21
Feb

21.2.2002

Heute wäre meine Mutter achtzig Jahre alt geworden. Sie starb am 15. Dezember 1983.Was alles geschah zwischen diesen beiden Tagen? Ich habe in den Jahren nach ihrem Tod immer mehr festgestellt, daß meine Kenntnisse von ihrem Leben da und dort lückenhaft sind; geht das anderen Söhnen, Kindern, auch so? Ich weiß, vieles, und wenn nicht vieles, dann manches aus unseren Innenwelten verschweigen wir voreinander, aber das innere Leben, die guten wie die schlechten Zustände, in die man hineingerät – und manchmal lange oder nie wieder heraus – , äußern sich schließlich auch ohne Worte. Mit Worten wären manche dieser Bedrängungen, ihre und meine, bestimmt weniger schwieriger gewesen und geworden, einige hätten sich auflösen können, und manchmal war das ja auch so. Es gibt Situationen und Lebensphasen, in denen Rücksichtnahme gar nicht so gut ist, die Probleme vielleicht sogar erst verstärkt, wenn nicht hervorruft. Ich würde das aber auch nicht grundsätzlich und überall vertreten wollen.
Meine Mutter war oft leidend, ich kannte sie nie anders, wobei ihr Leiden, mal stärker ausgeprägt, dann für einige Zeiten, wenn ihr Lebensmut sich gestärkt hatte, im Hintergrund ihrer Persönlichkeit schlummernd, in den psychisch-seelischen Dimensionen hauste, die, wie jeder weiß, irgendwann sich körperlich äußern. „Endogene Depression“, lautete irgendwann in den siebziger Jahren die Diagnose; Bluthochdruck, Krebs, Zucker waren die somatischen Befunde. Als junge Frau hatte sie, nach der Flucht aus Schlesien, während des Aufenthalts in Sachsen einen Schädelbasisbruch erlitten; den Kopf am Kopfteil des hölzernen Bettgestells aufgeschlagen, als sie sich, übermütig, denn ich weiß, daß sie als Mädchen und auch später lebensfroh sein konnte, nachlässig auf dieses Bett hatte fallen lassen. Für ihre depressiven Zustände war diese schwere Kopfverletzung aber wohl nicht verantwortlich. Veranlagung? Eher das. Das und die Enttäuschungen, die das Leben für jeden reichlich auspackt. Der eine steckt sie in seinen Gemütshaushalt besser weg als die andere.
- Vormittags grau und kalt; kalt blieb es auch; sehr feine, winzige Schneeflocken schweben, kaum zu sehen waren sie, herunter. Am frühen Nachmittag ein Schneegestöber mit großen Flocken, die aber nicht blieben, ab der Mitte des Nachmittags sehr schöner Sonnenschein, der langsam unter die Dächer sank.
21.2.2002

19
Feb

19.2.2002

Heute vor einundfünfzig Jahren, in meinem Geburtsjahr 1951, starb André Gide. Ich habe es dem Literaturkalender entnommen, der an der Wand hängt. Versteht sich von selbst, wie die Redewendung hier vorgibt, daß ich sonst nie daran gedacht hätte. Wer liest noch Gide? Der Mann ist vergessen, oder nicht? War denn zu seinem 50. Todestag letztes Jahr irgendwo etwas erschienen? Ich wüßte nun nicht zu sagen wo; alles kann man freilich auch nicht überblicken.
1968, spätestens 1969, stieß ich auf diesen Namen. Wie? Je ne sais pas. Ich kaufte mir die Rowohlt-Monographie, las also, wie es oft bei mir vorkam und noch immer ist, erst über den Autor, bevor ich etwas von ihm selber zur Hand nahm. Auch meine Bekanntschaft – oder darf ich Freundschaft dazu sagen? – mit dem Werk Prousts begann, in eben jener Zeit, so. Ein Artikel oder ein Buch, in dem er erwähnt wurde, machte mich auf ihn aufmerksam, das Interesse galt natürlich seiner „unnatürlichen“ erotischen Disposition. Ich schrieb 1996 schon in ein paar Zeilen über diese erste
Begegnung mit seiner Persönlichkeit und seinem Werk und über die mit Proust, als ich mir Arbeitsnotizen für den Proust-Abend anfertigte, den ich Ende Februar 1997 in der von der Inhaberin des „Insel-Buchladens“ in Biberach, Ch.M., organisierten Veranstaltungsfolge „Freunde toter Dichter“ „gab“. Hier sind jene Sätze aus jenem Text, die sich mit Gide befassen; ich schreibe noch ein paar dazu; morgen, denn heute ist es mir zu spät dafür, der Tag war schon arbeitsreich.
„Wieso hatte ich mich mit siebzehn für Proust zu interessieren begonnen? Und für André Gide; und von ihm weiß ich, daß ich seine Prosa auf jeden Fall früher las, als die Proust’sche. Und wieso las ich zunächst über diese Schriftsteller, und anschließend erst Teile ihres Werks? Das hatte mit meiner eigenen Vorliebe für – damals noch gleichaltrige – junge Männer zu tun, natürlich.
Diese beiden Dichter waren es, vor allen anderen, die ich in jener Zeit zu entdecken begann, die mir, dem jungen Schwulen, halfen, die eigene erotische Präferenz, das eigene Triebschicksal, überhöhen zu können. Sofort also, kaum war ich mir meiner Zukunft bewußt, versuchte ich, meinen Weg in diese mithilfe der Kunst, der Literatur, zu stilisieren, indem ich Proust- und Gide-Lektüre als Beweis dafür, daß speziell der Künstler (aber freilich nicht nur er ...) homosexuell sein darf und aufgrund der Bedingungen seiner Homosexualität Bedeutsames schaffen kann, mir vor Augen führte.“
- Stürmisches Pißwetter, bis in den Nachmittag. Plötzlich riß die Regenwolkendecke, unter der der Wind blies, auf, für nicht lange kam Sonnen-licht durch, weißgraue Wolken jagten unter der Bläue. Abends hin und wieder Regen.
19.2.2002

