mir früher aufgefallen – die Zeit einer der Hohlstunden im „Sternchen“ tot, das in jenen Jahren vormittags als Café mit Filmbetrieb geöffnet hatte. Die Filme waren Kurzfilme, die zu den Spielfilmen für die regulären Vorstellungen mitgeliefert wurden; eine meiner Arbeiten bestand vormittags darin, diese Filme, von denen ich mehrere hintereinander hängte, von ihrer Spule den hier Weizenbier und Kaffee konsumierenden Gymnasiasten – normales Volk verirrte sich kaum noch in’s „Sternchen-Café“ – zum zusätzlichen Vergnügen vorzuführen. T. stand vor dem Abitur; wir redeten zum ersten Mal miteinander über ich weiß nicht mehr was; wir begegneten uns danach einige Male zufällig in verschiedenen Kneipen, die natürlich alle von Heteros voll waren, während der Frühling einzog. Till war zierlich, sehr schlank, fast dünn, hatte dunkle Locken, sah auf freche Weise gut aus und war sexy. Im Juli kamen wir uns näher. Ich war, obwohl ich auch für fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig hätte gelten können, schon dreißig und er mein erster Lover. Das muß man sich einmal vorstellen. Lieber nicht. Davor war nichts, nichts Konkretes, schon gar keine „Beziehung“. Für Jahre hatte ich zuvor unglücklich geliebt, vergeblich, aber hatte die gegenseitige Freundschaft, die daraus erwachsen war, für einige Jahre, schließlich nicht mehr bedeutet als „Liebe“, die vergeht? Ich lebte, wie ich dachte, etwas eigenartig. Überhaupt war mein Leben für einen Schwulen untypisch. Mein Coming out hatte ich mit zweiundzwanzig vollzogen. Man hatte schon vermutet, man war nicht überrascht, man fand’s wohl interessant. (Nur meine Mutter beließ ich im Ahnen.) Es ging ein wenig herum. Ich bekam nie Probleme, bewegte mich ja ausschließlich in einer aufgeschlossenen Siebzigerjahre-Szene mit künstlerisch-intellektuellem Hintergrund, und in ihr war man nicht dezidiert sozialistisch-libertär, aber liberal.
Probleme machte ich mir selber. Ich war hübsch und gut gebaut, überall, aber auch reichlich narzißtisch. Manfred S., der damals in linksagitatorisch-plakativer Weise mit Plakafarben malte, hängte zu seinen Bildern einer Sammelausstellung in der städtischen „Galerie in der Unteren Schranne“, die sich im selben Haus wie die Stadtbibliothek, im ersten Stock, befand, mein Portrait mit dem Titel „Nar(r)ziß“ an die Wand, und ich sah dort wieder blendend aus, war von mir selbst angetan; der Kulturredakteur des örtlichen Blattes, der schon erwähnte D., fragte Herbert K., der sich in seinen Biberacher Jahren den Lebensunterhalt als Schriftsetzer bei der „Schwäbischen Zeitung“ verdiente, erstaunt: „Ist der Diedrich ein Narzißt?“ Sehr lange dunkle Haare umwallten mein Edelmenschenhaupt.
Im Sommer meines Coming outs schrieb ich eine Erzählung von an die achtzig Seiten mit dem an Flaubert anspielenden Titel „Die Formierung der Gefühle“, in dem ich die Phase einer ersten erotischen Verwirrung, die mich für eine gewisse Spanne Zeit beschäftigte, thematisierte, und linke Aktivitäten, Reisen in Großstädte und Narzißmus waren die Zutaten. Ich schickte sie an einen bekannten Verlag und bekam sie auch wieder zurück. Wenn ich mich nicht irre, erhielt ich die Reinschrift, die ich 1977 einmal jemandem auslieh, in alkoholisiertem Zustand, weshalb ich dann auch nicht mehr wußte, wer sie hatte, nie mehr, nur die Erstfassung entdeckte ich vor dem Umzug nach Berlin. Ich mußte diesen Text – wahrscheinlich die erste schwule Erzählung, die je in Biberach an der Riß geschrieben wurde – schreiben. Ein undefinierbarer leichter Schmerz in der Blinddarmgegend belästigte mich. Eines Abends ließ ich mich vom „Strauß“ ins Krankenhaus fahren und dort untersuchen, wobei nichts herauskam. Der Schmerz war geblieben. In Selbstdiagnose erkannte ich, daß dies ein psychosomatisches Signal war. Ich mußte Druck aus mir lassen. Ich begann diese Erzählung zu schreiben. Parallel dazu las ich Proust. Während des Schreibens, wochenlang, biß mich stets dieser kleine Schmerz. Ich gewöhnte mich an ihn. An einem Wochenende, für das ich aus Stuttgart nach Biberach gefahren war, schrieb ich den Text fertig. Am folgenden Tag war der Schmerz, der mich über den Sommer begleitet hatte, verschwunden, ich spürte ihn nie wieder. Diese Erzählung war mein Coming out, einfach davon reden genügte in meinem Fall nicht, ich mußte davon schreiben.
