5
Mrz

5.3.2002

Ich habe nicht abgeschworen? Wie kann ich das behaupten, wo ich mich doch seit der Mitte der siebziger Jahre nicht mehr „gesellschaftlich engagiere“? Letztes Jahr besuchten Manfred Schmidt und ich zweimal die „Gedenkstätte der Sozialisten“ in Berlin-Lichterfelde, aber nicht Ulbricht und die anderen wollten wir beehren, sondern Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedenken; im Sommer und am 3. Oktober, natürlich am 3. Oktober, nur Manfred und ich und sonst niemand drum herum, und Manfred legte rote Nelken auf Rosas Grab. Aber was kann das sagen? Soviel jedenfalls, daß wir nicht vergessen haben, was uns der Sozialismus einer Rosa Luxemburg und eines Karl Liebknecht bedeuteten und womöglich noch immer bedeuten, und nicht nur ihrer; daß wir nicht vergessen haben, wer sie umbrachte und wer auch heute noch nicht will, daß dieser jüdischen Sozialistin in Berlin das angemessene Mahnmal gebaut wird und auch nicht vergessen haben, wer ihr Denkmal von Mies van der Rohe 1933 zerstörte. Ich vergesse auch nicht die jungen Nazis, die in den Landschaften, in denen für vierzig Jahre ein Sozialismus, unter Voraussetzungen, die Nationalsozialismus – der einzige Sozialismus, den die Deutschen mochten - und Stalinismus mit ihren monströsen Verbrechen bildeten, exerziert wurde, der, nicht zuletzt wegen dieser Voraussetzungen, zugrunde gehen mußte, in alter Sumpfblütenpracht sauber gewaschen nach Deutschland stinken. Ich will aber schon wieder keinen Essay über die Deutsche Einheit und den Kapitalismus als solchen schreiben.
Ich habe insofern nicht abgeschworen, als ich mich der anderen Seite, die ich noch als solche sehe, nicht andiente. So wenig Kompromisse mit dieser Gesellschaftsform wie nur möglich, nahm ich mir damals vor, aber war die Gleichgültigkeit, in der ich „danach“ zu leben begann, nicht der größte Kompromiß, zugunsten der anderen Seite? Ich bin geworden, was ich kritisierte: pessimistischer Intellektueller, der von der verändernden Kraft der „Massen“ nichts hält, weil er zu wissen meint, daß „die Masse“, wenn sie die Möglichkeit hatte, zwischen „Fortschritt“ und „Reaktion“ zu wählen, noch stets die Reaktion vorzog. Ich bin mir sehr im klaren darüber, daß Bildung und Erkenntnis finanzielle Quellen haben. Auch ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und geblieben. Fast ist es ein Glück, daß sie eben nichts zu wählen hat; wenn sie wählen geht, und sofern sie das tut. Das hört sich nicht nur nach dem üblichen Zynismus nach Enttäuschung an, sondern auch ziemlich undemokratisch, und das ist solch eine Haltung wohl auch, und das war sie vermutlich auch damals, denn es war ja die „Avantgarde“ der Arbeiterklasse, Partei und Elite derselben, die dem Fußvolk der Nachhut beibrachte, wo es lang gehen sollte und durfte. Das jedoch kann der Vorwurf an alle Parteien, auch bürgerlichen, sein, und zieht deshalb nicht und zog auch damals nicht, als bestimmte Meinungsmacher dachten, es sei schon eine gloriose Idee, dies zu ironisieren, oder, erinnert man sich an all das Gegeifer, in öder Erregung bierernst – mit deutschem Bier und wenig Ernst im Schädel – herauszuplärren. Ich gestehe, ich sehe für die bürgerliche Fernsehdemokratie nicht viel Zukunft. Oder so: die bürgerliche, die kleinbürgerliche Demokratie – schon im alten Athen war nicht jeder gleich und frei – wird untergehen, die Fernsehdemokratie bleibt. So ist man also geblieben, was man, was ich, eigentlich schon immer war, und einer aus dem Umkreis jener Zeitschrift, ein ganz Strammer, warf mir ja auch 1970 vor, ich sei „Schöngeist“: bindungsunwilliger Kleingeist, der sich Intellektueller nennt und sich weder für das eine noch das andere Angebot entscheiden kann und will, weil beide ihm nicht gefallen. Zu etepetete, und für genau diese uralte Haltung des sich Raushaltenwollens bezieht man Prügel und Kugeln seit alters her, von beiden Seiten. Der Mensch muß sich entscheiden. Muß er das? Durchaus, er muß, auch wenn es ihm nicht behagt. Wenn er dann so tun muß, als behagte es ihm, dann gibt es in aller Regel einen unschönen Schluß.
Mit diesem Thema sind Bibliotheken gefüllt worden, und trägt man Sozialismus und Kapitalismus und die Deutsche Frage dazu, wird man von allem begraben; lebendig begraben; und um das nicht zu sein, um all der Widersprüchlichkeit, die sich als Dialektik schön macht, nicht ausgeliefert zu sein, möchte man allem entfliehen – wohin? Es gibt keinen Ort und keine Zeit, so lange Menschen leben, wo man vor diesem Wust sicher wäre. Für was also entschied ich mich? Ich hatte keinen Bock mehr. Für den Rückzug aus einem aussichtslosen Unterfangen, in dem man sich verschliß, wenn man nicht acht gab, in ein „Privatleben“, in das genug vom „Öffentlichen“ Zutritt hatte, um das Menschenbild realistisch zurechtrücken zu können. Die Skepsis befürwortete eine Indifferenz gegenüber den Großen Erzählungen, mit denen ich nicht mehr viel anzufangen wußte. Ich hatte genug Probleme und für die Verbesserung des fragwürdigen Menschengeschlechts durch Klassenkampf, Sozialdemokratisierung oder Vergrünung nicht viel übrig. Kürzlich jedoch wählte ich, der ich zu fast keiner Wahl mehr ging, PDS; was hat denn das zu bedeuten?
- Die Stadt war wie in eine große graue Schachtel gesteckt.
5.3.2002