18
Feb

18.2.2002

Das Gülleloch. Damals war das Haus, die alte Villa, noch nicht an die Kanalisation angeschlossen. Das geschah dann, dann wann? In der ersten Hälfte der Sechziger. Aber wir hatten doch eine Toilettenspülung? Wie funktionierte das alles? Es funktionierte, und niemand dachte darüber nach, denke ich. In bestimmten Zeitabständen – ein dummes, unklares Wort, das sagen will, daß zwei Punkte, als Ereignisse, als „Deutlichkeit“, voneinander von einem weniger ereignisreichen, „flacheren“ Zeitverlauf getrennt werden – mußte diese Grube freilich von ihrem Inhalt, dessen so angesammelte, unmittelbare Gegenwart neben dem Haus wohl keinem Hausbewohner überhaupt störend auffiel, denn wirklich entströmte dem Ort kein auffälliger Geruch (eigenartig), befreit werden; wer kümmerte sich darum? Wer benachrichtigte diese Männer, von denen ich keine Bezeichnung im Gedächtnis habe, wenn es soweit war? Und wie wußte man, daß sie kommen mußten? So vieles ist einem in einer vertrauten Umgebung so selbstverständlich, daß es nie befragt wird und zum Alltäglichsten zählt, von dem man später nicht mehr sagen kann, wie und warum es existierte; es fällt einem, in veränderten Umständen, nicht einmal mehr auf, daß es nicht mehr vorhanden ist.
Diese Männer fuhren mit einem Lastkraftwagen vor’s Haus, der einen großen länglichen graumetallenen Tank aufgeladen hatte, an dessen Seiten links und rechts dicke graue Schläuche mit metallenen Verschlüssen der Länge nach angeflanscht waren. Diese Schläuche, deren Wiederanblick vor dem Erinnerungsauge mir nicht enthüllt, aus welchem Material genau sie gemacht waren (Gummi mit einer textilen Umhüllung doch wohl), wurden durch den vorderen und hinteren Gartenteil gelegt und miteinander verschraubt, der vorderste Teil dieser grauen Schlange, die sich auf der nördlichen oberen Seite des Anwesens um’s Haus schlang, wurde in das Gülleloch versenkt. Dann wurde die ganze Scheiße in den Tank auf dem LKW, also in den Tanklastwagen, gepumpt. Das dauerte so seine Zeit, in der sich rund um’s Haus das verbreitete, was „Landluft“ genannt wird; vornehmlich auch dann, wenn die Männer mit den braunen Lederschürzen die Schläuche wieder auseinandermontierten, wobei da und dort eine dem durch sie hindurchgeflossenen Stoff entsprechende Schleifspur im Gras oder auf den Wegen zurückblieb. Nach Stunden erst hatte sich der spezielle Duft, der das Haus umstrich, verdünnisiert.
- Vormittags ein etwas vager Sonnenschimmer, der von Grau abgelöst wurde, bis er wieder vordrang, aber dünn wirkte. Am Nachmittag Eintrübung, abends etwas Regen.
18.2.2002

