KD

8
Mai

8.5.2002

Wäre heute nicht der 8. Mai, würde ich mich vor einigen Minuten nicht an das Franzosenwäldchen erinnert haben; es würde in diese Erinnerungen, die doch nur fast alles unberücksichtigt lassen, was mein Leben war und nur einiges von dem, was sich Tag nach Tag zu Wort zu melden vermag, auf’s Papier bugsieren, bestimmt nicht aus meiner Kindheitslandschaft hineingeschwebt sein. Biberach war einmal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert worden, die Ulmer Tor-Straße hatte dabei einige Häuser verloren, ob Menschen umgekommen waren, müßte ich recherchieren, im Stadtarchiv und in alten Ausgaben der „Schwäbischen Zeitung“, die aber erst nach dem Krieg gegründet wurde, wenn ich richtig informiert bin (notfalls korrigiere ich das), welche sich in späteren Jahren mit der Zerstörung der Ulmer Tor-Straße befaßte – und zwar erst, wie ich mich genauer entsinnen kann, vor ein paar Jahren wieder –, wäre davon zu lesen. Während des Krieges war hinter dem Lindele, nördlich der Stadt, ein Kriegsgefangenenlager errichtet worden, das „Lager Lindele“, wie es nach dem Krieg genannt wurde, in dem fast nur englische Soldaten interniert gewesen waren. Der Vater von Klaus Leupolz – ich sollte einmal erwähnen, daß K.L. drei Brüder und eine Schwester hatte; Eckart Leupolz, als Ekke L. stadtbekannt wie Klaus L., starb Ende des Winters an Krebs – hatte dort als deutscher Offizier zur Wachmannschaft gehört. Die kleine oberschwäbische Kreisstadt hatte dann im französischen Besatzungsgebiet gelegen, das auch Oberschwaben umfaßt und also bis zur Donau gereicht hatte. Nördlich davon war die englische Besatzungszone eingerichtet worden. Das erfuhr ich so richtig erst, als meine Mutter und ich für zwei Wochen meiner Sommerferien Anfang der Sechziger in Geislingen bei Frau S. urlaubten, und einer ihrer beiden Söhne, damals Student, mich auf englisch etwas fragte und ich nicht sofort, denn mein Englischunterricht in der Mittelschule hatte wohl erst vor einem Jahr begonnen, antworten konnte. „Ach ja, Biberach war ja von den Franzosen besetzt“, sagte er, und weil mir in jenem Augenblick das Franzosenwäldchen einfiel, nickte ich erleichtert, „dann kannst du noch kein Englisch.“ Meinte er damit, ich sei deswegen mit Französisch als zweiter Muttersprache (meine Mutter beherrschte keine Fremdsprachen) aufgewachsen? In diesem Moment aber erschloß sich mir das Wort „Franzosenwäldchen“ glaubhaft. Was der Sohn von Frau S. sagte, bewies mir nun den Zusammenhang zwischen den französischen Soldaten, dem Krieg und dem Wäldchen erst als richtig. Davor war das Franzosenwäldchen ein Ort eher unserer Jungenphantasien, die sich am Hörensagen bedient hatten, gewesen. Es war ein unbedeutender Hain zwischen den Feldern und Wiesen, die sich von der Nordseite des Lindele aus zum Burrenwald erstreckten Ich schreibe das in der Vergangenheitsform, denn eine große Fläche davon wurde seit der Mitte der sechziger Jahre bebaut. Steht das Franzosenwäldchen noch? Zu meiner Kinderzeit ging das Gerücht um, die abziehenden Franzosen hätten in ihm Waffen vergraben, Gewehre, Handgranaten, und das war für einen Neun- oder Zehnjährigen doch spannend. Mit Helmut K. und anderen Freunden strolchte ich dort ein paar Mal herum, streifte durch das Unterholz, durch die Baumwipfel fielen Sonnenstrahlenstreifen, wir suchten den verstrüppten Boden nach waffenähnlichem Kram ab, fanden, oh ja, auch Patronenhülsen, also war etwas dran an dem Gerücht; dachten wir. Vielleicht fanden wir auch noch anderes militärisches Material, verrottetes, zerbrochenes Kleinzeug, ein Koppelschloß oder Ähnliches. Für einige Tage eines Sommers brachte das Franzosenwäldchen unsere Phantasie auf Trab. Wir stellten uns vor, wie an diesem Wäldchen französische Reiter vorübertrabten, französische Jeeps vorbeifuhren; und nur wenige hundert Meter entfernt standen ja auch noch die Baracken des Lagers, von denen ich damals nicht wußte, daß es ein Gefangenenlager gewesen war, aber auf unausgesprochene Weise gehörten diese lang gestreckten niedrigen Gebäude zur ereignisreichen Landschaft, die sich am Lindele erstreckte, dazu, und auch zum Krieg, den es irgendwann einmal gegeben hatte. Das Lager kannte ich ja, in ihm besuchte ich in jener Zeit mit meiner Mutter unsere Verwandtschaft, die L.s, die Ende der fünfziger Jahre, über Zwischenstationen in Weinsberg und auf der Schwäbischen Alb, nach Biberach in diesem inzwischen als Notaufnahmequartier genutzten ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergekommen war, bis sie in die neuen Wohnblocks am Mühlweg einziehen konnten. In den sechziger Jahren wurden die Baracken abgerissen – wurden sie doch? – und machten Platz für neue, größere Unterkünfte für die dort stationierte Abteilung der Bereitschaftspolizei. Ob in dem Sommer, in dem das Franzosenwäldchen interessant war, oder in dem danach – ich sehe wieder, wie ich ungeduldig, aber immer höflich auf die Verwandtschaft wartend, voranspazierte, wenn „Tante Emmi“ und ihre schon alten Eltern und meine Mutter, die sich unterhielten, langsam, sehr langsam, über die Kuppe des Lindeles gingen; wie es der Zufall arrangierte, hatten es die in Biberach neu Eingetroffenen zu unserer Wohnung – und weil es uns in Biberach gab, waren sie aus den polnisch verwalteten Gebieten Schlesiens nach Oberschwaben gekommen, denn in die DDR, wo Tante Emmis Bruder mit Familie lebte, wollten sie nicht – gar nicht weit. Sie mußten ja nur über’s Lindele und die Lindelestraße hinuntergehen. Wäre Hitlerdeutschland nicht untergegangen, hätte es auch sie nie nach Biberach verschlagen.
- Sehr warmer, sehr schöner Frühsommertag fast schon, mit vielen weißen
Kumuluswolken, die im Blauen schwammen.
8.5.2002