4
Mrz

4.3.2002

Die Theorie damals lautete, daß man sich als Intellektueller, als Angehöriger der Schicht der Intelligenzia, mit dem Proletariat zu verbünden und alle Freischweberei zu unterlassen hatte. Leider interessierte sich das Proletariat, auch in Biberach, herzlich wenig für das, was die Oberschüler und werdenden Studenten und die vereinzelt auch auftretenden Auszubildenden, Lehrlinge sagte man zu ihnen, und heute vermutlich auch noch, ihnen auf Flugblättern und an Info-Ständen zu vermitteln versuchten; denn bei Versuchen blieb es. Das Proletariat war eben auch in den eigenen Reihen kaum vertreten, aber das sollte, für ein paar Jahre hielt die Hoffnung seltsamerweise vor, noch kommen; einhermarschieren. Der Idealismus der Jugend und sein kleines Pathos. Die, die von der revolutionären Theorie etwas Ahnung, sogar Wissen, hatten (viele waren es nicht), waren einer materialistischen Philosophie verbunden, „glaubten“ es wenigstens zu sein, dachten und handelten aber durchweg idealistisch. Auch das war eine Dialektik, und überhaupt will ich mich gar nicht lustig machen. Ich schwor nicht ab wie die meisten, die sich groß taten und heute Beraterpöstchen in Außenministerien einnehmen oder gleich dem Ministerium vorstehen; die von den maoistischen und spontanistischen Gruppen, Ex-DKPler wird man dort nicht finden. Aber das klingt ja schon wieder pathetisch, vielleicht etwas gebrochener als damals; noch gebrochener, wäre zu schreiben, denn war das mein Ernst gewesen, meine Überzeugung, von der ich durchdrungen hätte sein sollen, das mit den „arbeitenden Massen“, die der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zur materiellen Gewalt verhülfen? Ich entsinne mich noch genau an den Spätnachmittag, an dem ich das tippte, wie ich vor der kleinen Olivetti-Reiseschreibmaschine stand, denn ich schrieb damals im Stehen. Die Schreibmaschine, die meine Mutter sich in den frühen Sechzigern gekauft hatte, um ihre Texte – denn sie schrieb humoristische Gedichte für gesellige Anlässe in ihrem Verband – auch einmal aus der Hand geben zu können und weil eben eine Schreibmaschine in den Haushalt, den modernen, sowieso gehört, und auf der ich gelernt hatte, mit zehn Fingern zu schreiben – wenigstens das hatte ich im Wirtschaftsgymnasium gelernt – und auch die ersten Texte dann schrieb, stand auf einer schwarzen Jugendstilholzsäule aus dem Besitz des alten Hauseigentümers, die ihre alte Bekanntschaft mit dem Schreibtisch, der ja auch aus der Mansarde stammte, für diese restlichen Jahre in der Lindelestraße 2 nicht aufgeben mußte; sie stand unmittelbar neben dem Schreibtisch, und zwar vor dessen linker Breitseite, so daß der Blick während des Schreibens über den Schreibtisch hinweg aus dem Westfenster meines Zimmers schweifen und draußen die Lindelestraße nach Westen überqueren konnte, Richtung Abenddämmerung. Beim Schreiben dieser Rezension regten sich tief in mir die üblichen Zweifel, denn die bisherigen Erfahrungen – nicht nur mit der Arbeit der eigenen Gruppe, auch die, die andernorts gemacht wurden – waren nicht ermunternd; das Ziel, soviel stand fest, lag in weiter, weiter Ferne. Diese Texte wurden also mit viel Möglichkeitssinn geschrieben. Was Utopisches klang stets mit, in einer Zeitschrift für spekulative Thematik durfte das ja sein, und daran war vermutlich die große Sache selbst nicht ganz unschuldig, denn, mal ehrlich: die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, die Engels behauptete, war irgendwie stecken und immer nur Utopie geblieben, woran die Beschwörungsformel vom jetzt tatsächlich wirklich real existierenden Sozialismus auch nichts ändern konnte, und diese Formel des SED-Sozialismus machte auch schon jeden hellhörig, der hören (und sehen) konnte, denn die Befürchtung, daß dem noch nicht so sein und daß dies ruchbar werden könnte, auch den Sozialisten im eigenen Lande, die eh nur die Minderheit waren, bildete den Unterton dazu. Der Sozialismus bleibt Utopie; nicht viel, aber immerhin. (Also doch abgeschworen?) Aber so defaitistisch dachte ich damals doch nicht, und natürlich wäre es ungeschickt gewesen, hätte man sich allzu viel von diesen Zweifeln anmerken lassen; schädigte die Bewegung. Aber welche? Jedem Linken damals, der noch ein bißchen helle im Kopf war, war klar, daß das, was sich als Sozialismus zeigte, dem Sozialismus schon irreparable Schäden zugefügt hatte. Ich war DKP-Funktionärchen, Kommunist, und hielt nicht viel vom DDR-Sozialismus, vom „Kommunismus“ der Sowjetunion gar nicht zu reden. Mir war klar, daß die DKP von der SED finanziert wurde, meine Vorstellungen von Sozialismus waren andere. Neue Linke, so hieß das wohl; die sich in die Orthodoxie begeben hatte, weil dort nun einmal die funktionierenden Strukturen waren, mit denen man arbeiten konnte.
Das ist lange her und rückt doch sehr nahe an mich heran, hier in Berlin-Mitte, das „Ostberlin“ war, das Machtzentrum der „Hauptstadt der DDR“.
- Ein sehr grauer Tag.
4.3.2002

3
Mrz

3.3.2002