17
Feb

17.2.2002

In meiner Blockflötenzeit – wie eigenartig mir eben jetzt, da dieses dreifach zusammengebastelte Substantiv, diese Zeitbestimmung. mir mühelos in die Gedanken geraten ist, dieser Ausdruck vorkommt, vor das geschichtlich infizierte Bewußtsein kommt, hier im Hochparterre in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte, wo vor zwölf Jahren noch DDR war, in der „Blockflöten“ ihre nicht sehr rühmlichen und ja auch kaum hörbaren Nebenbeimelodeien spielten – wohnte unter uns im Hochparterre die Familie E., Herr E., ein großer Mann mit leicht gekräuseltem dunklen Haar, der einen ruhigen und souveränen Eindruck machte, seine kleine Frau und die beiden Söhne, der ältere von ihnen etwas jünger als ich, der zweite noch sehr klein. Herr E. frönte dem Hobby, mit einem Luftgewehr gerne auf kleine Papierscheiben mit Ringen, die die Wertigkeit der Treffer anzeigten, zu schießen; meistens samstags. Er gehörte einem Schützenverein an und übte für irgendwelche Preisschießen. Er war ein Profiamateur. An der Ostseite des Hauses befand sich ein niedriger angebauter Verschlag, vor dem das mit einer runden grossen Platte abgedeckte Gülleloch lag; an der Wand dieses Gemäuers befestigte er die Zielscheiben, auf die er aus etwa zwanzig Metern Entfernung schoß, vielleicht war sie auch geringer. Er stand dort unter dem Pflaumenbaum oder etwas weiter zurück in den Garten hinein, bis dort vielleicht, wo die Beete, die damals noch angelegt waren, begannen, hob den länglich-rechteckigen Kolben des Gewehrs an die Schulter (schoß er nicht links?), rückte ihn zurecht und einen schwachen, trockenen Knall hinterlassend zischte das Kügelchen unsichtbar zur Scheibe, wo es ein Löchlein stanzte. Herr E. schoß gut. Er machte sich manchmal, wie ich von ihm hörte, denn manchmal stand ich in respektvollem Abstand dabei, einen Spaß daraus, das soeben geschossene Loch mit einem zweiten Kügelchen zu vergrößern. Das war natürlich beeindruckend. Väterlich achtete Herr E. darauf, daß sein älterer Sohn und ich nicht in die Schußlinie rannten. Auch ich durfte eines Tages mit dem erstaunlich schweren Gewehr – es hieß ja „Luftgewehr“, und obwohl ich doch wußte, daß seine Funktionsweise ihm diese Bezeichnung gab, glaubte man eben dennoch in diffuser Assoziation, dann müsse es auch leicht wie Luft sein – schießen; ein paar Löchlein in die Scheibe schießen. In das Gülleloch davor kam hinein, was geschissen wurde. Noch Jahre später, als E.s längst ausgezogen waren und wir uns zufällig in den kleinen Straßen Biberachs begegneten, fragte er mich, wie es in der Schule gehe.
In derselben Zeit lebte auch mein Halbbruder noch in Biberach. War es nicht am Schützenfest 1960, als er an einer der Schießbuden auf dem Gigelberg ins Schwarze traf, den Blitz aufleuchten ließ, der den Film belichtete, auf dessen Fotoabzug er, die Ellbogen auf den Tresen der Bude gestützt, so die Knarre haltend, ein Auge zugekniffen, und ich mit erwartungsvollem Blick daneben, zu sehen sind? Ich müßte dieses Foto herausziehen, um das Jahr bestimmen zu können, denn es stand ja in Spiegelschrift an der Rückseite eines blumenkastenähnlichen Kastens über dem Schießbudentresen angeschrieben. Am Ende des damals bald aufkommenden Jahrzehnts schoß, im Wortsinn, auch ich so ein Bild. Im Oktober 1969 gab ich dem Kreiswehrersatzamt Ravensburg zu verstehen, daß ich den Kriegsdienst mit der Waffe verweigere.
- Sonnig.
17.2.2002

