7
Dez

7.12.2002

Zogen die Herbste und Winter in die zwei Jahre vor und nach der Jahrzehntmitte der Neunziger ein, kaufte ich Samstagvormittag im Supermarkt am Marktplatz zu B. ein Netz voller Orangen oder Mandarinen oder Clementinen ein und trug die Früchte durch die Wielandstraße zum Souterrain-Unterrichtsraum der Jugendkunstschule im dunkelblauen Pestalozzihaus, wo kurz vor 10.30 Uhr die Kinder meiner Literaturwerkstatt eintrudelten, aus den Autos ihrer Väter oder Mütter krabbelten und sich auf den Zwergenstühlchen um den großen quadratischen und niedrigen blauen Tisch einfanden. Hatte ich ab 1993 zunächst einen Ganzjahreskurs, nur von den das Schulleben und also dieses freiwillige Jugendkunstschulleben auch unterbrechenden Ferien in größere Wochenblöcke eingeteilt, „gegeben“, in dem ein Dutzend Kinder um mich herumgesessen und -gegangen, -gesprungen waren, so war dieser das ganze Jahr umfassende Kurs in einem der Jahre danach in Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterkurse aufgeteilt worden. Ich hatte begabte Kinder in meinen Kursen. Über ihr tägliches Pflichtpensum hinaus hatten sie noch Zeit und Lust und Willen, einmal in der Woche sich in neunzig Minuten auf Sprache einzulassen, auf das Spielen mit der Sprache und das Formulieren von Sprache. Auch an den Samstagvormittagen (in zwei, drei Jahren nachmittags an einem Wochentag), wenn andere ihres Alters froh waren, die Lernwoche hinter sich gebracht zu haben. Wir vertrieben uns diese neunzig Minuten beispielsweise mit Buchstaben-, Wörter-, Satzspielereien, die Jungen und die Mädchen schrieben mit den Ergebnissen dieser oft lustigen Übungen kleine Geschichten und Gedichte; zu manchen dieser Spracherzeugnisse zeichneten und malten sie auf Din-a-3-Zeichenblockblättern, die ich ihnen aushändigte; illustrierten so die sprachlichen Einfälle; oder sie fertigten aus Zeitungen, die ich von zuhause – genug alte Exemplare diverser Provenienz lagen da ja herum – mitschleppte, Montagen und Collagen an. Im Winter 1996 fotokopierte ich fünf Gedichte aus dem Buch „Das besessene Alter“ von Friederike Mayröcker: „Winterserie I“ bis „Winterserie V“, legte die Blätter den Kindern vor, wir lasen die Gedichte laut, dann schnipselten und klebten und zeichneten alle – ich jedoch nicht, ich ging im Raum auf und ab und sah zuweilen über Kinderschultern und ließ ein paar Wörter, Wörter aus den Gedichten auch, wie Schneeflocken, die draußen vor den Fenstern in weiten Abständen voneinander auf das nicht sehr ausgedehnte Areal der Jugendmusikschule zwischen den Gebäuden auf wintergrünes Jahresende sanken, auf den Linoleumboden des niedrigen Raums fallen, in der Hoffnung, sie würden noch in der Raumluft von den Kindergedanken aufgeschnappt und in jungen Neuronen eingebaut werden; und das funktionierte auch. Oben in einer der beiden Ecken der großen Mal- und Collagenblätter wurde eine Zeile aus einem Gedicht der Wienerin geschrieben, sie – die Zeile, die Wörterfolge – war das Ausgangsmotiv für die visuelle Gestaltung. Als schier unerschöpfliches Spiel- und Erkenntnismaterial erschien uns die Sprache, die wir auseinanderpflückten (während die Clementinen geschält und verspeist wurden) und in anderen Formen mit verändertem Sinn im Niedergeschriebenen, in anderen Buchstaben- und Wortkombinationen, auf Papier unterschiedlichen Formats speicherten. Viele Geschichten, schöne Gedichte entstanden. Als die Wiener Dichterin im Jahr 2001 den Büchner-Preis zugesprochen bekam, erfuhr sie, wie in Oberschwaben mit einigen ihrer Gedichte umgegangen worden war.
- Sonnig und sehr kalt, der Ostwind verstärkte die Kälte. In der Abenddämmerung breite zerfaserte rosafarbene Reste von Jet-Kondensstreifen.
7.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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