1968, ich war noch in der letzten Realschulklasse, stieß ich während meiner exzessiven Science Fiction-Literaturlektüren auf eine Anzeige des „Science Fiction Club Deutschland e.V.“. Ein neuer Lebensabschnitt begann, ehe der alte geendet hätte; vor allem wußte ich es nicht. Ich wurde Mitglied, nötigte meiner Mutter ihre Unterschrift ab. Bald bezog ich eine Reihe von Fanzines, von den Herausgebern in Eigenproduktion hektographierte Blättchen unterschiedlicher Qualität und Quantität, wobei der Begriff „Qualität“ sehr fanspezifisch eingeordnet werden mußte; und muß, oder sollte. Ich erhielt das Clubmagazin „Andromeda“, ein oft umfangreiches Ding auf besserem Saugpostpapier, dazu, öfter, die „SFCD-Nachrichten“ mit wenigen aktuellen Seiten, das Heft „Slan“ aus Berlin (deshalb wohl kommt es mir nun sofort in die Zeilen), ein paar andere, deren Namen zu ermitteln mir nur möglich wäre, wenn ich im Keller einige der mit Klebeband versiegelten Kartons öffnen würde, und die „Science Fiction Times“.
Diese Zeitschrift, die diese Bezeichnung sich zu verdienen im Begriffe war, war nicht nur die beste, sondern – dem Geist der Zeit zu Diensten! – auch eine linke, wenn sich auch nicht alle der Schreiber dieser politischen Richtung verpflichtet sahen. Ich hatte ein paar der zweimonatlich, circa, ankommenden Ausgaben gelesen, als ich zur Frage „Warum engagierte Kritik?“, die in einer von ihnen als Diskussionsanregung speziell für das „Fandom“, die Gemeinschaft der Fans, in dem sich, man muß es sagen, auch reichlich tumbe Zeitgenossen tummelten, gestellt worden war, einen kleinen Aufsatz schrieb, denn in Aufsatz war ich gut. Nicht lange danach kam aus Bremerhaven von H.J.Alpers – später einer der bekanntesten Herausgeber, deutschen Autoren und Kenner der Materie – Post aus Bremerhaven, wo er als Chefredakteur des Blattes saß; ich war aufgefordert, mich den anderen – honorarfrei liefernden – Mitarbeitern hinzuzugesellen. 1969 stand mein Foto neben denen der anderen auf der Titelseite der Nummer zum zehnjährigen Bestehen der „SFT“, wie sie nur genannt und zitiert wurde, aufgereiht: ein etwas feminin und sanft dreinsehender Siebzehnjähriger mit schon längeren Haaren in einem grünen parkaähnlichen Anorak, und die ersten Rezensionen waren auch schon abgedruckt. Ich gehörte der Redaktion der SFT, die immer marxistischer, wozu auch ich beitrug, und immer besser wurde, bis zum Herbst 1975 an. Den Science Fiction Club hatte ich 1970 oder 1971 schon wieder verlassen, zu reaktionär. Dafür war aus der Redaktion der Zeitschrift, der anzugehören ich das Vergnügen hatte, die AST hervorgegangen, die „Arbeitsgemeinschaft Spekulative Thematik“. In diesen Jahren schrieb ich etliche Rezensionen und Berichte „Vom Zeitgeist“, wie einer der Beiträge lautete, war bei den Redaktionskonferenzen in Wuppertal, Düsseldorf, Hamm und Frankfurt am Main dabei (damals gab es nur dieses Frankfurt ...), die gaben Anlässe für Kurzreisen, und war als Mitherausgeber, 1975, des „Lexikons der Science Fiction“, geplant als umfangreiche zweibändige Taschenbuchausgabe, im Ankündigungsprospekt des Fischer-Taschenbuchverlags schon ausgedruckt und angekündigt, als diese Holtzbrinktochter, als sie die Verlagsleitung übernahm, das ganze Projekt aus dem Programm warf; neben anderem, und die Lektorin gleich mit dazu. Das Programm war zu links, die Zeit, in der man mit linkem Vokabular gesättigte Sekundärliteratur verkaufen konnte, neigte sich rapide ihrem Ende entgegen. Ich war für das zentrale Kapitel „Ideologie der Science Fiction“ mit allen seinen Verzweigungen, für das ich schon einen Schnellhefter mit Rohmanuskripten gefüllt hatte, zuständig gewesen, und das war nun unmöglich geworden. Bei der Lektoratsbesprechung im Hause Fischer während der Buchmesse – jene, die als Trost für mich den wunderbaren Augenblick bereithielt, in dem ich von Franz Rottensteiner, Herausgeber der Phantastischen Bibliothek bei Suhrkamp und seines allen Regeln der literaturwissenschaftlichen Kunst entsprechenden Fanzines „Quarber Merkur“ und Mitarbeiter der SFT, Stanislaw Lem vorgestellt wurde, wie ich aber vielleicht schon erwähnte – wurden dem Buchvorhaben Quantitätsprobleme vorgeworfen: zu viel, zu dick. Wir boten Kürzungen an, aber zwei Wochen später schon war die Sache gelaufen. Den kleinen Vorschuß versoff ich im „Strauß“. Das Manuskript erhielt ich nie wieder. Anfang der Achtziger entdeckte ich beim Blättern in einer Buchhandlung in Biberach, als ich mich kundig machen wollte, ob die Bekannten – hübsch stabgereimt, nicht? – von früher noch in Science Fiction machen, daß dieses Lexikon, in anderer Zusammenstellung, mit weniger Umfang, unideologisch und natürlich ohne meine Texte in einem anderen Verlag schon lange erschienen war. Zunächst nicht erfreut, weil man mich ja hätte fragen können, ob ich unter veränderten Bedingungen auch mitmachen würde, nahm ich es den anderen nicht lange übel. Ich hatte mich ja nach dieser Buchmesse nie wieder bei ihnen gemeldet, weder mit Besprechungen für die SFT noch mit Briefen (oder doch mit Briefen?). Sie konnten dann auch meine Adresse nicht mehr haben, denn meine Mutter und ich waren aus der Lindelestraße ausgezogen.
Im Herbst 1981 aber erhielt ich doch noch einmal eine Nachricht aus jenen Tagen. Irgendwie hatten sie meine Adresse ausgegraben. Wieder trudelte eine Jubiläumsausgabe der SFT ins Haus, Nr. 150, die auch zurückblickte auf die bewegte Zeit der frühen Siebziger, und ich fand meine Rezension zu Meyrinks „Der Golem“ abgedruckt, aus der Nr. 132, von 1973. Hier ist sie:

„DER GOLEM
1.
Wenn er losgeht, dann: wohin und wozu? Denn inzwischen sei er sein eigener Herr geworden, habe er sich losgerissen von den Fesseln wohlbedachter Bestimmung. Nun irre er, plump und monströs, eher taumelnd als dunkel und fest einherstampfend, durchs Leben, das ihm keines ist.
2.
Die Existenz jenes Nicht-Menschen, den der Rabbi Löw des Prager Judenviertels in mittelalterlichen Zeiten mit kabbalistischen Mystizismen ins hiesige Jammertal gesetzt habe, auf daß er der Gemeinde ein frommer und gehorsamer Diener und Gehilfe sei, ist nie zu beweisen gewesen. Aus diesem Grunde zum Mythos geworden, können wir trotz oder vielmehr gerade wegen seiner Faszination, die er ausstrahlt, Konkretes entdecken. Mythos nährt sich ja aus Konkretem, aus Gesellschaftlichem, und gerade die gesellschaftlichen Bedingungen, denen die Menschen als Noch-Entfremdete unterworfen sind, produzieren in menschlichen Hirnen jene Gespinste aus Nichtwissen, Ungewißheit und Aberglauben, durch die sie kommenden Geschlechtern die quälende Dumpfheit ihres Seins übermitteln. Die metaphysische Faszination des Mythos ist deshalb transzendent zur Wirklichkeit und nicht nur zur Wirklichkeit seiner Entstehungszeit, vielmehr darüber hinaus zur Realität des gesellschaftlichen Stadiums, in dem er fest im Sattel sitzt.
Die Figur des Golems, ein Mythos? Nicht ein einzelner nur, sondern als solcher ein ganzer Komplex von Vorstellungen, Wünschen und Schrecken, die sich in unserer eigenen – eigenen? – Wirklichkeit zumindest noch behauptet haben, ja vermehren, aber nurmehr als hohle Popanze mit dem lächerlichen Glanz der Talmiwelt zu prunken versuchen.
Was für die Fiktion des Golems fundamental ist, hat menschliches Denken seit jeher aufs Angestrengteste beschäftigt: Leib und Seele, Körper und Geist, Sein und Bewußtsein. Materie und Idee als eins sehen können, den Schöpfungsvorgang vom metaphysisch-göttlichen Prozeß zum menschlich-konkreten vergegenständlichen lautete seit alten Zeiten der Wunschtraum. Beim Traum allerdings ist es nicht geblieben. Marx und Engels folgten auf Hegel und Feuerbach, was nicht heißt, daß kein Träumen mehr sei. Das Handeln war revolutionärer, fegte überkommene gesellschaftliche Verhältnisse hinweg, um neuen, gezeugt von eben jenen, den ihnen gebührenden Platz zu verschaffen und zu sichern. Aber die Überwindung der alten, überkommenen, reaktionären Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, wie Marx sagt, ist für uns, die wir in der imperialistischen Klassengesellschaft des Monopolkapitals zu leben scheinen, noch zu leisten. Hierfür haben wir das Instrumentarium des Marxismus-Leninismus, das uns nicht in den Schoß fällt, sondern in täglicher Praxis erworben sein will.
Die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch den wissenschaftlichen Sozialismus löste die Träume des utopischen Sozialismus von einem menschenwürdigen Dasein ab und gab Möglichkeit zu erkämpfen, was nur geträumt worden war, und der Kampf geht weiter, weiter Tag für Tag. Dennoch träumen wir, aber konkret und mit Ratio: von der klassenlosen Gesellschaft, in der der Mensch eins wird mit sich selbst. Der Golem ist ein anderer Traum, der seinen Schöpfer als unerbittlicher Alb zu ersticken droht.
Doch warum? Die Dichotomie von Materie und Bewußtsein, als Trennung von Leib und Seele zumal in der christlich-abendländischen Religiosität. Dogma, existierte ja nie im Konkreten, aber immer als umgekehrte Verarbeitung jeweiliger trister Klassenverhältnisse der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“. So enthüllt sich die Fiktion vom Golem als Versuch unter ungenügenden Voraussetzungen, den göttlichen Schöpfungsvorgang ins Menschliche zu transformieren, und zwar fürs erste mit Hilfe göttlichen Einverständnisses, wie es sich beispielsweise im Gebrauch der jüdischen Kabbala ausdrückt.
Wieso also, um erneut zu fragen, entgleitet der gehorsame Diener der Herrschaft seines Herrn und Meister? Bezeichnend zumindest, wie Herr Rabbi Löw den Golem belebt: Hier beherrscht der Geist noch unangefochten tote Materie, doch schon ist deren Formung Menschenwerk. Die metaphysischen Qualitäten werden noch verehrt und respektiert, untertänig darüber hinaus, aber gewisse Verhältnisse lassen den Gedanken keimen, ob es allzu frevlerisch sei, sie zur Verbesserung dieser zweifellos recht bedrückenden Verhältnisse wirken zu lassen: zur Schaffung des Golems. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Das Pathos des calvinistisch-puritanischen Bourgeois ist die historisch logische Folge. Eine andere Losung – der Erfolgreiche ist Gott wohlgefällig! – charakterisiert ein fortgeschritteneres Stadium des Aufschwungs bourgeoiser Produktionsverhältnisse, und den Apologeten erscheint es ordinär und nicht sehr fein, erinnert man, daß diese Losungen öfters als zuweilen als Schlachtrufe im Getümmel neuer Absatzmärkte tönten.
Aber der Versuch, den Golem als willfähriges Objekt zu gebrauchen, sei ja gescheitert. Kein Schlachtruf, höchstens Laute des Schreckens. Freilich war’s für solch Propaganda des bürgerlichen Vorwärtsdranges auch noch nicht Zeit, denn die Entwicklung der kapitalistischen Produktions- und Verkehrsverhältnisse hatte eben erst begonnen. Im Überbau, in der weltanschaulichen Kategorie, in der Philosophie behauptete der mittelalterliche, feudalistische Idealismus seine Stellung noch fast unangefochten. Fast, denn schon läuteten die Totenglocken den Untergang der feudalistischen Klassengesellschaft ein. Die neue Klasse drängte nach oben, und die Fugger und Welser praktizierten nicht nur ganz neue Methoden des Handels und Wandels, sie suchten sich auch der lästigen Lehren und Institutionen höfischer Herrschaft zu entledigen. Frühbürgerlicher Humanismus und die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Kopernikus‘, Keplers und Galileis, beides untrennbar miteinander verflechtet zu sehen, waren Zeugnis und Ansporn zugleich. Der Golem, „Zeitgenosse“ Thomas Hobbes‘, des ersten Denkers des mechanischen Materialismus‘, und Gottfried Wilhelm Leibniz‘, der zwar dem objektiven Idealismus verpflichtet war, mit seinem System der Monade aber einen Beitrag zur Entwicklung des philosophischen Materialismus gab, ist als Mythos das Spiegelbild jener aufeinanderstoßenden Kräfte. Der Verlust an Kontrolle über ihn zeugt nicht nur von – trotz göttlichen Zuspruchs – kaum verdrängter Angst vor dem ans Frevlerische grenzenden Werk, vielmehr zeigt sich daran, überhöht im Abstrakten der gesellschaftlichen Basis, die noch völlig unzulängliche Durchbildung und Vervollkommnung eben jener Basis, der bourgeoisen. Hierin ist noch sehr viel von der Verwirrung und Unsicherheit übers „neue Zeitalter“ versinnbildlicht, und dazu noch mindestens gleichrangig Bedrängnis, Untergang der vorhergehenden Gesellschaftsordnung.
Das blieb nicht so. Die Wissenschaften blühten, Althergebrachtes wurde kritisiert. Der Manufakturbesitzer schickte seine Agenten in den Vorhof der Macht, die Intelligenz seiner Klasse legte sich feurig und aufgeklärt über die neuen Verhältnisse ins Zeug. Die nüchterne Vernunft der Maschinen und Bilanzen bahnte sich stetig, dann revolutionär ihren Weg. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit freilich, der neuen Herren schöne Ideale, waren letztlich nur im Kopfe der Poeten noch zu haben. Es war nämlich keineswegs die Freiheit des Manufakturarbeiters, keineswegs seine Gleichheit. Und Brüderlichkeit mit dem Bourgeois gab’s zwar noch eine Weile, doch das gab sich bald. Es war die Freiheit der ungehemmten Prosperität, die Gleichheit des Bourgeois mit seinesgleichen, auf die zunächst großer Wert gelegt wurde, die Brüderlichkeit im Kampf gegen die feudalen Reste. Das Motiv der Vermenschlichung des Schöpfungsvorgangs wandelte sich entsprechend. Der aufgeklärte Bürger des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hielt nur mehr wenig von Magie, die Möglichkeiten aufstrebender Wissenschaften faszinierten ihn statt dessen um so mehr. In geheimnisumwitterten Laboratorien wägen Homunculusmacher die Ingredienzien des Lebens, und die Produkte der Phiolen und Gefäße brauchen keinen höhern Geist. Die Faustsche Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, wird dadurch zwar nicht beantwortet, Wesen und Verhalten des Homunculus aber lassen dem Streber nach Wesentlichstem die Hoffnung des Anfangs. Gleichzeitig fast schrieb die Mary Shelley ihren FRANKENSTEIN ODER DER NEUE PROMETHEUS. Der neue Prometheus! Das war treffend, das spricht deutliche Sprache!