14
Feb

14.2.2002

Im Spätsommer 1976 hätte ich mir ein Auge ausschlagen können. An einem Abend becherte ich bei Erich H., Freund von Sabine R., die im Wohngemeinschaftshaus Karpfengasse 24 zu verkehren begonnen hatte, Bacardi-Cola, und da E. wußte, daß ich gerne einen zur Brust nahm, schenkte er großzügig nach, mehr Baccardi, weniger Cola. Ich war abgefüllt, als ich spätabends in mein Zimmer – ich bezeichnete es später stets als das „hintere“, denn ab Januar 1977 bewohnte ich das nach vorn zur Gasse hin, das größte des Hauses – in der WG torkelte und von der Tür Richtung Schreibtisch segelte und die schon innige Bekanntschaft mit ihm noch einmal intensivierte. Das Ergebnis der heftigen Annäherung warf mich zu Boden. Knurrend rappelte ich mich auf, wankte zum Spieglein an der Wand und stellte eine blutunterlaufene Stelle am rechten Wangenknochen fest. Die Haut war nicht einmal aufgerissen. Das Auge war noch drin, also legte ich mich erst einmal hin und schloß beide. Einige Wochen danach, dieser Bluterguß war schneller als erwartet abgeheilt, erteilte mir Holden Panama Johnson, mein Langhaarkater, den ich erst im Juni als Katerchen zu mir genommen hatte, als Elian F.-U., eine Freundin, ihn zu mir gebracht hatte, eine Lektion mit seiner Tatze, als ich, besäuselt, ihn ungeschickt anfaßte. Wutsch, haute er mir seine Krallen neben das Auge. Seltsamerweise war wieder das rechte gefährdet gewesen. Auf dem rechten Auge war ich nie blind. Wollte das Unheil, daß ich es werde? Das Leben kann dadurch durchaus einfacher sein. Dann wäre es aber nicht das Unheil, sondern eine wohlmeinende gute Macht gewesen, wenn es so gekommen wäre? So, wie es blieb, nämlich bei beiden Augen, war und ist es mir viel lieber, wenn auch meine Menschenliebe davon nicht profitierte, denn mit zwei Augen sieht man eben schärfer und mehr. Ich nahm es dem Kater nicht krumm, ich nahm es als Lektion für den ständigen Suff.
Die vorletzte dieser Bedrohungen durch nicht korrekte Kräfte trat vor der Mitte der neunziger Jahre auf. Wenn ich mich nicht sehr täusche, was hin und wieder doch geschieht, in den Februartagen der Berlinale. Denn in dieser Zeit des Jahres fuhr (und fährt) der Kinobesitzer, Kinoverbandspräsident und Gremienlobbyist K., in dessen Betrieb ich jene sechzehn Jahre meiner Festangestelltentätigkeit zubrachte, regelmäßig nach Berlin, um die volle Dauer der Filmfestspiele über dort zu bleiben. (Heute könnte ich schreiben: ... hier zu bleiben.) Es war immer eine schöne Zeit, für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Ist er schon weg?“, fragte man mich, denn ich kam häufig zwischen den beiden Kinohäusern hin und her, und einen Tag danach lautete die Frage: „Wie lange ist er weg?“, denn ich war immer darüber informiert, bis wann die Berlinale währte. Aber solche Fragen werden in jedem Betrieb gestellt, in dem die Belegschaft Gründe zum Aufatmen hat, und die hat sie überall.
Wie alles hatte auch diese Abwesenheit eines Chefs ihre Vor- und Nachteile. Einer der Nachteile war der, daß ich dann, obwohl in den letzten Jahren meiner Arbeit dort nicht mehr jede Nacht während der Chefabsenz, die ehrenvolle Aufgabe hatte, das „Urania“-Kino abzuschließen, was bedeutete, daß ich auch während der Woche, in der die Vorstellungen der beiden unteren Kinos gegen 23 Uhr, selten später, beendet waren, auf das Ende des Films im berühmten „Sternchen“ oben im Gebäude warten mußte, denn im „Sternchen“ wurden bis in die erste Zeit der neunziger Jahre hinein Spätvorstellungen gezeigt. Erst als zu ihnen gar niemand mehr kam – viele Jahre waren auf dieser „Nachtschiene“ besonders filmkunsthaltige Werke gespielt und auch gut besucht worden – und es offenkundig war, daß ein Publikum für Nachtvorstellungen unter der Woche nicht mehr existierte, waren diese auch im mit 1. Bundes- und Landeskinofilmpreisen hochdekorierten „Sternchen“ auf die Wochenenden reduziert worden. Dieses Kino ist – den Biberachern muß ich es nicht sagen – auch ein Gastronomiebetrieb. Essen und Trinken. Rauchen; früher. Einige der Damen, die dort bedienten, hatten zur gleichen Zeit wie ich angefangen, nach 1978.
Eine von ihnen, Meli H., nahm mich eines Nachts, als endlich alles abgerechnet und abgeschlossen war, einmal mehr in ihrem Auto mit auf den Mittelberg, wo sie wohnte, und weil es zum Hühnerfeld dann auch nicht weit ist, fuhr sie stets, wie übrigens auch andere „Sternchen“-Damen, die nicht unbedingt in jener Gegend wohnten, mich sehr oft generös durch die Nacht chauffierten, vor den Wohnblock, in dem ich im fünften Stock mein Appartement behauste.
Samstagnacht gegen ein Uhr dreißig also fuhren wir durch die Waldseerstraße. Kein Auto, kein Mensch unterwegs. Zu dieser Stunde schläft Biberach längst. Wir wollten nach Hause. Wir plauderten. Meli fuhr zügig auf die große Straßenkreuzung zu, die dort von der Waldseerstraße und der Königsallee, die erhöht auf einer langen Brücke von Ost nach West führt, bis sie sich zweihundert Meter vor dieser Kreuzung auf ebenen Boden begibt, gebildet wird. Mein Blick zur Seite, zur Fahrerin, beim Reden irrte ein wenig ab und voraus, über die nächtliche Szenerie, und erhaschte ein weisses Auto, das rasend schnell von links nach rechts auf der Querstraße vorn näher kam. „Anhalten!“ schrie ich nur. Meli trat ohne Zögern auf die Bremse. Ihr Auto brauchte seinen Bremsweg. Als es stand, in dieser Sekunde, preschte das weiße Auto keinen Meter vor uns in unverminderter Geschwindigkeit vorüber. Zwei bleiche Gesichter, Untoten ähnlich, eins vorn, eines hinten, starrten uns durch jene Autofenster blöde an, und schon war das Auto mit pfeifenden Reifen in der Kurve, in der die Königsallee von der Kolpingstraße fortgeführt wird, verschwunden. Meli und ich saßen im Auto und sagten erst einmal nichts. Dann sagte Meli etwas wie: „Junge, Junge“, und ich sagte etwas wie: „Nicht zu fassen, was für Penner!“ Dann sagte Meli: „Danke, KD.“ Wir hätten tot sein können. Die anderen auch – wenn sie es nicht schon waren. Ein paar Tage danach überreichte Meli mir eine Flasche Wein (die Freunde tranken) mit den Worten: „Für den aufmerksamen Beifahrer.“
- Viel Sonne. Kälter als gestern.
14.2.2002