7
Mai

7.5.2002

Die Summe, die ich zwischen 1971 und 1978 im „Strauß“ liegen ließ, muß beträchtlich gewesen sein. Erstens trank ich viel, erst Bier, schließlich eher Wein, zweitens waren Bier und Wein und Tee mit Rum ziemlich billig, viel billiger als heute, selbst im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten. (Der Viertelliter Rotwein kostete im „Strauß“ um die DM 2,30, und das war kein schlechter Stoff.) Das, was ich für die Zivildienstarbeit 1973 erhielt, und das war verdammt wenig, und jener Lohn, den ich als Werkstudent von April bis Juli 1974 bei der großen Biberacher Niederlassung des Stromlieferanten Energieversorgung Schwaben (später einer der größten Atomstromhersteller), verdiente, verschwand zum großen Teil, wenn nicht zum größten, in der breiten schwarzen Bedienerinnenbörse, wenn Barbara, und das war ja fast jeden Abend so, zum Schluß der Zecherei, in der drei oder vier halbe Liter Bier oder zwei bis drei Viertele Rotwein hinuntergeschluckt worden waren, abkassierte. Manchmal aß ich auch im „Strauß“, Jägerschnitzel mit Croquetten und künstlich aussehendem Gemüse dazu war für eine gewisse Zeit ein bevorzugtes Menü; und hatte ich am Vorabend mit der Trinkerei den Magen zu sehr strapaziert, denn zuhause öffnete ich nachts gerne noch ein Fläschchen Gerstensaft oder ich nahm noch etwas Wein zur Brust, dann bestellte ich eine Hühnerbrühe mit Ei, die ich vorsichtig schlürfte, dazu kam erst einmal nur ein Achtele Rotwein – Weißwein trank ich seltener – in Betracht; das änderte sich im Verlauf des Abends. Allein saß ich da doch selten, man hockte mit den anderen zusammen, quatschte über Politik und Kino, über Literatur weniger ausführlich, was ich auch nicht vermißte, denn Literatur hatte ich ständig im Kopf, soff, qualmte Zigaretten (`73 und `74 noch keine selbst gedrehten), wurde lebhafter und schließlich bezecht, ich; und das wollte ich so. Je länger der Abend wurde, umso besser wurde mir. Freilich trug ich mehr als nur einmal üble Räusche hinauf zur Lindelestraße; durch frische Frühlings-, laue Sommer-, kalte Novembernächte, in denen der Nebel so dicht wie in meinem Schädel hing, über die verschneiten Gehwege der Wielandstraße, des Bismarckrings, über die im Wäldchen entlang der Gaisentalstraße, im Überqueren der Gartenstraße, wenn die Fenster des Hauses, auf das ich unsicheren Schrittes zutaperte, schon nicht mehr erhellt waren. Vor Mitternacht kam ich damals fast niemals nach Hause. Manchmal nahm ich den anderen Weg aus der Stadt, erklomm den steilen Asphaltpfad, auf dem man vom „Biberkeller“ – wo diese Wirtschaft im Sommer ihre Tische und Bänke aufstellt, habe ich vor einiger Zeit beschrieben – ansteigt und hinauf zum östlichen Ende der Gartenstraße gelangt, nach links abbiegt und in westlicher Richtung geht, vorbei an den Gärten meiner Kinderzeit und -spiele. Auch in umgekehrter Richtung führte ich meine Schritte gern, sommers wie winters. Noch in den ersten Sechzigerjahrewintern standen rechts oberhalb des „Biberkellers“ hohe Balkenkonstruktionen, die, wie ich einmal beobachten konnte, aus einem Gartenschlauch mit Wasser bespritzt wurden; sofort bildeten sich lange Zacken und pittoreske Fahnen, die erstarrt von den Gerüsten hingen, als ich am Tag danach vorüber kam; mächtige Eiszapfen, zwei Meter lang, formten einen bizarren Vorhang, oder ein gigantisches Mordinstrument für einen Winterriesen, der in einer der am Gigelberg und in den südlichen Abhängen des Lindelehügels oft so versteckt, daß man sie nicht bemerkt, liegenden Höhlen noch schlief und irgendwann hervorkommen konnte. Diese Eiszapfen und Eisstangen wurden abgeschlagen und auf dem Anhänger eines Traktors fortgeschafft. Aus einer einzigen dieser Eisstangen hätte ich genug klirrende Würfel für alle Scotch- und Bourbon-Drinks meines Lebens, und das waren etliche, schlagen können. (Hätte sie ausgereicht?) Als ich sie damals sah, die Eisbalken, ahnte ich freilich noch nichts von meiner Affinität zu diesen äthylalkoholischen Drinks.
- Kühler und grauer Maitag.
7.5.2002

6
Mai

6.5.2002

In 21 Jahren meines Lebens war ich ein steter Kneipengänger. Im „Strauß“ begann das. Wenn ich daran denke, wie oft ich hinter dieser grauen Mauerecke – der Verputz dieses Gebäudes ließ es fast unansehnlich wirken, aber in jener Biberacher Zeit war die Stadt noch nicht so hell-pastell herausgeputzt wie in den heutigen Tagen, in der ganzen Innenstadt dominierte diese trübe Farbe, die diese alte Reichsstadt in Herbsttagen wie mit der Patina versunkener Jahrhunderte bestrich – saß !; denn an eben dem Tisch, der hinter ihr im „Strauß“ stand, saß ich sehr oft, dort war einer meiner Lieblingsplätze im „Strauß“, weil ich von ihm aus, im Halbdunkel des Gastraumlichts sitzend, denn das warme Lampenlicht über dem großen Tisch in der Mitte und das über dem Ecktisch links von diesem Platz in der hintersten rechten Ecke und auch das über dem kleinen Tisch, der direkt vor der Tür zum Nebenzimmer stand, drang nicht in voller Helligkeit heran, sodaß, wer dort saß, in einer schummrigen Zurückgezogenheit auf sein Bier oder Glas Wein wartete, das ganze Innenleben des „Strauß“ überblicken konnte.
Wenn ich in meiner Erinnerung an diesem Tisch sitzen bleibe und nicht zu einem der andern gehe und mich dort niederließe, wenn ich also aus dieser Perspektive den Gastraum beobachte, die, die in ihm sitzen, gehen, stehen, hereinkommen und hinausgehen, sagen wir: an einem Abend im Mai 1973 oder 1974, dann stelle ich fest, daß der Anblick der meisten dieser Körper und Gesichter mir vertraut ist, weil ich sie seit langem in ihren Haltungen, Bewegungen, Bekleidungen, in ihrer Mimik und Gestik kenne, denn wie ich gehen auch sie so häufig in den „Strauß“, daß ich meinen könnte, wir alle zählten zu einer Sippe vielleicht sogar. Es gab natürlich immer „Strauß“-Gäste, mit denen ich nie ein Wort wechselte. Aber begegnete man sich in der Stadt und ging man grußlos aneinander vorüber, was nicht hieß, daß das achtlos gewesen wäre, sondern es war nur der üblichen Distanzhöflichkeit geschuldet, dann wußte doch jeder vom anderen: „Der hockt auch jeden Tag im Strauß“, und ein bißchen Verbundenheitsgefühl stieg im Bewußtsein auf, während jeder seiner Wege ging; und ich behaupte, diese Verbundenheitsempfindung war, obwohl sie klein blieb, komprimierter als bei Stammgästen anderer Kneipen, denn allein daß jemand in den „Strauß“ ging, bedeutete, daß man von ihm annehmen konnte, daß auch sein Denken und seine Stimmungsfrequenz insgesamt auf der Wellenlänge lag, die jene Jugend für sich in Anspruch genommen hatte, die sich aber so was von deutlich von den Altvorderen und von spießigen Gleichaltrigen unterscheiden wollte. Und zu dieser Jugend kamen Ältere, die ihre frischen Ideen im Kopf mitbrachten; der Künstlerstammtisch, um den trotz dieser Bezeichnung gar nichts Dumpfes war, tagte im „Strauß“; und so entstand ein Fluidum, in dem und mit dem man sich gegenseitig beeinflußte und zum Leben antörnte. Dennoch – auch im „Strauß“, ich will es nicht verschweigen, gab’s langweilige Abende, in denen kein Gespräch einen Funken ergab; und manchmal hockte ich, frustriert, allein nach dem Kinobesuch an einem der Tische, das Lokal war, an einem Dienstag Abend (auf die nächtlichen Straßen fiel Landregen) spärlich besucht, zum Reden hätte ich keine Lust gehabt, und Barbara, die hoch gewachsene schlanke Wirtin mit den rassigen Gesichtszügen, trat an den Tisch heran und fragte rein rhetorisch, denn sie kannte meine Vorlieben seit Jahr und Tag: „Heilbronner, Klaus?“ Und ich nickte nur und sie ging und wußte, daß ich schlechte Laune hatte.
- Zunächst blieb’s trüb. Über die Mittagszeit lichtete sich’s auf. Bis zum Abend Sonnenschein.
6.5.2002