Wenn Schriftsteller schreiben, daß sie schreiben „müssen“, sollte man dem aber keinen allzu großen Wert beimessen. Diese Behauptung hält einer eingehenden Prüfung selten stand. Es mag sein, wie bei mir, daß beim einen oder anderen eine wirklich vorhandene existentielle Not Ursache für sein Schreiben war oder ist. Bei den gut genährten, mit ein paar ersten Erfolgen etikettierten heterosexuellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus einer passabel situierten Mittelschicht ist das eher Prätention, was dann umso deutlicher zutage tritt, betrachtet man die Stoffe, die aus diesem „Muß“ entstehen. Aber, gut, es gibt diese Ursachen. War es nicht Gide oder wer war es, und Gide war es wahrscheinlich nicht, denn diese Abgeschmacktheit hätte er sich doch wohl nicht erlaubt, der meinte, wenn er nicht schriebe, müßte er sich umbringen? Gide, nun ja, dessen innere Spannungen auch nicht gering gewesen sein mußten, vor der Algerienreise, wäre womöglich in eine bedrohliche Krise geraten, hätte er mit dem Schreiben nicht „sublimiert“. Der alte Sigmund. Mit achtzehn, neunzehn Jahren, als andere, wenn bei weitem auch nicht alle, der Gleichaltrigen ihren hetero- oder homosexuellen Sex trieben, letzteren in Biberach vielleicht nicht so oft, trotz der so sexuell befreiten Endsechzigerjahre, dachte ich oft an‘s Sublimieren; die Freudsche Theorie darüber war mir bekannt. Ich begann zu schreiben, es war mir bewußt, daß ich „sublimiere“. „Ich sublimiere eben“, sagte ich mir, aber nicht kläglich, sondern selbstironisch. Längst hatte ich mir angewöhnt, alles Sexuelle mit milder Ironie zu bedenken. Dafür war ich eigentlich zu jung. Das war unnatürlicher als unnatürlicher Sex. In der Theorie, auch der schwulen, war ich typischerweise – das war typisch für mich – immer gut. Seit 1969 las ich, in „Konkret“ und „Twen“, Artikel über’s schwule Sein, der Paragraph, und man sollte heute nicht ganz vergessen, wie hinderlich er für eine Identitätsfindung als junger Schwuler war und auch noch lange blieb, war ja 1969 reformiert worden, obwohl er ganz verschwinden muß, das wäre wichtiger als die spießige Heiratsmanie der „modernen“ Schwulen von heute, solche Artikel durften also erscheinen und sogar gelesen werden, wenn es auch angeraten schien, dies nicht in aller Biberacher Öffentlichkeit zu tun, und bei mir zu Hause schon gar nicht, weshalb ich sie heimlich las.