11
Feb

11.2.2002

Die „Swinging Sixties“ fanden in Biberach für mich im Radio statt. Sonst sah und hörte man von ihnen nicht viel. Biberach war mausgrau und lag etwas im stillen Winkel und hatte idyllische Eigenschaften, vor allem dann, wenn sich im Hochsommer der tiefblaue, von weißen Bauschwolken besegelte Himmel über Oberschwaben, dessen sanfte ländliche Stimmung in solchen Wochen und Monaten am deutlichsten an den Tag und in ihn trat, spannte, und in schneereichen Wintern die alten Gassen und Häuser, der ganze Stadtkern samt der hügeligen Umrahmung sich ihre fast mittelalterlich anmutende Gestalt anlegten. Alles ging – zumindest bei einigen über die Straße schreitenden Einwohnern war es deutlich zu beobachten – beschaulich vor sich hin und erst Ende der sechziger Jahre bekamen diese auch mit noch recht ländlicher Charakteristik ausgeführten Bilder, in denen die Biberacher Art zu leben sich zeigte, eine andere und neue Farbe hinzugefügt, ein stärkere, grellere, denn Rock und Pop und (linke) Politik, die rebellischen Jahre der Außerparlamentarischen Opposition, waren spätestens 1968 auch im kleinen Biberach angekommen. Rock- und Popmusik schallten aus dem Radio, die Politik stand in der Zeitung und im April 1968 dann auch unübersehbar auf dem Marktplatz ... Zum Ende der Sechziger hin steckte ich den Kopf in mehrere Zeitungen und Zeitschriften, auch in die „konkret“, das Leitblatt der aufgekommenen linkspolitischen Kultur, und las „twen“, das erste Blatt in der Bundesrepublik, das einen „modernen Lifestyle“ vermittelte; dieser Begriff und die Inhalte, die er signalisieren sollte, waren aber noch gar nicht so richtig in Mode gekommen. Eine Radiosendung, die ich ab 1968 jeden Tag außer Samstag und Sonntag hörte, denn sie wurde nur von Montag bis Freitag ausgestrahlt, produzierte der Österrreichische Rundfunk, einige Wiener moderierten sie, einer von ihnen wurde später berühmt: André Heller. Er und Wolfgang Hübsch präsentierten die „progressivste“ Musiksendung, die im süddeutschen Sprachgebiet zu hören war, die „Musicbox“. In ihr hörte man neue Musik, neue Namen, von neuen Stilen, die neuesten Informationen aus der internationalen, vor allem englischen und amerikanischen, Rock- und Popszene. Mit diesem Sound von fünfzehn bis sechzehn Uhr, mit diesen popnews im Ohr erledigte ich während der Gymnasiumsjahre meine Hausaufgaben. Heller & Co. waren stets bestens informiert und spielten Platten von Gruppen, die konventionellere Sender, obwohl auch die sich mit Hitparaden und Ähnlichem um ein junges Publikum bemühten, nicht vorstellten: „The Mothers of Invention“, „The Velvet Underground and Nico“, „Grateful Dead“ und zahlreiche andere Avantgarde-Gruppen, dazu ausführliche Portraits. Diese Sendung brachte mich immer auf den aktuellen Stand, denn ein großer Leser von Musikzeitschriften war ich nie, und das Geld, das man brauchte, wollte man sich alle paar Wochen die Platte einer interessanten neuen Band kaufen, hatte ich nicht. Meine Plattensammlung war keine. Ein paar Singles der Beatles und von anderen Gruppen, „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, jene wegweisende LP der Fab Four, ihr Weißes Album, dazu das eine und andere; viel hatte ich nicht, was ich mein Eigen nennen konnte. Meine Musik kam aus dem Radio, nicht aus den Plattenspielerboxen. Ich hatte auch keine. In meinem ganzen Leben, bis heute nicht, besaß ich nie eine stereophone Plattenspieleranlage. Damals war bei meiner Mutter kein Geld dafür da, dann bei mir nicht. Aber meine Mutter hatte 1966 oder schon 1965 eine „Musiktruhe“ gekauft, einen Kasten aus glänzendem dunklen Mahagoniholzfurnier, der stand auf vier staksigen Beinen, in dem ein großes Radio auf der einen Seite und ein Plattenspieler auf der anderen, der linken, eingebaut waren. Der Plattenspieler tönte die Musik aus den Radiolautsprechern. Meine Musik, wie gesagt, kam aus dem Radio. Hörte ich eine Platte, war gleichzeitiges Radiohören nicht möglich; aber wer tat das schon? In diesem Apparat – Staubhäufchen stauten sich nach kurzer Zeit an der Abnehmernadel auf – rotierten am Heiligen Abend, und nur dann und auf Wunsch meiner Mutter, die altdeutsch-allfälligen Weihnachtsliederschallplatten. Manchmal, angeregt durch die exzessive Lektüre von Westernheftromanen, legte ich die Scheibe mit den Western-Songs auf: „Do not forsake me, oh my darling ...“, das Titellied aus Fred Zinnemanns Film „High Noon“ mit Gary Cooper, den ich mir im „Filmtheater“ gleich zweimal hintereinander angesehen hatte. Die Platten der Beatles liefen aber am häufigsten, keine von den Stones, obwohl ich auch mit diesen – rockigeren – Songs etwas anfangen konnte, und Bob Dylans geniales Genäsel hörte ich noch gar nicht so oft in den Sechzigern, sondern mehr in den beginnenden Siebzigern; vor allem die Doppel-LP „Blonde On Blonde“ mit „Visions of Johanna“, „I Want You“, „Sad Eyed Lady of the Lowlands“, „Stuck Inside of Mobile With the Memphis Blues Again“ ...
- Ein Regentag.
11.2.2002