5
Mai

5.5.2002

strauss
Warum habe ich gestern geschrieben, ich hätte kein Foto vom „Strauß“? Wenn ich doch genau hätte wissen müssen, daß ich doch eines zur Verfügung habe? Dieses Foto, das ich hier abbilde, nachdem ich es mit einem gängigen Com­pu­­er­bild­be­ar­bei­tungs­pro­gramm links und rechts etwas be­schnit­ten ha­be, befindet sich doch schon seit län­ge­rem im Spei­cher meines 300-Mhz-AMD-Rech­ners. Manfred S. nahm diese An­sicht vom „Strauß“ in einem der Jah­re der Acht­ziger – aber ich werde ihn fragen, ob er sich erinnern kann, wann er dieses Fo­to machte – auf. Woher mein Mangel an Aufmerksamkeit, weshalb diese Verdrängungsversuche? Ich habe gestern nicht an dieses Foto gedacht (und es ist auch das einzige, das M vom „Strauß“ hat, das kann ich nun sagen, eine sehr alte Aufnahme, eine Postkarte, auf der, wie erwähnt, das Kesselhaus der Brauerei zu erkennen ist, die ihm vor vielen Jahren irgendwie in die Hände gekommen ist, ausgenommen, ohne mich wieder berichtigen zu müssen, denn wir sprachen vor Jahren schon eben über den Umstand, daß man damals nie auf den Einfall gekommen war, vom „Strauß“ Fotos zu machen, und daß dieses Foto damals entstand, ist schon beinahe als eine unabsichtliche und wenig die Zukunft bedenkende Handlung anzusehen), weil es nicht in meinem kleinen Fotoapparat entstand, in jener „Kodak Instamatic“-Box, die in ihrer Kleinquaderform an die Kästen der frühen photographischen Apparaturen erinnert (ich schreibe im Präsens, denn ich habe diesen Fotoapparat noch), die ich zur Konfirmation geschenkt bekam; wenn ich mich nicht, wie es gestern schon wieder vorgekommen ist, falsch erinnere, sogar von meiner Göttinger Verwandtschaft väterlicherseits? Dann wäre das Foto, das mich am Konfirmationstag in meinem Konfirmandenanzug zeigt, auf dem ich in einer Hand ein Buch halte, die Bibel vermutlich, mit der anderen mich am VW-Käfer mit dem GÖ-Autokennzeichen abstütze, aber so, daß eine lässig-elegante Haltung dabei natürlich gewahrt bleibt, eines der ersten Fotos, die mit dieser Kamera – eigentlich ist diese Bezeichnung für dieses einfache Modell, das mir aber über Jahrzehnte hinweg treue Dienste leistete, nicht angebracht – gemacht wurden? Und mit ihr lichtete ich auch die Ruine des „Strauß“ ab, im Januar 1996, weil ich für das Ankündigungsplakat der Lesung des Poems, das ich im Januar `96 aber noch schrieb, nachdem ich es im November `95 begonnen hatte, Aufnahmen von diesem traurigen Anblick haben wollte; und nicht nur für dieses Plakat, sondern auch, weil mir plötzlich bewußt geworden war, wie wichtig einmal diese Fotografien sein könnten. Klaus Leupolz fotografierte mich an einem anderen düsteren Januarnachmittag vor der auf diesem hier abgebildeten Foto zu sehenden „Strauß“-Ecke stehend; ich halte einen Schnellhefter in der Hand, der suggerieren sollte, daß sich in ihm der Anfang März dann vorgelesene Text befände. Sein Foto wurde zum Ankündigungsartikel der Presse veröffentlicht. Sein Foto sollte, denn weder er noch sonst jemand wußte um seinen Zustand, seine letzte künstlerische Handlung sein; zwei Wochen später stürzte er in der Nacht vor der geplanten Abreise nach Australien und Asien schwer von der Kellertreppe, und als er nach einer Woche genau untersucht wurde, hatten die Ärzte den Tumor entdeckt.
- Heute kam kein Sonnenstrahl durch die Wolkenschicht. Abends Regen.
5.5.2002