Ich las Psychologisches darüber. Ich las Literatur, in dem das Thema vorkam. Hubert Fichtes “Das Waisenhaus“, „Detlevs Imitationen, Grünspan“, „Versuch über die Pubertät“. Im Oktober 1970 saß ich drei Meter von ihm entfernt in einem Raum hinter der Aula des Wieland-Gymnasiums, wo er vor einer Handvoll gut frisierter Mittelschichtsdamen aus dem Manuskript „Detlevs Imitationen, Grünspan“ las. Die Damen waren über das, was sie zu hören bekamen, nicht erfreut. Fichte, mit schwarzer Lockenmähne und Vollbart und Ringen an den Fingern, zuckte nur mit den Schultern und verteidigte seinen Text sichtlich gelangweilt. Bei der Besprechung für das SF-Lexikon im Lektorat von Fischer 1975 fragte ich die Lektorin, ob ich den soeben erschienenen Band „Der gewöhnliche Homosexuelle“ von M. Dannecker, die damals erste repräsentative Befragung schwuler Lebensumstände, der bei ihr herumlag, haben könnte (ich hatte dafür kein Geld); sie gab ihn mir. Ich las dieses Theoretische in Stuttgart, konnte mich praktisch aber nicht dazu entschließen, Schwulenbars zu besuchen. Nun hätte ich, anders als in Biberach, ja Gelegenheiten, nicht nur in Bars, gehabt. Ich zog es vor, darüber zu lesen und zu reden. Nach außen tat ich sehr selbstbewußt, aber ich war gehemmt und verklemmt. Ich verwünschte meine vornehme, „anständige“ Zurückhaltung, die nur Feigheit war, konnte aber nicht über meinen Schatten springen. Ich war gar nicht emanzipiert. Es war ein verquerer Stolz, der mich beherrschte.
Als ich Till kennenlernte, lief ich kühl distanziert, narzißtisch, äußerst wählerisch, unglücklich und mit Schönheitsbedürfnis und heimlichen Sehnsüchten durch’s kleine Biberach; mit Frust im Bauch und im Kopf, der sich auch meiner unerfreulichen Jobsituation und der Vernachlässigung der Schriftstellerei verdankte – die wiederum durch die erotische Mangelsituation, die alles überdeckte, hervorgerufen war – und mich in manchen Stunden zum Äußersten hätte treiben können und den Alkoholkonsum seit Jahren kräftig befördert hatte. Durch eine Kleinstadt mit zu wenig gut aussehenden Jungs, in der der Mangel an Gelegenheit zum Dauerzustand geworden war; und in der ich in früheren Jahren, vor dem Ausflug nach Stuttgart, in meiner Rücksichtnahme auf mütterliche Moral und die Rolle als DKP-Kommunist mir zusätzliche Hürden baute – in einer Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern, die zu bald siebzig Prozent aus CDU-Wählern bestand.
Till mochte Frauen, war bi. Er bekam Bedenken, wir lebten in – s. o.; das Städtchen, die junge Szene, war zu überschaubar. Wir trafen uns seltener, dann nach längeren Pausen. Manchmal vergingen Wochen, ich hatte das Gefühl, daß er sich mir entzog. Er ging zur Bundeswehr. Daß er nicht verweigerte fand ich etwas eigenartig, aber er war manchmal eigenartig. Aus Wochen wurden Monate. Ich war säuerlich. Meine Nerven hatten schon gelitten und litten wieder. Jemand sagte: „Du kannst mit deinen Gefühlen nicht umgehen“. Wie richtig, und es ging noch weiter so. Till hielt sich an die Zeile der Berliner Gruppe „Ideal“: „Zu viel Gefühl, da bleib ich kühl.“ Zu Beginn unserer Freundschaft – oder wie sollte man das nennen; eine „Beziehung“? – sagte er: „Biberach ist keine Stadt für Schwule.“ Wußte ich schon, entgegnete: „Dann wird es Zeit dafür.“ Im Herbst 1983 war ich enttäuscht und wütend. Mein Stolz war verletzt, so ging man nicht mit mir um. Ich war nur mit Vorsicht zu genießen. Wieder nahm ich meine Gefühle zu ernst. Der Job zwang mich in die tägliche und nächtliche Maloche, sechs Tage die Woche und am Wochenende, und ließ mir keine Zeit, mich umzusehen und abzulenken. Ich lebte mönchisch, wie ehedem, ora et labora; das „ora“ fiel aus, denn zum Schreiben, eine Art Gebet, kam ich so gut wie gar nicht, auch die Musen hatte mich, der ich für sie nie Zeit hatte, was Tills Vorwurf einmal gewesen war, verlassen; ich hängte dem „ora“ ein „l“ wie „Lustersatz“ an, frönte Wein und Whisky und lutschte Zigaretten.