10
Feb

10.2.2002

Heute ist Sonntag. Ich schaue zurück in einen beliebigen Sonntag im Winter, beispielsweise einen im Jahr 1966, oder in einen der Februarsonntage von 1967. Natürlich stand ich spät auf. In den Jahren zuvor, um diese beiden Jahre für ein paar Minuten auch schon wieder zu verlassen, hatte ich meine Mutter zum Gottesdienst zu begleiten, der entweder in der Stadtpfarrkirche oder, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, in der damals neuen Kirche am Krummen Weg, die genau gegenüber der Wohnung von Frau H. steht, zelebriert wurde; der evangelische Gottesdienst. Habe ich schon mitgeteilt, daß ich bis 1972 dieser Glaubensgemeinschaft angehörte? Ende des Winters 1972 trat ich dann aus der Kirche aus. Nach der Konfirmation, sie fand wohl 1965 statt, als ich vierzehn Jahre alt war, ging ich nur noch selten und nur meiner Mutter zu Gefallen in die Kirche mit und bald gar nicht mehr. Während des Konfirmationsritus in jener neuen Kirche, in der ein Pfarrer Blum seines Amtes waltete, an einem sehr sonnigen Frühjahrssonntag, hatte ich den Unwillen meiner Mutter hervorgerufen, weil ein Mitkonfirmant und ich uns nicht sehr feierlich-religiös verhielten, etwas pubertär kicherten und tuschelten und die Angelegenheit nicht sonderlich ernst nahmen; der Konfirmantenunterricht schon war ausgesprochen langweilig gewesen, mein religiöses Empfinden war in Auflösung begriffen; meine Mutter hatte mich nach der Zeremonie, noch bevor wir nachhause gingen, ärgerlich angefahren: „Du hast gelacht, das gehört sich nicht!“ Der Rüffler wurde weggesteckt und war vergessen. Bei dieser Konfirmationsfeier in der Wohnung in der Lindelestraße am Nachmittag machte man noch einmal auf Familie, ich war teils belustigt, teils etwas irritiert, weil eine Situation gespielt wurde – meine Mutter hatte zahlreiche ihrer Freundinnen und Bekannten eingeladen, auch ihre Kusine und deren alte Eltern, die Ende der fünfziger Jahre aus der polnisches Gebiet gewordenen Heimat nach Zwischenstationen in Biberach angekommen waren, saßen dabei, und Verwandtschaft väterlicherseits, der Patenonkel (nehme ich an) und seine Frau waren aus Göttingen angereist –, die Wirklichkeit hätte sein können: mein Erzeuger war ebenfalls gekommen, und ich persönlich hatte ihn unten an der Haustür empfangen.
Im Februar 1967 war mein Bedürfnis nach göttlichem Zuspruch gering, und blieb es danach, was heißt, daß es sich verflüchtigte, wie unsereins sich eines Tages verflüchtigen wird, so war es an einem Sonntag oft so, daß ich erst aufstand, als meine Mutter schon zum Gottesdienst gegangen war. (Die Phase des Ausleihens in der Kath. Bibliothek war inzwischen vorüber. Doch nicht jeden Sonntag absolvierte meine Mutter ihren Kirchgang.) Ich las in aller Regel etwas, wenn sie dann zurückkam und sich in der Küche der Zubereitung des Mittagessens widmete, das gegen dreizehn Uhr eingenommen wurde. Während des Mahls lief das Radio, wir hörten, und zwar fast jeden Sonntag in fast allen Jahren der Sechziger, nur gegen Ende des Jahrzehnts hin nicht mehr regelmäßig, die Sendung „Autofahrer unterwegs“ des österreichischen Rundfunks, eine Live-Sendung aus Wien, in der immer alle möglichen Berühmtheiten jener österreichischen Jahre als Gäste auftraten und zwischen den Gesprächen und den Verkehrsmeldungen – schließlich hatte die Sendung ihren Titel nicht von ungefähr – spielten die damaligen Schlager, Udo Jürgens quälte sich ein „Merci, Chérie“ ab, etc. etc. Auf diese Weise hörte ich mich in den Wiener Dialekt ein, den ich immer amüsant fand und den halbwegs korrekt zu sprechen ich mir gelegentlich ein parodistisches Vergnügen machte und mache. Echte Wiener allerdings mögen es nicht, wenn man sie als Deutscher so anspricht; Herbert K. gegenüber, mit dem ich mich zu Beginn der Siebziger anfreundete, trat ich nie so auf. Aber dieses durch diese Radiosendung mir vertraute Idiom erleichterte mir, ebenfalls nach 1970, das (laute) Lesen der Mundartgedichte von H.C.Artman, „Med oaner schwoazn Dintn“, und anderer Autoren, Jandl in späterer Zeit.