3
Mai

3.5.2002

Abends in den „Strauß“ zu sitzen war 1973 schon zu einem Verhalten geworden, das man gar nicht mehr befragte. Auch zu einem Ritual. Zu keiner der anderen Kneipen, die ich in den Jahren und Jahrzehnten meines Lebens in Biberach danach aufsuchte, hatte ich so ein inniges, ja intimes Verhältnis wie zum „Strauß“, der Gaststätte, die in Jahrzehnten, die vor meiner regelmäßigen Frequentierung lagen, zur „Brauerei Strauß“ gehört hatte, deren Kesselhaus, wie ich auf einer alten Fotografie, in einer Zeit später, als der „Strauß“ nicht nur für mich seine Bedeutung verloren hatte, sah, auf der anderen Seite der wirklich nicht breiten Consulentengasse gestanden hatte. In den Jahren, in denen ich abendlich und täglich – den Ruhetag am Donnerstag ausgenommen, und tatsächlich ging ich auch nicht wirklich jeden Tag hinein, aber fast – den langen Gastraum betrat, trank man in ihm das „Gögginger Bier“; von einer Brauerei im südwestlichen Zipfel von Oberschwaben, deren genaue Lage wir, und warum hätte sie uns auch interessieren sollen, Hauptsache war, daß das Bier mundete, damals nicht kannten; erst in den Neunzigern, erst, als alles das, was in den Siebzigern im „Strauß“ geredet, gelacht, agitiert, gedacht, getrunken worden war, sich seit langem nur noch als Erinnerungspartikel in meinem Gedächtnis festgesetzt hatte, fuhr ich einmal, als Manfred S. und ich in seinem Auto eine Spritztour zum Rheinfall bei Schaffhausen unternahmen, an eben dieser Brauerei vorbei. Beide erinnerten wir uns im gleichen Blick. „Von da also kam das gute Gögginger her“, sagte ich versonnen; ein paar Bilder aus jenen Abenden und Nächten legten sich zwischen die Landschaft, durch die wir fuhren, und meinen Augen.
Wie oft schon habe ich bedauert, daß ich damals keine Fotos vom „Strauß“ machte, festhielt, wie es in der Gastwirtschaft aussah! Auch keine Außenaufnahmen aus seiner Zeit Anfang der siebziger Jahre habe ich. Die Selbstverständlichkeit, mit der in ihn hinein- und hinausgegangen wurde, in der wir in ihm hockten, die Tatsache, daß er eben da war, ließen mich nie auf den Gedanken kommen, er könnte eines Tages verschwunden sein. Man nahm sehr vieles selbstverständlich in den jungen Jahren und dachte noch nicht daran, daß man sich eines Tages an etwas, das als das Natürlichste erschien, überhaupt erinnern würde, gar wollte. Dachten und handelten andere „Strauß“-Geher je anders, gibt es diese atmosphärischen Dokumente, die ich vermisse? Aber könnten uns Fotografien von einem oder mehreren der Abende im „Strauß“ uns die Wahrheit über die Stimmung in diesem für mich – und ich weiß: auch für andere – immer ein besonderer Aufenthaltsort gebliebener Raum in der Biberacher Zeit vermitteln; die vibrations, in denen er unsichtbar im Zeit- und Empfindungsgefüge, mit uns, die wir ihm unsere Stimmungen und Gedankenflüge zukommen ließen, indem wir in ihm und seinen Schwingungen uns aufhielten, seine Aura entfaltete? Proust mochte den Realismus, den die Photoplatte lieferte, nicht; „weil sie [die photographische Aufnahme] niemals zwei verschiedene Oberflächen oder Gegebenheiten vergleicht, kann sie keinen Zugang zu der Wahrheit bieten, die in das Blickfeld rückt, wenn man über die Zufälligkeit hinausgeht, auch wenn man dies dadurch erreicht, daß man zwei Photographien – oder Erinnerungen – einer Person in verschiedenen Umständen miteinander vergleicht“, wie Hayman Prousts Auffassung paraphrasiert. (Vgl. Hayman, Ronald, Marcel Proust, suhrkamp taschenbuch 3311, S.503.) „Die Menschen verändern uns gegenüber unaufhörlich ihre Position. In der zwar unmerklichen, aber unablässigen Bewegung der Welt betrachten wir sie in einem Augenblick, der zu kurz ist, als daß wir die Bewegung feststellen könnten, die sie vorantreibt, als unbeweglich. Wir müssen jedoch aus unseren Erinnerungen nur zwei zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder auswählen, die für sie so weit ähnlich sind, daß sie sich an sich nicht verändert haben, zumindest nicht merklich, und der Unterschied zwischen den beiden Bildern wird zu einem Maßstab für die Veränderung, die sie uns gegenüber vollzogen haben“, wie Proust selber formuliert. (Vgl. Haymann, a.a.O., S. 503; vgl. Proust, Marcel, Brief an Henry Ghéon, 2.1.1914, Corr., XIII., S.23.) Ich überlasse es der Leserin und dem Leser, darüber zu grübeln, ob die Fotografie nicht doch diese kleine Veränderung und die Wahrheit, die sie in sich trägt, leisten kann, aber wir müssen nicht erst Proust bemühen, wenn wir an der Wahrhaftigkeit von fotografischen Aussagen zweifeln; es ist uns möglich, aus diesen scheinbar so unverrückbar bleibenden „Zeitdokumenten“ eine beliebige Variation jener einstmaligen Sekunden herzustellen, bis eine dieser Möglichkeiten einer Situation uns in die – in der Regel dunklen – Zwecke paßt. Auch mit solchen Mitteln verändern die Technologien das, was mangels einer „harten“ Definition Zeit geheißen wird, die sich anhand dessen, was in ihr geschah, darstellt; und natürlich auch die Zeit, die ihre Lebensformen entwickelt hatte, bevor diese Technologie sie rückwirkend so arrangieren, daß die Historiker eines anstrengenden Tages Schwierigkeiten haben werden mit den Umschreibungen dessen, was sie „Geschichte“ nennen, weil ihnen – die Zeit dafür fehlen wird. Das wird dann die Zeit neuer dogmatischer Axiome sein. Aber ich will mich hier nicht leichtfertig in halbphilosophischen Sentenzen verlieren.