Zwei Tendenzen vor allem charakterisieren die Thematik: die eine weist auf wesentliche Inhalte romantischen Denkens hin, die andere spricht von früher Fortschrittseuphorie der kapitalistischen Gesellschaft. Die romantischen Denkmodelle waren ja nicht einheitlich, sondern Überbauprodukte differenzierter bürgerlicher Entwicklung in England, Frankreich, Italien und Deutschland, gemeinsam aber geistige Reaktion auf die Französische Revolution und die Napoleonische Ära. Die täglichen Begleitumstände kapitalistischer Produktionsweise – Arbeitsteilung, allgemeine Verkrüppelung der menschlichen Persönlichkeit und beginnende Zerstörung der Natur – wurden von den Romantikern von rechts her kritisiert: in der kontemplativen Hinwendung zu Individuum, Natur und letztlich Metaphysik allein liege die Möglichkeit zur Änderung. Für’s stille Glück im Winkel ist Vernunft nur mehr störend. Die Hoffnung, Sein und Bewußtsein als Ganzes betrachten zu können, äußert sich für dieses Mal in der Sehnsucht nach harmonischem Einklang mit der Natur und im Glauben an die kosmische Kraft stiller Liebe. Die heroische Anstrengung menschlicher Vernunft, wie sie sich 1789 zu begeisternden Taten aufzuschwingen versuchte, war doch, wie sich derweilen gezeigt habe, nur scheinbar mächtig gewesen; die lichten Vorhaben der Revolution wandelten sich in jakobinischen Terror, und dann? Napoleon, ein Zeitalter europäischer Kriege, Unsicherheit und Ungewißheit aller Orten.
„Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seines ganzen Daseins im Unermeßlichen“ – schrieb Schleiermacher in seinen REDEN ÜBER DIE RELIGION.
Frankenstein, „der neue Prometheus“, verkörpert diese romantischen Motive aber nicht lupenrein. Zwar scheitert er ja mit seinem Versuch, einen künstlichen Menschen zu schaffen, ganz nach dem Urteil Schleichermachers, die andere Komponente jedoch spielt nicht minder kräftig herein: Frankenstein ist nicht nur ausschließlich eine Figur aufklärerischer Vernunft, als die er im Sinn der Romantik fehlgeht, sondern ebenso früher Archetyp des bürgerlichen Wissenschaftlers in der beginnenden Hochblüte des englischen Kapitalismus, und als solcher experimentiert er mit jener kühlen Sachlichkeit und Cleverness, der sich der Kapitalist im Umgang mit neuen Produktionsmethoden bedient. Vielleicht lassen sich in diesem Verhalten auch schon Ansätze, Züge technokratischen Wissenschaftsverständnisses finden?
3.
Kaum überraschend, daß Meyrinks GOLEM gerade 1915 zum ersten Mal erschien. Wieder manifestierten sich umgreifende gesellschaftliche Modifikationen in entsprechendem Ausmaß in Literatur und Kunst, wobei das Künstliche auch schon zu erkennen war. Zumal der bürgerliche Intellektuelle im Deutschland jener Jahre empfand den Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus vorwiegend nur unbewußt; dunkel jedenfalls schien ihm die Zukunft, und ein ungewisses Schicksal nahte sich dräuend, entschlossen vielleicht, die herkömmlichen Muster und Strukturen gänzlich zu verändern. Dabei fühlte man sich aber dem Bisherigen nicht mehr verbunden, denn sehr gut wurde erkannt, daß das patriarchalische Bürgertum des 19. Jahrhunderts abgebaut hatte. Die wenigsten seiner Helden nur versuchten noch zu leuchten; Götterdämmerung schimmerte. Thomas Manns BUDDENBROOKS sind nur die offensichtlichsten Vertreter, sie stehen auch erst am Anfang. Die Artikulationen des „dunklen Zeitalters“ waren vielfältig: Dandytum und ernstes Warnen, verzweifelte Todessehnsucht und – schon überwindend weiterführend – bissige Kritik am wilhelminischen Bürokratenstaat. Und alles das in verflechtenden Nuancen. Primär die mondäne und morbide Welt der Decadence, die Salons der bürgerlichen Snobs und aristokratischen Absteiger, machte auch hierzulande Stimmung, und das in der deutschen Art. Mit Oscar Wilde und Marcel Proust waren England und Frankreich zwar schon weiter, dazu repräsentierten sich beide nach ihrem eigenen, höchst kultivierten Gusto, jedoch die „Wollust des Untergangs“ spukte auch in deutschen Dichterköpfen. Todeswonne schilderte gerade wieder Thomas Mann in seiner 1913 erschienenen Novelle DER TOD IN VENEDIG; im morschen Glanz der Stadt am Lido verklärt sich bürgerlicher Niedergang in elegische Intensität dichterischen Scheiterns.
In solcher Atmosphäre gedieh auch Übersinnliches recht gut. Der mythische Golem wurde bei Meyrink zu einer okkultischen Gestalt, die als schemenhaftes Wesen zu metaphysischer Erhöhung helfend Beispiel setzen will, Sinnbild für jenen, der „Zugang sucht zu höheren Welten“, wie Eduard Frank im Nachwort der vorliegenden Ausgabe zur Erklärung des Motivs meint. Auf diese mystische Weise taucht die Mythosfunktion des Golems während einer Ära schärfster Klassenkämpfe wieder auf, die Kontinuität ihrer vorwärts gerichteten Sehnsucht aber wendet sich nun ins eher Verharrende: die Gestaltung der Thematik rührt nun her von tastender Bewältigung ideologischer Aspekte im Überbau des imperialistischen Klassenstaats Deutschland. Freilich – mit der Bewältigung war’s nicht weit her. Im Aufgreifen des Golemmotivs zu diesem Zweck läßt sich schon erkennen, daß der Golem nun endgültig zum Schreckgespenst klischiert werden wird: Negativ unkontrollierter Gewalten des Imperialismus, Künder unheilvoller Katastrophen, Hermes von erschreckender Monstrosität. Der Film-Golem ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Über die UFA-Produktion mit Paul Wegener und Filme ähnlicher Thematik schrieb schon 1932 Ernst Bloch im Aufsatz BEZEICHNENDER WANDEL IN KINO-FABELN: „Der Golem ist bereits der riesenhaft aufsteigende faschistische Mörder, er ist die Technik mit falschem Bewußtsein, die Angst eines Amerika, ohne prosperity, vor sich selber. (...) Prognose von neuer Angst, neuer Ungeborgenheit (kein Wunder auch bei diesem Wetter), Zeichen eines zu Ende laufenden Zeitalters, das seine Mitternachtsglocke hört.“
Der Golem ist also zum Exempel der falsch-bewußten Fortschrittsfeindlichkeit geworden. Auswuchs mystifizierter Technik; das ideologische Element des Mythos, eh sein wesentlichstes, zeigt in ihm, was es zu leisten hat. Golem, King Kong, Godzilla, Computerherrschaft: Vexierbilder imperialistischer Klassenverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse, Unterdrückungsverhältnisse; augenscheinliche Parasiten der entfremdeten Massen. Und noch immer up to date.
SCHAUT EUCH NICHT UM, DER GOLEM GEHT RUM hieß ein erst unlängst gesendeter Fernsehfilm, der wieder warnen wollte vor „bedrohlichen Tendenzen in der Entwicklung der Menschheit“. Doch wie gehabt, die Warnung war nichts Neues. Die Behandlung des Motivs kennt man aus der Science Fiction. Sie aber greift nur zu dem, was im Überbau feilgeboten wird. In ihm sieht es trübe aus. Es geht, so scheint’s, zu Ende: Zerstörung und Widersinnigkeit überall, das Mittel, sie zu hemmen, verrostet und schrottreif: Vernunft – nicht mehr zu haben. Aussichten: übel. Menschheit wohin? Spätbürgerliche Ideologie der Verzweiflung lamentiert so und ähnlich. Mit Recht, allerdings, denn in ihr kommt zum Vorschein, was ist und doch nicht sein darf: Untergang der eigenen Klasse, Fäulnis der als ewig konzipierten Zustände. Fäulnis aber schmeckt süßlich, Zerfall fasziniert; jenen vor allem, der sich selbst davon betroffen sieht. Und so präsentiert sich die Tradition des bürgerlichen Schwanengesangs aufs Exemplarische, wenn in Luchino Viscontis Verfilmung der schon erwähnten Mann-Novelle die Musik von Gustav Mahler rauscht und wogt und weht, wehmutsvoll-pathetischer Abgesang einer todgeweihten Klasse. Der Untergang des Individuums in der Masse wurde und wird in den vielfältigen Nuancen bourgeoisen Selbstverständnisses beklagt, und wenn beispielsweise Eugene Ionesco in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1972 eben den Vertretern der Bourgeoisie globale Finsternis prophezeite, entlarvt er die Funktion seiner Botschaft selbst.
So sollte uns das mene tekel nicht groß stören. Die herrschenden Gedanken sind nicht mehr ausschließlich die Gedanken der Herrschenden. Die Theorie des Sozialismus wurde zur materiellen Gewalt, indem die arbeitenden Massen sie ergriffen. Der idealistischen Geschichtsauffassung des Kapitals, die den allgemeinen und endgültigen Untergang beschwört, steht der wissenschaftliche Sozialismus gegenüber, die Weltanschauung der siegreichen Arbeiterklasse.
Also kein Golem mehr in der Zukunft, kein King Kong, kein durchgedrehter Roboter? Zunächst noch; das zu verneinen hieße die lebendige Dialektik der Geschichte nicht zu berücksichtigen. Also wenigstens danach bewußte Kontrolle über die vormals beherrschenden Strukturen? Gewiß, aber nur von goldenen Sternen zu träumen und den Kampf ums Notwendige „links“ liegen zu lassen, hieße, das Ziel nie zu erreichen. Also noch einmal: Träumen mit Ratio.
Klaus Diedrich“