Doch sonntags gab’s im Radio noch eine andere Sendung, die – vor allem mir, meine Mutter konnte nicht sehr viel mir ihr anfangen und ging dann – gefiel und sich an die österreichische günstig anschloß: die „Schwäbische Stunde“. Diese Dreiviertelstunde (oder dauerte sie tatsächlich eine ganze?) bot fast immer ein humoristisches Hörspiel „auf schwäbisch“. Ich habe noch heute Augenblicke, in denen ich mich, zugegeben auf halbironische Weise, an schwäbischer Mundart ergötzen kann; ich spreche ein perfektes Schwäbisch. War diese Radioerheiterung vorbei, war es an der Zeit, sich so allmählich ins Kino aufzumachen, wenn ich ins Kino gehen wollte, und ich ging in jener Zeit nicht oft, aber häufig – worin doch ein kleiner Unterschied zu sehen sein sollte – am Sonntag nachmittags ins Kino; in den folgenden Jahren eher abends, oder samstags. Im Spätwinter 1966, mit fünfzehn Jahren, dürfte ich in jeden halbwegs interessant erscheinenden Film, der „ab 16 Jahren freigegeben“ war, gegangen sein, die Altersvorgabe hielt man ja immer für irrelevant, für ärgerlich, und weil ich ziemlich groß war, kam ich fast immer ohne Fisimatenten des Kinopersonals hinein. (Eine Ausnahme blieb mir besonders in der Erinnerung. An einem regnerischen Abend, keinem Sonntagabend, einem Abend während der Woche, wollte ich mir den Schwarzweiß-Western „Ritt zum Oxbow“ ansehen, einen Klassiker des Genres – das wußte ich später. Die „Urania“-Kassiererin fragte mich überraschenderweise, wie alt ich sei, und ich mußte - ich war dazu erzogen worden, nicht zu lügen, nie, und hielt mich daran, gebrauchte, wenn es brenzlig wurde, höchstens eine Antwort, deren Vagheit und großzügige Auslegung des Gegenstands ich mir als Nicht-Lüge interpretieren konnte – ausnahmsweise unsicher gewirkt haben, als ich mich mit eben solch einer Umschreibung aus der Affäre ziehen wollte, und das brachte mich an jenem Abend um diesen Film. Man wollte mir partout keine Karte verkaufen, denn ich konnte mein Alter nicht belegen, z.B. mit einem Schülerausweis. Stocksauer stand ich eine Weile unschlüssig im Foyer herum – hätte ich damals gewußt, wie oft in viel späterer Zeit ich in diesem Foyer noch herumstehen sollte, ich wäre verschwunden ...! – und stieg dann mit Haß im Kopf auf’s Fahrrad. So eine Schmach war mir seit langem nicht widerfahren! In den Siebzigern sah ich den Film dann irgendwann, in meiner Eigenschaft als „Cineast“, und dachte an jenen Abend mit einem Lächeln.)
Meine Mutter war, wenn ich dann heim kam, manchmal nicht da. Sonntag Abend besuchte sie, auch, um die Verwandtschaft und Bekanntschaft zu treffen, die „Stunde“, eine religiöse Andacht des Blauen Kreuzes. Nun ist diese christliche Organisation ja zur seelischen Stärkung alkoholkranker und -gefährdeter Menschen, die von einer geistigen Stärkung hochprozentiger Art nicht lassen mögen, geschaffen worden, und ich fand es in den Jahren, als ich zweiundvierzigprozentige Erbauung zu mir nahm, gelegentlich, wenn mich der Gedanke streifte (er tat es selten), eine ironische Wendung des selbst bereiteten Schicksals, daß auch ich in Kindertagen nicht selten an dieser Andacht teilgenommen hatte, freilich nicht aus eigenem Wollen oder einer eventuell schon akuten Notwendigkeit (heutzutage saufen ja schon Zwölfjährige), sondern als braver Sohn, der halt mitging, wenn die Mutter das wünschte. Übrigens trank meine Mutter keinen Alkohol, alle Jubeljahre höchstens nippte sie mal am Sekt, sie brauchte dafür hin und wieder ihre Tabletten, und das steigerte sich. Was für salbungsvolle Reden vom „Klauben“ mußte ich mir anhören, inmitten einer ältlichen, sektiererhaften Eiferergemeinschaft, und das Harmonium jaulte religiöse Weisen dazwischen! Als ich dann in einem Alter war, in dem man schon einmal eigene Absichten äußern darf, stellte ich das Mitgehen abrupt ein, eben zu der Zeit, in der es mir nicht unbedingt à la mode erschien, sich an den engen Kirchenbänken die Knie anzuschlagen. Es kann schon sein, daß diese unangenehmen „Stunden“ in gedrückter Stimmung beim Blauen Kreuz – die Namen der diversen „Evangelisten“ (Werner Heukelbach!, bei dessen Erwähnung ich das „heucheln“ herauszuhören glaubte) wurden in den Unterhaltungen dieser Kläubigen wie die entrückter Heiliger erwähnt – dazu beitrugen, ein klein wenig, bedenkt man alle Hintergründe, die sich in einer solchen Szenerie verstecken, daß ich in späteren Dekaden, als es mehr als nur zweimal ein Kreuz war, in Biberach leben zu müssen, gerne blau war.
Der Sonntagabend wurde mit Lektüre beendet. Ein gebrauchtes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät kaufte meine Mutter erst 1971 oder 1972. Ich hatte es davor nie vermißt, danach selten hineingeguckt und in den Neunzigern „entsorgt“. Ich glotz nicht TV.
- Vormittags grau. Für einige Zeit dann der Versuch des Sonnenlichts, länger bleiben zu können, dann wieder Verdüsterung. Während des Nachmittags immer wieder Gleißlicht zwischen den hellgrauen Wolken. Abends Regen.
10.2.2002