Ich muß also geradezu froh darüber sein, keine Fotografie vom Innenleben des „Strauß“ zu besitzen, denn sie könnte mir die erinnernde Imagination auch blockieren und sie um diese einzige von ihr angebotene Augenblickslage herum organisieren und andere Erlebnisse und Ereignisse – den Unterschied zwischen beiden erörtere ich nicht – zurückdrängen, vielleicht sogar vernichten. Weil die Erinnerung an das „Strauß“-Leben sich in mir tatsächlich immer wieder in neuen Konstellationen zusammenfügt, bewahren sie mir auch den Eindruck der Lebendigkeit, die an dem damals wichtigsten Ort der „Szene“ in der kleinen Stadt herrschte; das feeling der vibrations, die an diesem Ort durch die Seelen und Bewußtseine – möge sich jeder nun aussuchen, was ihm zutreffender zu sein scheint, die Erinnerung an diesen Ort läßt mich großmütig werden – zitterten.
- Vor allem war der untere Himmel mit nicht ganz dichten weißlich-grauen Wolken zugezogen, durch die etwas Bläuliches da und dort schimmerte.
3.5.2002

2
Mai

2.5.2002

Kruse beendete seinen Zivildienst, er verschwand wieder aus meinem Gesichtskreis, aber nicht für immer, aber nicht aus der Stadt, was ich aber so dezidiert nicht behaupten möchte, denn ich weiß ja nicht, ob er in jener Zeit Biberach doch gelegentlich verließ. Manchmal, im Abstand von Jahren, standen wir danach, aufgrund der Kontingenz, die seine verschlängelte Lebenslinie an gewissen Punkten über meine legte und umgekehrt, in Kneipen und wechselten ein paar Worte, oder auch nicht, wenn jeder von uns mit anderen Leuten im Gespräch herumstand oder -saß, oder dann sah ich ihn, ohne daß es mir etwas bedeutet hätte, denn so gut kannten wir uns nie, irgendwo, sogar in kürzeren Zeitabständen, bedachtsamen Schrittes über eine Straße gehen. Er verkehrte in einer Szene, die nicht die meine war, in der nichterlaubte Substanzen ihre Auswirkungen über die Persönlichkeiten der User stülpten; zum letzten Mal begegneten wir uns im Herbst 1984 im „Tweety“, einer Jugendkneipe, die in jenem Jahr aufgemacht hatte, schräg gegenüber vom „Strauß“ in der Consulentengasse, den es als Gastwirtschaft noch gab, der aber seine Funktion als Soziotop in der Vergangenheit gelassen hatte. Wir unterhielten uns. Anfang der Neunziger hörte ich, er sei in Schweden an einer Herzkrankheit gestorben.
Kruse ging, Falk Chr. Burhenne kam. Ich glaube, wir kannten uns, als er seinen Zivildienst im Krankenhaus antrat, schon aus dem „Strauß“, wo er oben im zweiten Stock unter dem Dach eine der Kammern bewohnte. In einer von ihnen hauste inzwischen auch Manfred S., im Frühjahr 1973 noch Schüler des „Hauchler-Studios GmbH & Co“, einer international bekannten Privatschule für das Druckereigewerbe; um an ihr zu einer soliden Weiterbildung zum Reprofotografen zu kommen, hatte das Arbeitsamt Kassel ihn, der fünfundzwanzig war, ins oberschwäbische Städtchen, von dem ihm nicht einmal bekannt gewesen war, wo es lag, „irgendwo in Schwaben“, geschickt. Auch Falk hatte, allerdings ein Jahr davor, im „Hauchler“, wie diese Ausbildungsstätte mit angegliedertem Internat, in dem aber nur ein Teil der Schülerschaft unterkam, weshalb zusätzlich Zimmer in der Stadt von ihr belegt wurden, in der Großen Kreisstadt allgemein genannt wird (und zu dem auch damals schon Auszubildende aus eher vermögenden Kreisen aus Afrika und Asien kamen), eine Lernzeit über sich ergehen lassen, arbeitete aber danach nicht im Beruf, für den sie gedacht gewesen war; zunächst war ja auch einmal der Zivildienst zu bedenken. Er hatte aber generell andere Interessen. Falk, etwa so groß wie ich, kam aus Bonn, sein Vater, mit dem er nicht viel zu tun hatte, saß in einer der Regierungsstellen, oder einer Institution im Umkreis von solchen, an einem Schreibtisch, seine Mutter, in deren Wohnung er sich aufhielt, wenn er auf seinem 450er-Motorrad nach Bonn fuhr, malte. Er hatte lange blonde Haare, einen blonden Vollbart und die helle Haut der Blonden, die im Gesicht ins Rosafarbene spielen konnte. Ich fand ihn sympathisch, hatte aber keine erotischen Absichten. Im Lauf der Zeit wurde ihm klar, daß dieser neue Freund schwul war, weil er, im Gegensatz zu ihm, dessen Freundin damals die Comtesse von W.-W., sie wohnte auf einer Burg südöstlich von Biberach, eine zarte Blonde mit fein geschnittenem Gesicht, war, stets ohne weibliche Begleitung erschien und auch nie klagte, er würde keine finden, und er verlor nie ein Wort darüber. Wir hockten dann häufig zusammen. F. behagte der Krankenhausjob nicht, „Fäega! Fäega!“ war ihm nicht so angenehm; er kam unregelmäßiger zum Dienst, was die Verwaltungsverantwortlichen nicht erfreute, aber er hatte immer günstige Atteste von Ärzten, die ihn wegen chronischer Nebenhöhlenbeschwerden und Migräne – die er tatsächlich hatte – krank schrieben. So kurvte ich im Juni, Juli allein mit dem Säckekarren durch die Gänge, schob ihn in den Aufzug (neben dem Karren der zwei Meter lange matt glänzende Metallbehälter mit der gewölbten Oberschale, unter der ein Toter lag), zum Ofen. Der Vorfall, der Kruse widerfahren war, hatte mir drastisch gezeigt, wie ich ihn nicht bedienen sollte, und es geschah auch nichts mehr. Hin und wieder diente F. einige Tage ab, wir lagen auch, der Sommer begann, hinter dem Gebäudetrakt im Gras und rauchten oder wir standen oben auf der großen umlaufenden Dachterrasse des „Schwesternhochhauses“, des Hochhauses, in dem die Schwestern wohnten, prinzipiell von jungen Typen in der Stadt nur „GT“ genannt, Geiler Turm, und sahen über die Häuser. Der 31. Juli 1973 war mein letzter Tag im Zivildienst. Ich war frei.
- Den ganzen Tag über hielten sich die Wolken grau, obwohl nicht ohne Lücken, durch die hin und wieder ein Sonnenstrahl fallen konnte, über Berlin; dann zogen sie fort und die Abendsonne lächelte mild von Westen her.
2.5.2002