Es verläpperte sich. Er hatte etwas ausprobiert, so viel war mir klar geworden. Zeit verging. Sehr selten kam er noch; dann nicht mehr. Die Gefühle für Till beruhigten sich, was mich nicht glücklicher machte, auch sie hatten sich dem grauen Sediment der in früherer Zeit aufgewühlten, dann niedergesunkenen und inzwischen versteinerten Empfindungen zugelagert. Weil sie heftig um sich schlugen, als sie abstarben, hatten sie einige Verwüstungen mehr im zarten Innenleben hinterlassen. Nach etlichen Jahren tauchte T. aus den still und ereignislos gewordenen Wassern noch einmal auf. Er war schon lange aus Biberach fort gegangen. Auch dieses Mal fürchtete ich mich vor dem Virus. Was wußte ich denn von seinem Leben? Wo ist er jetzt?
- Bis weit in den Vormittag hinein schlug der von hinten zu betrachtende Neger auf die bebaute Landschaft nieder, bis Ennos sich durchkämpfte, aber unterlag, vorerst; später durfte er sich ab und zu zeigen. Dann wurde er endgültig vom Neger vertrieben, der allerdings abends weiter gezogen war.
7.3.2002

6
Mrz

6.3.2002

Irgendwann im März 1976, Monatsmitte vielleicht, beschloß ich spontan, in die Karpfengasse 24 in der Altstadt von Biberach einzuziehen. Diese WG war mir wohlbekannt, seit 1974 war ich dort schon ein und aus gegangen. Ich engagierte Heinrich S., Peter W. und wen noch?, und wir fuhren in Heinrichs VW-Bus nach Stuttgart in die Senefelderstraße und holten meine Möbel ab, die ich in meinem Zimmer der Wohngemeinschaft, die wir erst am Ende des vergangenen Sommers dort zu dritt, eigentlich zu viert, denn U. lebte mit B. zusammen, gelassen hatte, als ich Ende Oktober Hans-J. F.-U., SPD-Lehrer und Kopf der WG, mitgeteilt hatte, daß ich vorerst wieder in Biberach wohnen würde. (Die arme lebenslustige B., sie heiratete später in München, ist seit viereinhalb Jahren tot; Krebs.) Die Möbel – Schreibtisch, Bett, jenes, in dem ich noch heute schlafe, Matratzen, Stühle, Stehlampe und zwei oder mehr andere Sachen – waren in einem Kellerverschlag zusammengedrängt worden, in meinem ehemaligen Zimmer entdeckte ich den alten Ledersessel, den der neue Bewohner inzwischen gerne seinem Inventar zugeordnet hatte, und die geschnitzte große Sitztruhe. Den Sessel nahm ich an mich (der Bewohner des Zimmers war nicht anwesend, so erübrigten sich eventuelle Seltsamkeiten), die Truhe überließ ich Hajo als Zahlung für meine ausstehende Miete von drei Monaten; denn danach war das Zimmer – ich wußte nichts davon, aber so war es mir kostengünstig lieb – jemand anderem zugesprochen worden; im August oder September hatte ich es zumindest in Teilen selbst gestrichen, rosa zog sich eine vielleicht fünfzehn Zentimeter hohe Wandfußleiste um die Ecken. Hans-J. akzeptierte, den Rest, so versprach ich, würde ich irgendwann später zahlen – was nie geschah. Ich war das gute Stück los und wir fuhren, wäßrige Schneeflocken sanken über die Autobahn, zurück nach Biberach. Heinrich, stämmig und rustikal, wie er war (und ist), und Peter, eher das Gegenteil, schleppten den Schreibtisch die Treppe hinauf in das Zimmer im ersten Stock, der dritte Begleiter, sofern es einen gab, und ich kümmerten uns um die kleineren Gegenstände. Ich gab jedem die vereinbarte Summe und war Mitglied der „Karga“. Von nun an ging’s bergab.
- Das Grau des heutigen Tages war drückender als das gestrige. Nur für wenige Augenblicke drang vormittags Sonnenlicht durch. Nachmittags Regen in dicken Tropfen, der dann aufhörte.
6.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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