- Sonnig. Langsame Eintrübung nachmittags, dann ein kleines Regentröpfeln.
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Mrz

1.März 2002

Dennoch bin ich Proustianer. Im Sommer 1974 las ich, bis in den Herbst hinein, jeden Tag in der „Recherche“. Aus der Stadtbücherei, die in Biberach damals in einer der beiden spätmittelalterlichen riesigen ehemaligen „Schrannen“, also Scheuern, untergebracht war, mitten in der Stadt am schön eingefaßten Marktplatz, holte ich mir die drei Dünndruckbände von Suhrkamp, und wenn für den jeweiligen Band die Ausleihfrist abgelaufen war, ließ ich sie verlängern. Ich war fertig mit der Lektüre, als ich ins erste Semester an die politikwissenschaftliche Fakultät der Universität Stuttgart ging und wußte, daß das das Buch war, das mich bis dahin am stärksten beeindruckt hatte; und so ist es bis heute. Ich habe viele Bücher gelesen, aber keines kommt an die „Recherche“ heran. Seit jener Lektüre, die mir trotz ihrer Intensität auch Zeit für einen auch erotisch getönten Sommer ließ, interessierte ich mich immer für alles, was mit Proust zu tun hat; aber es dauerte sehr lange, bis ich ihn wieder las. Als ich die „Recherche“ zum ersten Mal las, war ich ein junger Mann, der seine Zeit verschwendete und vergeudete, beim zweiten Mal war ich fünfundvierzig Jahre alt; und verschwendete meine Zeit noch immer. Bei 9der zweiten Lektüre im Herbst und Winter 1996, die allerdings nicht den gesamten Roman umfaßte, sondern nur Teile, die ich las, um mir wieder einen Überblick zu verschaffen und um zu wissen, welche Passagen des Riesenwerks sich für ein Vorlesen eignen würden, hatte ich oft das Gefühl, nun in jenem Alter zu sein, in dem auch der Erzähler während der Matinée bei der Prinzessin von Guermantes im letzten Buch des Romans „Die Wiedergefundene Zeit“ ist, in dem er durch die verschiedenen Evokationen, die ihm geschehen, zu der Hoffnung findet, doch den Roman schreiben zu können, den zu verfassen fähig zu sein er so lange Jahre der „verlorenen Zeit“ immer bezweifelte. Im Roman ist der Erzähler wohl noch ein paar Jahre jünger als ich es im Winter 1996 war. Auch ich hatte nun das Vergehen, das eigenartig rasche Vergehen der eigenen Jahre an meiner Umgebung und an mir selber feststellen können; und mich stärker als je zuvor fragen müssen, was ich aus diesen Jahren mitgenommen hatte; und das war wenig. Die Erfahrung des Empfindens der verlorenen, vertanen Zeit, von der ich als Zweiundzwanzig- und Dreiundzwanzigjähriger – denn dieses „Recherche“-Lesen vor vielen Jahren ging über meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag im September 1974 hinweg – gelesen hatte, war 1996 in mein Leben gekommen, aus Literatur war Erlebtes und Empfundenes geworden.
In Notizen für jenen Abend Ende Februar 1997, in dem ich versuchte, die Zuhörer – zwanzig und einige dazu – an Prousts Welt anzunähern, wofür ich mit dem Anfang des Romans, in dem der Leser sich Swanns Welt nähert, begann, spürte ich schon den Erinnerungen an jene erste Lektüre nach und erinnerte mich gleichzeitig noch einmal „neu“; denn das waren zwei verschiedene Vorgänge. Und nun erinnere ich mich daran, wie ich mich erinnerte, wie Marcel sich erinnerte ...; ich erinnere mich gleichzeitig an mein Leben. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß ich damals, in den Siebzigern, dachte, daß ich mich eines noch nicht vorstellbaren Tages daran erinnern werde, was ich in der Zeit der ersten Lektüre dieses Romans tat.
Bevor ich im Februar 1997 aus „In Swanns Welt“ – wie der Titel in der alten Übersetzung lautet – in jenem zur Bar ausgebauten Kellergewölbe der Gaststätte „Woodpecker“ an der Theaterstraße in Biberach vorzulesen begann, las ich eine kleine von mir verfaßte Einleitung, die freilich vieles von Prousts Werk vernachlässigen mußte.
- Am Vormittag konnte man „Regentag“ zu diesem Tag sagen. Im späten Mittag hellte er sich auf, Sonne kam und blieb, wenn auch von Dunkelwolken gestört, die gegen den frühen Abend dichter wurden und Regen brachten, der aber nicht sehr lange fiel. Ein empfindlich kalter Wind blies durch den Tag.
1.März 2002

28
Feb

28.2.2002

André Gides „Die Falschmünzer“ also erwarb ich ein zweites Mal in einer Taschenbuchausgabe des Ex-DDR-„Aufbau“-Verlags letztes Jahr an einem der Bücherstände des Flohmarkts am Pergamon Museum hier in Berlin. Außerdem besitze ich von Gide „Die Verliese des Vatikan“, „Der Immoralist“ und seine Autobiographie „Stirb und werde“. (Dieses Buch las ich ziemlich bald in der ersten Hälfte der siebziger Jahre Tag für Tag in der Stadtbücherei von Biberach, wo ich auch in die „Cahier d’André Walter“ hineinsah.) Alle diese Taschenbuchausgaben kaufte ich auch erst in den neunziger Jahren, was mir doch zu zeigen scheint, daß dieser Autor im Lauf von dreißig Jahren von mir nicht zu den Abgelegten gezählt wurde und wird; ein tieferes Interesse war immer vorhanden, wenn es auch nicht dazu führte, und wohl auch nicht mehr dazu führen wird, daß ich alles von ihm las oder lese.. Als ich die Rowohlt-Monographie 1969, oder 1968, las, war ich davon fasziniert, mit welcher sich selbst kaum schonender Offenheit er mit seiner Homosexualität, die sich ja eher in der Knabenliebe artikulierte, in seiner Zeit umging. Stolz und schwul – proud and gay, wenn man das nun amerikanisch und nicht französisch apostrophieren darf – er war einer der ersten, die sich das erlaubten; erlauben konnten. Wilde hatte es versucht, dieser Versuch hatte in Hybris, Absturz, Elend und Tod in der Rue des Beaux Arts in Paris geendet. Wilde hatte Gide in Algerien, damals französische Provinz, dazu ermuntert, seinen erotischen Bedürfnissen nachzugeben, Gide hatte ihm also, wie er in „Stirb und werde“ schildert, seine Initiation zu verdanken (zweifellos wäre sie eher früher als später in jener Zeit sowieso erfolgt), was er so nicht formuliert, man kann es sich aber dazu denken; woran, und ich sehe diese Entwicklung einer „Schwulenemanzipation“ in diesen beiden Charakteren verkörpert, Wilde noch untergehen mußte, das konnte Gide schon öffentlich leben; skandalös zunächst, danach unbehelligt. Freilich war er Dichter, Repräsentant des Bürgertums, Nobelpreisträger. (Thomas Mann hingegen unterdrückte ähnliche erotische Fixierungen, eben um seine bürgerliche Honorität nicht zu beschädigen.) Man muß ihn privilegiert nennen, und anerkennen, daß er solchen Status für das demonstrative Einfordern von Toleranz und Grenzverschiebungen einsetzte. Das war es ja, was er Proust vorwarf: seine Männerliebe zu verstecken, nicht zu ihr zu stehen, weder in der Literatur, wo der Erzähler Marcel nur der Beobachter dieser Erotik und ihrer versteckten, aber überall, hat man erst ein Auge dafür bekommen, wahrzunehmenden Gegenwart ist und außerdem Frauen, Albertine, liebt, noch im Leben.
- Am frühen Vormittag sonnig; wieder Vergrauung über die Mittagszeit. Nachmittags mal so, mal so; bis schließlich die Sonne obsiegte und alles bestrahlte. In der in einem eigenartigen Blau schimmernden Westdämmerung pastellrosafarbene Wolken.
28.2.2002