1
Mai

1.Mai 2002

Ich hätte in meinem Leben viel mehr schreiben müssen, und daß ich es, und einige Gründe dafür werden hier in diesen Notizen erwähnte, nicht tat, ist es, was mich ärgert, was mir meine Jahre als vertan und wenig ergiebig erscheinen läßt, aber hätte ich es getan, hätte ich womöglich sogar etwas Erfolg gehabt, und wäre das so gewesen, vielleicht Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, dann wäre ich ja, weil ich sehr wahrscheinlich damals schon Biberach verlassen hätte und nach Berlin gezogen wäre, den Menschen, die in jenen Jahren zu Freunden wurden, entweder gar nicht erst begegnet oder die Freundschaften hätten, selbst wenn sie aus der Entfernung noch aufrechterhalten worden wären, wobei sich aber immer ein träges Moment in sie einschleicht, nicht die Intensität, in jenen Stunden und Wochen, die zu meinen besten Erinnerungen an die Biberacher Zeit das ihre beitrugen, gewonnen, die sie erst in Jahren oder gar Jahrzehnten des Umgangs gewinnen; das würde ich wiederum bedauern, wiewohl ich, hätte ich Biberach den Rücken gekehrt, natürlich nicht hätte wissen können, was mir entgangen wäre. Diese Überlegung verführt einen zuweilen zu der anderen, daß man das, was man zu seinem Leben gemacht hat, in einer nicht ganz so trüben Viertelstunde doch zu akzeptieren geneigt wird; ergeht man sich nicht, das ist die Voraussetzung dafür, in träumerischen Phantasien, in denen der Fortgang des eigenen Lebens, nachdem man fort gegangen wäre, als „interessanter“, großartiger, erfolgreicher, alles in allem „schöner“ und befriedigender ausgesponnen wird; leider vergißt man in solchen tagträumerischen Extrapolationen immer die Möglichkeit, anderswo auf andere Weise, in anderen Umständen, dem Glück ebenso vergeblich hinterher zu springen.
Mein Leben jedenfalls wäre ärmer gewesen, geworden, wenn ich Klaus Leupolz nicht meinen Freund hätte nennen können. In wie vielen Abenden und Nächten saßen wir zu zweit oder im „kleinen Kreis“ – der sich von dem der Verdurins eigentlich nur dadurch unterschied, daß unser „Jour fixe“ in einem nicht-, ja unbürgerlichen Geist stattfand – zusammen, plauderten, diskutierten, lachten über Biberacher Verhältnisse und die der Welt! So ging es durch zwei Jahrzehnte, von 1979 bis 2001, aber 1999, in dem Jahr, zu dessen Beginn ich nach Berlin übersiedelte, war er schon so krank, daß er mich zwar noch wahrnahm, wenn ich ihn, als er schon in den Pflegeheimen lebte, besuchte (ich kam auch aus anderen Gründen nach Biberach), aber sich mit mir nicht mehr unterhalten konnte. Wie schrecklich alles geworden war! Er hatte Krebs, Glioblastom, drei Operationen hinter sich, saß im Rollstuhl, und... Aber ich will mich an schönere Tage entsinnen...
Eines Tages Anfang der Neunziger zeigte ich ihm ein Foto, das mir, warum auch immer, ein Zufall beim Kramen in meinen Sachen in die Hände hatte fallen lassen, das ich Klaus, vielleicht hatten wir aber auch von den alten Zeiten der Siebziger geredet und ich hatte dieses Foto ganz absichtlich gesucht, mit einem Schmunzeln überreichte. Wir saßen in seiner bescheidenen Zweizimmerwohnung seines Hauses in der Justinus-Heinrich-Knecht-Straße, das seine Mutter ihm Mitte der achtziger Jahre vererbt hatte. Aus den zwei Fenstern des größeren, vorderen Raums schweifte der Blick südwärts über die Dächer der Häuser, die an der Nordseite des Marktplatzes stehen, blieb dann und wann an der Uhr von St. Phallus, der paritätisch genutzten Stadtpfarrkirche, hängen, wenn ich nach meinem Einkauf an meinem kinofreien Tag schnell auf einen Sprung bei ihm hereinsah, wir Verabredungen für den weiteren Abend trafen (wo man sich traf, mit wem), und ich danach zunächst mit dem Stadtbus, den Einkaufsbeutel auf einem Sitz neben mir geparkt, hinauf auf’s Hühnerfeld fuhr. Wir saßen also eines Abends in seiner Wohnung, er sah auf das Foto und lachte. Ich grinste mit. Er besah sich das Foto genau, lachte noch mehr, schüttelte den Kopf. „Ja, so war das damals, so ging man am 1. Mai durch Biberach“, sagte ich amüsiert. Ich nahm das Foto, das er mir, noch immer lachend, und er lachte stets eher in sich hinein als lauthals, zustreckte, wieder entgegen und sah selbst darauf. Es zeigte einige meiner Genossen der SDAJ-Gruppe, aus der Distanz so aufgenommen, daß der leere Marktplatz vor dem Brunnen (der dort unweit des Rathauses sein Wasser verplätschert), vor dem die Genossen standen, zu sehen war, ohne Autos und Passanten, denn am späten Vormittag des 1. Mai, des Kampftags der Arbeiterklasse, ist man in Biberach noch nicht unterwegs; die jungen Genossen hatten sich mit zwei roten Fahnen dort aufgebaut, in ihrer Mitte stand ich in meinem weißen Mantel mit der roten Nelke im Knopfloch, meine langen Haare wallten dunkel über die weißen Schultern. So war ich, so waren wir am 1. Mai 1975 zu der 1. Mai-Veranstaltung des DGB in der Aula des – wo könnte es anders stattgefunden haben? – Wieland-Gymnasiums gegangen. Aus reinem Pflichtgefühl nur? Um zu zeigen, daß es uns gab; wir waren auch da, in der Stadt! „Die Gewerkschaft“ war uns nie links genug; und das war sie ja auch eher weniger als mehr, von Einzelmitgliedern, die aber in der Gesamtheit aller nie auffielen, in Biberach sowieso nicht, abgesehen. Zu sozialreformerisch. Zu versöhnlerisch. 1973, 1974, 1975 gingen wir dort hin, allerdings nur 1975 mit Fahnen, um der lahmen Rederei im Hintergrund zu etwas Farbe zu verhelfen; bildeten wir uns ein. –
Ein anderer 1. Mai, elf Jahre später, steigt nun aus der Erinnerung empor. Am 26. April 1986 explodierte ein Reaktorblock des Kernkraftswerks in Tschernobyl in der westlichen Sowjetunion. Die radioaktive Strahlung trieb in Regenwolken und mit dem Wind nach Westen. Es war der erste große Atomunfall in Europa und in seinem Ausmaß und in seinen Folgen der bisher erste, entsprechend waren die Reaktionen und die Beschwichtigungsversuche der Oberen und Offiziellen. Kaputte Reaktoren rufen nun einmal bestimmte Reaktionen hervor; z.B. Krebs. Am 1. Mai 1986 regnete es in Biberach für einige Zeit. Zunächst hatte der Tag sonnig begonnen, dann regnete es, danach strahlte wieder die Sonne und vielleicht etwas Cäsium aus den beregneten Wiesen. Während des Regens ging ich, aus bewußten Gründen einen Schirm über mich haltend, den ich aber auch ohne zu befürchtenden Fallout mitgenommen hätte, am frühen Nachmittag zum Kino, um in den Vorführräumen meine Arbeit zu tun. Die Zuschauer kamen spärlich; war der 1. Mail ein schöner Tag, waren nie viele Kinobesucher gekommen. Die Vorstellungen begannen. Während die Filme liefen, wechselte ich Aushangfotos und -plakate aus, auch die in den mit zwei Schaukästen versehenen Doppeltüren der Garage, die im Hof ein Anbau des „Urania“-Kinos ist. Mit Stecknadeln befestigte ich ein Plakat und Fotos eines demnächst kommenden Films, als Craig Russell, der schwule Schauspieler und Entertainer, aus dem „Urania“-Kino heraustrat. Wegen seiner hochhackigen Stiefel war er gerade mal so groß wie ich. Am Vorabend hatte er, als zusätzliche künstlerische Darbietung zum Kinoeinsatz des Films „Outrageous“, in dem er die Hauptrolle spielte, oder spielt, wofern dieser Film noch irgendwo gespielt wird, einen Kabarettabend im Kino, vor der Filmvorstellung, gegeben. Ich hatte keine Zeit gehabt, mir das anzusehen, nur einmal, als ich den Gang zwischen dem „Urania“-Saal und dem „Stardust“-Kino zum hinter diesem kleinen Kino befindlichen Vorführraum gegangen war, gehört, wie Russell den Kinobesitzer in einer seiner – mäßig komischen, wie ich ahnte, und jemand sagte mir das dann auch so ein paar Tage danach – Nummern als „Adriana“ ansprach. Wie langweilig diese Travestiekünstler mir immer vorkamen! Ich hielt die Fotos an die Aushangfläche, stach die Nadeln durch sie in das weiche Material. Craig Russell sah zu und sagte: „What are you doing?“ Ich hatte schon bessere Anmachsätze gehört. „I’m working, Craig.“ Er wollte mich in ein Gespräch verwickeln, als er hörte, daß ich des Englischen kundig bin, ich hatte aber keinen Bock darauf. Er sprach von seiner Show, ich sagte ihm, daß ich sie nicht gesehen hätte. „Oh why not? It was funny, really.“ Wieder war ein Foto angebracht. „I had to work“, sagte ich. Der Typ ging mir auf die Nerven, er war nicht mein Fall, keine Chance, Alter, dachte ich. Ich steckte die Fotos an die rosafarbene Aushangfläche. Er wollte mir etwas schmeicheln. „You are a star, don’t you know it? It’s true!“ Konnte mir schon vorstellen, daß ich ihm gefiel. Ich blieb cool. „I know, Craig, I know this.“ Und das war nicht so dahingesagt, davon war ich ja seit jeher überzeugt. Schließlich gab er es auf und zog sich ins Foyer zurück. Nach einer Viertelstunde oder einer halben hockte er, ziemlich verloren wirkte er, auf einer der untersten Stufen der Treppe, auf der man zum „Sternchen“ gelangt, seine zwei weissen Pudelchen um sich, mit einem Blick, der nach innen ging. Ich wußte nicht warum, aber er tat mir leid. Ein paar Jahre danach las ich in einer Zeitung von ihm; er war gestorben; er hatte Aids gehabt. Seinen Film sah ich damals, als er wieder fort war.
- Der Tag begann sonnig, aber dann, ab Mittag, lösten sonnenhelle und trübe Phasen einander ab, und die trüberen waren in der Mehrzahl.
1.Mai 2002