7
Feb

7.2.2002

Vorgestern saß ich im Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek, das in einem riesigen ehemaligen Getreidespeicher am Westhafen untergebracht ist, an einem der Lesegeräte für die Filme, auf denen alte, historische Zeitungen gespeichert sind, und sammelte etliche Informationen aus dem Biberacher Lokalteil der Schwäbischen Zeitung vom Jahr 1952; gestern auch. Vorgestern nachmittag sah ich meinen Namen, die beiden Vornamen, Rufnamen sagt man wohl dazu, in der Ausgabe von einem der ersten Oktobertage 1951 (denn dieses Jahr war auf den beiden Filmrollen, die das Stadtarchiv Biberach mir geschickt hatte, auch noch teilweise abfotografiert – die Zeitungen, versteht sich) und dahinter, wie bei den Namen anderer Neugeborener auch, die Bemerkung: "V.: Friedrich Diedrich, Werkmeister“. Der Bindestrich zwischen den beiden Vornamen „Klaus“ und „Dieter“ war in der Zeitung aber nicht gesetzt. Es war mir gar nicht einmal eigentümlich zumute, als ich meinen Namen dort las, der veröffentlicht wurde, als ich einen Monat alt war; jetzt, am 5. Februar 2002, das las, was Zeitungsleser im Oktober 1951 gelesen hatten. Denn wenn man es einmal genau bedenkt, sind fünfzig Winter gar keine so lange Zeit, einerseits, wenn man sie hinter sich hat, und doch umfassen sie, andererseits, ein halbes Jahrhundert, und das ist doch ein Zeitmaß, ein Zeitraum, der schon fast etwas schwer Erfaßbares meint, und als man jünger war, erschien die Aussage: „Vor einem halben Jahrhundert ...“ noch unvorstellbarer, bezeichnete etwas als in die graue Vorzeit Gehörendes, die ungefähr vor fünfzig Jahren aufhörte, oder wie?
Wenn ich daran danke, daß dreißig Jahre vor meinem Tag der Geburt, im September 1921 Proust allmählich die „Recherche“ beendete (wenn er auch noch einen Winter dafür brauchte), so kommt es mir gelegentlich in diesen heutigen Tagen doch so vor, als sei der Tag meiner Geburt vom Hauch je-ner Ära auch noch gestreift worden und gar nicht so weit entfernt gewesen, denn dreißig Jahre, das ist ja nur der Zeitraum, der zwischen meinen ersten Texten und dem, was hier in dieses Heft gekritzelt wird, sich verbreitet hat, und so groß ist dieses Gebiet nicht, ich überschaue es gut. Und weil es so überschaubar ist, erscheint es klein, und erscheint erst einmal ein solches Terrain als klein, dann machen es plötzlich die zwanzig Jahre, die man dazugibt, nicht viel größer; womöglich sollte man solche wie eben erwähnten Maßstäbe an das eigene Leben, an die eigene Spanne, gar nicht erst anlegen, denn die machen einem die Verhältnisse, die kleinen, erst richtig bewußt.
- Am Vormittag kämpften sich ein paar dünne Strahlen durch das Grau, verloren, dann tagsüber hellgraue Flecke im dunkleren Grau der Wolkendecke. Kälter.
7.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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