26
Feb

26.2.2002

Ich habe noch etwas zu Gide schreiben wollen, sollte es aber nicht tun, denn ich kenne zu wenig von seinem Werk. In den Siebzigern erst kaufte ich mir „Die Falschmünzer“ in einer Taschenbuchausgabe; dieses Buch behielt Anfang der Achtziger jener, den ich damals liebte, der meine Gefühle aber nicht in gleicher Weise erwiderte, was mich für einige Jahre in eine labile emotionale Situation versetzte, über die ich mich noch äußern will, wenn ich auch nicht alles ausplaudern werde. Es gibt Tagebuchnotizen, die ihre Zeit der Veröffentlichung finden werden, oder auch nicht. Obwohl ich jeden Tag an diese Aufzeichnungen mit der Absicht, sie so genau und ehrlich, wie es mir möglich ist, zu schreiben, gehe, habe ich einen Kompromiß mit der Vergangenheit – nicht mit der Erinnerung – und mit mir geschlossen: bestimmte Vorkommnisse, gewisse Ereignisse werden, auch wenn sie in meinem Leben zu den wichtigen, vielleicht sogar wichtigsten, gehören, in einer Weise dargestellt, für die ich das Wort „oberflächlich“ nicht angemessen halte, aber dafür das Wort „diskret“. Es ist mir nicht möglich, bestimmte Personen – zwei, nur zwei – von denen einer das Wort „Liebhaber“ verdient, so zu charakterisieren, daß sie für alle Öffentlichkeit zu erkennen wären. Es mag spießig sein, kleinbürgerlich (J.D. hatte womöglich gar nicht so unrecht), und sofort über alles hier Geschriebene den Schleier der Halbwahrheit, den jedes Verschweigen und Heimlichtun parat hält, ziehen – ich empfand etwas für sie, was man nicht für jeden empfindet. Alles liegt seit vielen Jahren hinter uns, jeder ging andere Wege, die sich nicht mehr kreuzen. Ich weiß, sie würden es nicht schätzen, allzu deutlich in diesen Zeilen und über ihnen, in der Vorstellungswelt anderer, zu agieren. Ich gab mein Wort – damals, eines Tages, sofern es mir einfiele, etwas über mein Leben zu schreiben, vorsichtig damit umzugehen; es ist mir nicht möglich, es heute zu vergessen. Es gibt Männer, und das weiß jeder, die in ihrer Jugend sich bestimmten Neigungen nicht versagen, zumindest damit kokettieren, später jedoch diese hinter sich gelassen haben. Manche wünschen nicht einmal, daran erinnert zu werden, daß sie ihnen nachgaben. Vor allem wünschen sie nicht – auch in unseren Tagen nicht, in der schwul zu sein ja chic geworden ist (ich war dieser Meinung schon in Jahren, in denen das in Biberach noch nicht unbedingt so war), und das Fernsehen verzichtet neuerdings auch nicht auf seine Werbehomos –, daß es bekannt werden könnte, wenn sich alles längst erledigte.
So bin ich wieder bei Gide und bei Proust auch, bei der unterschiedlichen Handhabung, sozusagen, ihrer Sexualität gegenüber Welt und Gesellschaft. Ich präferierte stets die Gide’sche der Offenheit, was das Leben betrifft, und ziehe, was das hier Geschriebene angeht, die Proust’sche vor. Allerdings verwandle ich einen Albert nicht in eine Albertine. Und es war ja alles sehr harmlos, und lächerlich und peinlich ist es sowieso, wieder wird es sich zeigen, in langen Erklärungen überhaupt sich zu winden. Mir ist klar, andere verhielten sich „anders“ an meiner Stele, aber hier sind sie es eben nicht. Ich stelle fest: mir wär’s lieber, frisch von der Leber weg zu formulieren; ich bedauere durchaus, daß ich angehalten bin – überhaupt war ich in meinem Leben viel zu moralisch –, so nicht zu tun. Noch etwas: ich bin nicht nur homosexuell, sondern asexuell homosexuell. Gell. Könnte man meinen, meine ich manchmal selber.
- Bis in den Mittag hinein grau. Etwas Auflockerung. Nach 15 Uhr fegte die „Anna“ als Orkan über Berlin; flackerndes Sturmgewitter, ein Schmettern, als würden riesige Holzbretterstapel durch die Lüfte geworfen; Grollen, Gepolter ihres Begleiters, eines ungeschlachten Riesen, der über die Dächer wankte; die nackten Bäume bogen sich tief vor ihm nieder, schwankten im Hagelauswurf; der Regen wehte in fallenden Fahnen aus apokalyptischem Grau herunter. Dann riß der Horizont auf, die Sonnenstrahlen beleuchteten Berlin, die Großstadtluft, für eine halbe Stunde von den Giften gereinigt, roch frisch, zerfledderte Cumuli schwebten unter dem reingeblasenen Blau, filigrane Gebilde, aber auch großgebauschte Ballen ruhten woanders vor Ort, kleinere Streifenwolken, fast sausten sie, eilten vor dem Wind davon. Im östlichen Gehimmel auf oberer Höhe die helle Scheibe des Mondes über der Stadt, bis eine zweite schwarze Sturm- und Hagelfront sich entleerte. Auch nach dieser öffnete sich die Wolkenschicht in der abendlich-nächtlich dunkel gewordenen Schutzhülle des Planeten, der Mond, weiß, glänzte in der Nähe des Fernsehturms.
26.2.2002

23
Feb

23.2.2002

Für ihre Geburtstage nahm meine Mutter, die in jenen sechziger Jahren regelmäßig im Kaufhaus „Schleehauf“ arbeitete, sich frei, so konnte sie vormittags und über Mittag die Vorbereitungen für die Feier treffen, die aber auch schon am Tag davor begannen. Es mußte eingekauft werden, es mußten zwei Marmorkuchen mit Schokoladenstückchen darin gebacken werden, es mußte für den nächsten Tag alles bereit sein. In meinen Grundschuljahren und vielleicht auch noch als Dreizehnjähriger half ich manchmal beim Kneten des Teiges mit diesem klöpppelartigen Holzding, mit dem die Masse gewalkt wurde; dann wurde hin und wieder eines der Schokoladenstückchen aus dem Teig stibiezt, auch vom Teig ein Löffelchen. Diese Kuchen schmecken am Tag darauf köstlich. Torten aller Sorten entstanden entweder in Heimarbeit – wofür ich mich auf’s Fahrrad zu schwingen und Tortenböden und was es sonst noch so brauchte zu besorgen hatte, so daß ich dann, wenn der Einkauf ein größerer gewesen war, gar nicht zurückfahren konnte, weil links und rechts am Lenker volle Einkaufstaschen baumelten, und auf dem Gepäckständer (gut, daß dieses Wort mir kürzlich wieder eingefallen ist) war auch einer festgeklemmt – oder es wurden auch einmal Torten gekauft, oder von Frau H., die sich in ihre Küche gestellt hatte, geliefert. Am frühen Nachmittag der Geburtstagsfeier fuhr ich dann wieder „in die Stadt“ und holte „Berliner“, zu denen die Berliner Pfannkuchen sagen. „Berliner“ mußten da sein. (In den Tagen zuvor hatte ich auf eine Idee für das Geburtstagsgeschenk zu kommen, und einmal schenkte ich, neben dem obligatorischen Blumenstrauß, weil mir, auch angesichts der ohnehin stets schmalen Börse, die zwar auf diesen Tag hin mit Gespartem etwas voller geworden war, wirklich nichts anderes einfiel, eine Geflügelschere. Meine Mutter fühlte sich auch mit solch einem profanen Gegenstand beschenkt. Diese Geflügelschere war in vielen Jahren ein praktisches Ding, ich besitze sie noch, benütze sie aber nicht.
Für den Abend – die Mampferei setzte sich eigentlich ununterbrochen fort – wurde schlesischer Kartoffelsalat (mit Gurken- und Heringsstückchen darin) zubereitet, dazu aßen die Gäste Wiener Würstchen; auch Tartar und Wurst und Käse und Brot und ich weiß nicht mehr was sonst noch alles vervollständigten die Tafel. Getrunken wurde Bier, Malzbier, Sprudel; Wein selten, ein Schnäpschen hinterher war den Männern recht, denn diese Feiern waren keine reinen Damenkränzchen, wobei die Männer zum Anhang der Bekannten zählten. Nur Dr. Gawlik, der alte Richter, eine vornehme Erscheinung, war schwerlich als „Anhang“ seiner kleinen, zarten, liebenswürdigen Frau anzusehen; und auch der Pastor J. nicht, und auch die anderen zwei oder drei Herren mittleren und älteren Alters hätten sich so eine Einschätzung verbeten. Es war so reichlich aufgetragen, daß immer noch etwas übrig blieb, wenn die letzten Gratulanten, deren Geschenke, nichts allzu Üppiges darunter, auf einem Schränkchen aufgetürmt oder an es angelehnt oder in dessen ungefähre Nähe gestellt, gelegt wurden, spätestens gegen zweiundzwanzig Uhr den Weg nach Hause antraten; und zwar per pedes, denn niemand – außer dem Pastor am Ende des Dezenniums – verfügte über ein Auto. Manche ließen ein Taxi anfahren, das mit dem Telefon bei den Mietern unten bestellt wurde – von denen übrigens kaum jemand bei der Schlemmerei anwesend war, ich entsinne mich nur an ganz wenige Gesichter aus dem Hochparterre, die zuweilen an solchen Nachmittagen am Tisch saßen. Danach hieß es abräumen, die Küche voll stellen. Hatte ich am Geburtstagsnachmittag, während über dem Flur im Wohnzimmer die Gäste schnabulierten und quatschten, unermüdlich in der Kaffeemühle mit einer Kurbel Kaffeebohnen zerpulvert und das Pulver ebenso gleichmäßig und -mütig in die Kaffeefilter geschüttet, die unablässig in die Filtertütentrichter über unersättlichen großbauchigen Kaffeekannen gesteckt wurden, so besorgte ich mit derselben Schicksalsergebenheit zumindest große Teile des Abwaschs am Nachmittag des folgenden Tages. Und es war mir nur erfreulich, wenn ich schon nicht aus der Wohnung verschwinden konnte, daß ich in der Küche werkte, aus der Platten und Kannen und Flaschen hinaus- und leere Platten und Kannen – die Flaschen verblieben vorerst dort, wo sie geleert wurden – herein getragen wurden, von meiner Mutter, von Frau H., von Frau K., von anderen auch, je nachdem, wer sich nützlich machen wollte, denn das Getratsche dort an den Tischen, ein Brummen und Summen, war ja für die kritischer zuhörenden Ohren eines Jugendlichen nicht auszuhalten!
- Über Mittag heiterte „es“ sich unentschlossen auf, graue Wolken, blauer Äther mit Zirrhuswolken, dann düsterte der Tag wieder ein, aber auch das nur andeutungsweise. „Es“ blieb diesig-grau, und dann brannte plötzlich der Sonnenfleck wie ein kaltes weißes Feuer in einer Vertrübung; bald jedoch wurde diese fort geschoben, denn der Wind war zeitweilig kräftig, und unter ihr loderte über dem Dächerhorizont dieses gefährlich wirkende weiße Licht. Das geschah um 16.10 Uhr. Dann fraß das volle grelle Licht sich ungefiltert, wie die Höllenflamme eines göttlichen Schneidbrenners, durch. Schönes Abdämmern. Abends und nachts trocken und kalt.
23.2.2002