30
Apr

30.4.2002

Als ich im Februar Tag für Tag ins Kreiskrankenhaus ging und die Tage, bis etwas siebzehn Uhr, dort mit den von mir zu verrichtenden Arbeiten, die ja nicht sehr anstrengend waren, verbrachte, schob zunächst noch Kruse diesen länglichen Wagen, auf dem wir die Säcke stapelten. Kruse war um zwei Jahre (?) älter als ich, aus irgendwelchen Gründen, die er mir einmal erklärte, die ich aber vergaß, leistete er erst jetzt seinen Dienst ab – hatte er nicht eine handwerklich-kunstgewerbliche Ausbildung zuvor gemacht? – und war, als ich dazukam, mit den Gepflogenheiten im Krankenhaus so vertraut, daß er längst, denn das Ende seiner Dienstzeit rückte näher, wußte, wann ein Päuschen die Arbeitszeit auflockern konnte, ein inoffizielles, neben Frühstücks- und Mittagspause (in letzterer ging ich über den Gigelberg nachhause), ohne daß Herr ...., der Hausmeister, uns dabei stören konnte, oder die Mutter Oberin, die höchste Vorgesetzte hier, uns zufällig in der dafür ausgewählten Ecke im Gebäudekomplex oder drum herum über den Weg lief; das kam höchstens auf einem der Gänge, auf einem der Stockwerke, vor; würdevoll, allein oder mit zwei Schwestern im Gefolge, schritt sie, die wir höflich grüßten, mit einem schwachen Lächeln huldvoll den entbotenen Gruß beantwortend, an uns vorüber. Kruse war sehr groß, sehr hager, sein längliches Gesicht, von langen Strähnen umflattert, wirkte trotz seines noch jugendlichen Alters nicht mehr frisch, von Falten gekennzeichnet; sein Gesicht hatte damals schon die Tendenz, seine Ausformung der eines Totenkopfes anzunähern, es war ausgemergelt. Er verfügte über einen coolen Humor, gab Sprüche zum besten, die nicht dämlich waren, er sprach langsam, eine Spur von Nachdenklichkeit war oft in dem, was er von sich gab, zu vernehmen, auch wenn das Gesagte fast nur Alltagsangelegenheiten meinte. Ich merkte aber schnell, daß der Lauf der Welt ihn nicht gleichgültig ließ. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit, fast Bedächtigkeit aus, nur einmal erlebte ich ihn hektisch, im Verbrennungsraum, als... Ich kam gut mit ihm aus. In den selbst erlaubten Päuschen rauchten wir eine Zigarette, tranken vielleicht sogar mal ein Bierchen, dann sammelten wir wieder Säcke ein. Das war doch an den Vormittagen unsere hauptsächliche Arbeit. Aber was war in solchem Hilfshausmeisterdienst noch zu tun? Ich erinnere mich nur an das Einsammeln und Verbrennen der Müllsäcke und an das dann allmählich nervende „Fäega! Fäega!“, denn Handwerkliches vollbrachte ich doch nie, wäre auch gar nicht fähig dazu gewesen. Gebastel hatte mich nie begeistert. Die Säcke einzusammeln, von Gang zu Gang, von Station zu Station, bedurfte es mehrerer Fahrten mit dem Karren. War er voll beladen, die Säcke türmten sich, fuhren wir ihn – bald schob auch ich ihn, denn das mußte ich, jawohl, lernen, weil Kruses Tage als Zivi dahin schmolzen – zum Lastenaufzug, mit dem sanken wir in den Keller, dort luden wir im Verbrennungsraum die Last auf die Vorbühne, von der aus der große Ofen mit dem breiten Fütterungsmaul dasselbe mit dem Müllmaterial gestopft bekam. Dieser Ofen war unersättlich, brannte am Tag und in der Nacht, nachts auf kleinerer Stufe. Auch am Nachmittag wurde ihm noch Nahrung zugeführt. Die Ausdünstungen, die er beim Öffnen seines Lochs von sich gab, waren nicht eben gesundheitsfördernd. Ich hielt die Luft an, so gut ich konnte, zu Zeiten Kruses, als er das Befeuern, der Gewohnheit folgend, weiterhin besorgte, und danach, als Falk und ich uns damit abwechselten. Wir Zivi-Hiwis oder -Hihas wurden, trotz dieser Gefährdung unserer Gesundheit, glücklicherweise nicht zu einem unliebsamem Aufenthalt in einer der oberen Etagen gezwungen. Wenn ich an die gebrauchten Spritzen denke, die durch die Arbeitshandschuhe stachen, als ich die Säcke packte ... Vor Dienstantritt war ich gegen diverse Unbillen geimpft worden, aber dennoch war mir’s nicht geheuer, wenn das wieder einmal, obwohl auch ich durch Erfahrung klüger zu werden pflegte und vorsichtiger mit dem Müllzeug umging, passierte. Manche dieser Säcke hatten’s in sich. Nicht nur Spritzen. Mit Äther getränktes OP-Saal-Material. Keine Menschenteile, aber Watte, Mull, was so anfällt, wenn mal ein Teil ausfällt.
Kruse brachte mir bei, auf die Säcke aus den OPs und aus der Intensivstation – wir latschten dort mit unseren staubigen Arbeitsmänteln (jetzt trug ich selber so einen) hinein und hinaus, und nebenan hingen die Schwerstkranken an den Schläuchen..., aber wir mußten ja dort hinein, hätten wir’s nicht getan, mit Rücksicht auf Hygiene, hätten wir Schelte erhalten, und wir taten brav unseren Job – zu achten, sie wurden unten in ihre Extraecke gelegt und zum Schluß des Ofenfütterungsvorgangs verfeuert. Hei, wie’s platzte, wie’s pratzte, wie’s verpuffte und dumpf knallte – mit Stichflammen mitunter, die aus dem Ofenloch sprangen! Kruse warf einen „kritischen“ Sack hinein – machte einen Satz zurück, es zuschte, zischte, Feuer leckte nach ihm, ich stand an der Tür und beobachtete seine artistische Nummer durchaus interessiert. Ein Gestank nach Tod und Teufel verbreitete sich, ich öffnete rasch die Tür und verharrte für ein paar Sekunden davor, bis sich die ekelhaften Düfte wenigstens etwas verzogen, mit dem muffigen Kellergeruch vermischt hatten. Die Lüftungsanlage – gab’s überhaupt eine? – war in solchen Augenblicken hoffnungslos überbeansprucht. Eines Vormittags hatten Kruse und ich zu viele Äthersäcke auf die Vorbühne gelegt, um schneller fertig zu werden. Mein Zivildienst leistender Kollege warf einen von ihnen hinein. Es knallte, wie es zuvor nie geknallt hatte! Nun wirklich erschrocken, sprang Kruse zurück, die Flamme hätte ihn beinahe erwischt. Um nicht vergeblich herausgeschnellt zu sein, berührte sie einen der anderen Säcke (Funken müssen auf ihn gefallen sein), der begann sogleich zu schmelzen, seine Innereien boten dem unsichtbaren Feuer neue Nährstoffe, sehr schnell wurde es sehr sichtbar. Ein kleiner Brand entstand. Kruse trat in wildem Tanz um sich, ich rannte zu einer Putzkammer in der Nähe, in der ich einen Eimer wußte, füllte diesen an einem Hahn dort mit Wasser, rannte zurück, Kruse hustete, er schlug mit einem der Säcke, die keinen brennbaren Abfall enthielten – die wir uns für den Nachmittag aufgespart hatten – auf die brennenden auf der Vorbühne ein, die direkt neben ihm qualmten, ich hievte den Wassereimer hinauf, er schüttete ihn fluchend über dem brennenden, stinkenden Zeug aus, ich rannte, ich holte Wasser, kam zurück, er schüttete; das Feuerchen verzischte allmählich, Kruse warf die halb verkohlten Säcke in den Ofen, den heraus gequollenen Müll, die verkokelten Innereien klaubte er sehr schnell auf, warf alles hinterher, ich eilte noch einmal zum Wasserhahn, stellte den Eimer in eine Ecke, als Reserve. Kruse schlug die Ofentür zu, verriegelte sie, im Raum hing der stinkende Schwelgeruch, die Tür stand sperrangelweit offen, Kruse taumelte das Treppchen herunter, wir flüchteten uns in den Gang. Kruses Gesicht war rauchgeschwärzt. Ich riet ihm, nach oben zu gehen und sich untersuchen zu lassen, aber er winkte ab. Er wollte nicht, daß jemand etwas davon erfuhr. Unser Chef, der Hausmeister, hatte irgendwo zu tun. Schon war auch der Mittag gekommen; bevor Kruse nachhause ging, sagte er, er würde heute nicht mehr kommen, ihm sei schlecht, ich solle aufpassen, ob sich noch etwas tue, im Verbrennungskeller, und auf eine dumme Frage des Hausmeisters eine passende Antwort haben. Aber niemand fragte. Ich blieb über Mittag im Haus und kontrollierte ab und zu unauffällig diesen Todesraum. Einige der Äthersäcke waren übrig geblieben. Ich nahm sie von der Nähe des Feuerlochs, verstaute sie unten in einer Ecke. Vor Dienstschluß wagte ich es, die „normalen“ Säcke zu verbrennen. Der Ofen verhielt sich ruhig. Vom Brandgestank war erstaunlich rasch nichts mehr zu riechen. In diesem Teil des Kellers war er nicht allzu auffällig, weil häufig die Tür zum Verbrennungsraum offen stand. Weder Hausmeister noch sonst jemand kam herunter. Oben hatte man nichts bemerkt. Ich bin mir ziemlich sicher, daß niemand von den Oberen je davon erfuhr. Vor allem nicht die Schwester Oberin.
- Schönes Wetter, nicht so kühl. Um 16 Uhr vertrübte sich der Himmel, der Wind frischte auf.
30.4.2002