22
Feb

22.2.2002

Für den 21. Februar wurden die Verwandtschaft und die besten Bekannten, unter ihnen die zwei oder drei Freundinnen, die als solche bezeichnet werden konnte (aber oft sind die Abgrenzungen zwischen Bekanntschaft und Freundschaft oder umgekehrt ja gar nicht so genau festzulegen), der engere Kreis eben, zu Kaffee und Kuchen am Nachmittag und zum Abendessen eingeladen. Zwischen 1962 und 1972, also vom 40. bis zum 50. Geburtstag meiner Mutter, waren diese Gesellschaften am größten, an die nach ihrem 50. kann ich mich kaum entsinnen, was eigenartig ist; ich glaube schreiben zu können, daß an den Einladungen danach weniger Gäste teilnahmen, und je älter sie wurde, umso weniger „machte sie her“. Auch daran waren Enttäuschungen beteiligt, eine quälende innere Einsamkeit – darf ich das so schreiben, ohne ungerecht und unwissend zu urteilen? – und Erschöpfung. (Gestern vor dreißig Jahren war meine Mutter fünfzig Jahre alt geworden, so alt, wie ich letzten September wurde – und diese Überlegung kommt mir wieder einmal eigentümlich vor. Hatte auch sie sich so gar nicht fünfzig-jährig gefühlt? Als junger Mensch kann man sich ja nicht vorstellen, wie wenig das innere Leben, mit allem, was dazugehört, eben auch die nicht angenehmen Erfahrungen, deren Grundmuster man in aller Regel schon in jungen Jahren kennen lernt, und danach sind die „neuen“ dies bezüglichen Erfahrungen nur Variationen in verschiedenen Stärken, mit den Kalenderjahren mitkommen möchte; der Charakter, so wird ja behauptet, stünde spätestens mit fünfundzwanzig Jahren als der fest, als der er bis dahin Zeit zur Entwicklung gehabt hätte, und danach sei der Mensch geformt, Glück und Unglück später hätten viel weniger Einfluß als allgemein angenommen würde.)
Ich kann nur für mich sprechen und sage, daß sich mein Lebensgefühl aus dem Erstaunen ableitet, mit den Jahren überhaupt nicht irgendwie „älter“ geworden zu, gesetzter, „reifer“. Ich denke und verhalte mich kaum verändert (ein paar Abstriche hat man gemacht, um den Körper, diese Voraussetzung des trotz aller Selbstanfechtungen geschätzten „Ich“, weniger zu strapazieren, und bestimmten Ideen glaubt man auch nicht mehr so kategorisch, und das sind fast alles Ideen über das Menschsein an sich und nicht nur politische), wenn ich (innere) Bilder von mir aus den Siebzigern ansehe. Oder kann man sich auch darin so sehr täuschen, und man wäre, heute als Zwanzigjähriger, befremdet und gelangweilt von dem Fünfzig-jährigen, den man da vor sich sieht und der einem vormachen will, er wäre man selbst und dächte, was man denkt?
Oft schien in diese Geburtstagsfebruartage, sagen wir der Jahre zwischen 1965 und 1970, die Sonne so hell über Biberach wie gestern über Berlin, und es war kalt wie gestern; oder dicht stäubte der Schnee nieder, so wie heute, und es war dann – nachdem der Schnee seinen weißen Belag auf alles gelegt hatte, durch den die Geburtstagsgäste nach und nach, vom Fenster aus schon erwartet und beobachtet, herbeistapften und auch aus dem steilen Weg, der von der Gaisentalstraße zwischen Häusern und Gärten hinauf zur Gartenstraße führt, hervortraten und auf’s Haus Lindelestraße 2 zukamen – grau geblieben; aber im Wohnzimmer, wo die zwei großen schlichten Eßtische – einer von ihnen steht neben meinem Schreibtisch und dient als Ablagefläche, den anderen verkaufte Frau H. im Winter 1984 für mich an einen Interessenten – mit ausgezogenen Tischplatten im rechten Winkel zueinander aufgestellt worden waren, mit vierzehn oder sechzehn, auch zwanzig Stühlen darum herum, die immer irgendwie zusammengetragen wurden (notfalls wurde von den Mietern im Hochparterre ausgeborgt), waren die Lampen dann schon eingeschaltet und machten den angenehm temperierten Raum gemütlicher, und zwischen all dem Aufgetischten und dem „guten“ Kaffeegeschirr erzitterten die sanft vibrierenden Kerzenflammen mit jedem Öffnen der Tür; und war der Tag sonnig gewesen, glomm durch das Westfenster in röter dunkelnden Rosafarben die Dämmerung.
- Bis zum Nachmittag Schneegestöber, dicht, das in der Mitte des Nachmittags zu sehr dünnem Regen wurde, der den Schnee wieder zu schuh-sohlenhoch liegendem Matsch verwandelt.
22.2.2002 (!)
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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