29
Apr

29.4.2002

Drei Jahre zuvor hatte ich am Ende des Aprils drei Monate meines Zivildienstes hinter mir und drei noch abzuleisten. Am 31. Januar 1973 hatte ich diesen Dienst am Allgemeinwohl im Biberacher Kreiskrankenhaus angetreten. Die Stelle hatte ich mir während des Winters über den Jahreswechsel von `72 auf `73 besorgt, weil es angenehmer war, als „Heimschläfer“ die Nächte im vertrauten eigenen Bettchen als irgendwo in einer kümmerlichen Unterkunft, in irgendeiner fremden Stadt, zu verschlafen, außerdem hatte ich darauf zu achten, nicht etwa, weil die Partei mich dazu aufgefordert hätte, sondern aus eigenem Interesse, daß die linke Bewegung in Biberach keinen Schaden nahm. Und das Bundesverwaltungsamt, zuständig für die Organisation des Zivildienstes, hatte auch etwas davon: für sie wurde meine Dienstzeit billiger.
Die Tage begannen nach den Monaten der Zwischenzeit, in der ich mich, gemütlich im Biberacher Tageslauf wieder eingebettet, um die Belange der Gruppe gekümmert, gelesen, Rezensionen geschrieben, im „Strauß“ und im „Rebstock“ gesessen hatte, wieder früher. Um sieben Uhr dreißig oder erst um acht Uhr? Ich war als Hilfshausmeister dem Krankenhaushausmeister unterstellt, einem zu kurz geratenen älteren Schwaben mit, wenn ich nun nichts Falsches von mir gebe, einer Glatze und nicht gar so fein geschnittenen Zügen im Antlitz, der in seinem grauen Meistermantel, der mich sofort an das Auftreten meines Erzeugers in den Hallen und Gängen von „Kaltenbach & Voigt“ am Bismarckring erinnerte, durch die Krankenhausgänge und -räume wuselte und der, wenn ihm gerade keine andere Arbeit für die beiden Zivis, denn wir waren zu zweit dort, die langhaarigen, einfiel, die Worte: „Fäega! Fäega!“ ausstieß, die bedeuteten, daß wir die Besen ergreifen und den mit Platten bedeckten kleinen Vorplatz vor dem damals noch, als der Neubauteil des Krankenhauses noch nicht gebaut worden war, an der Riedlingerstraße gelegenen Haupteingang, zu dem von der Straße – einen nicht sehr hohen Hang hinauf – ein Weg führte, ebenfalls plattenbedeckt, der ebenfalls mit „Fäega! Fäega!“ gemeint war, fegen sollten. Wir taten dem guten Mann sogar den Gefallen; meistens. Dann schwangen wir die Besen gemütlich hin und her, eine Betätigung an der frischen Luft, im Gegensatz zu der, die an manchen anderen Orten, drinnen im lang gestreckten Gebäude, miefte, zu schweigen von der, die im Verbrennungsraum waberte. In diesem Kellerraum wurden keine Leichen verbrannt (die lagen friedlich, aller Sorgen ledig in einem Nebenbau), sondern die blauen und roten Plastiksäcke voller Müll, der in einem Krankenhaus täglich so an- und in diese Säcke hineinfällt – Wattebäusche, Binden, leere Medikamentenschachteln, Taschentücher, Verbandsmaterialien, Pflaster, Gummihandschuhe, Spritzen u.v.m.. Die Ausbeute jeden Vormittag war beträchtlich. „Ein Jahr später schob ich schon seit zwei Monaten Tag für Tag einen länglichen Karren mit tiefer Ladefläche – “; dieser am 11.4. abgebrochene Anfang einer neuen Notiz hat sich auf den Zivildienst bezogen, und weil dieser unabgeschlossene Satz vor einigen Tagen einen Anfang hätte einleiten sollen, der im Zeitsprung zu einem anderen Punkt in meiner Zeit geführt hätte, beende ich mit ihm die heutige Aufzeichnung, ohne ihn in der Modifikation „Ende April 1973 schob ich schon seit drei Monaten Tag für Tag einen länglichen Karren mit tiefer Ladefläche“ zu vervollständigen, obwohl dieser Satz nun erzählerisch sinnvoll angefügt werden könnte, denn ich lese jetzt lieber in Ronald Haymans Proust-Biografie von 1990 weiter, auf Seite 514.
(Ronald Hayman, Marcel Proust, Die Geschichte seines Lebens, Suhrkamp taschenbuch 3311, Erste Auflage 2002, Suhrkamp Taschenbuch Verlag)
- Aprilwetter. Das Licht fiel wie in Morsezeichen auf Berlin, an – aus, ananan – aus, kurz – lang, usw., die zerrissenen Wolken waren die Blenden. Sehr windig, kühl.
29.4.2002

28
Apr

28.4.2002

Im April 1976 wohnte ich schon seit ein paar Wochen in der Karpfengasse 24 und die Stuttgarter Episode verblaßte allmählich, ich dachte kaum noch an sie zurück, doch ein wenig beschäftigte mich die zarte Frage, die wie ein schwaches Frühjahrsblümchen in mir zaghaft aufgeblüht war, aber nur in fahlen Farben, denen anzusehen war, daß dieses Pflänzchen zu wenig Saft bekam, um sich entwickeln und überleben zu können, ob ich nicht doch wieder das Studium fortsetzen sollte; aber welches? Die trockene Politikwissenschaft würde es gewiß nicht sein, zumal ich nicht mehr die Welt, sondern mich verändern wollte, und ein Studium in Stuttgart, in dieser honoratiorenschwäbelnden Halbmetropole, durchziehen? Auf keinen Fall. Die Biberacher „Szene“, die noch näher zu betrachten sein wird, zu der diese Wohngemeinschaft als ein Nukleus gehörte, ein typisches Produkt der Siebziger, hatte mich aber wieder integriert; und ganz ihr entfernt war ich während der Monate, die ich offiziell als Studierender zugebracht hatte, nie gewesen, dazu war ich an zu vielen Wochenenden in die Kleinstadt gefahren.
Ich hatte mich, recht betrachtet, nie von ihr gelöst, die Jahre davor hatten schon zu viel Verbundenheit hervorgerufen. Ich hatte an Biberach gelitten, an meiner im Wortsinn unbefriedigenden erotischen Situation, am Kleinstadtgeist, der mich umwehte, obwohl ich mich natürlich bemühte, ihm den Zugang zu meiner Gedankenwelt zu verwehren; aber man muß atmen, den Mund öffnen, die Ohren ebenso, so fand er, hin und wieder, doch Stunden, in denen er etwas von seinem Hauch unterbringen konnte. Im Sommer 1975 hatte ich in der Lindelestraße einmal in einer Sendung, deren Zielgruppe Jugendliche gewesen waren – in der „Musicbox“, die ich damals noch immer gehört hatte, war es nicht gesprochen worden –, einen Typ sagen hören: „In der Kleinstadt gehst du vor die Hunde“; der Funkbeitrag hatte über die sich in jenen Jahren langsam aber sicher sichtbar machenden ersten politischen Schwulengruppen berichtet. Nun, hatte ich gedacht, ganz so schlimm ist es bisher nicht gekommen. Meine sexuelle Frustration hatte ich seit geraumer Zeit schon mit Alkohol kompensiert; aber Alkohol war für mich nie nur ein Frusttröster gewesen, sondern immer auch die Droge, die ich zum Antörnen brauchte; zu brauchen geglaubt hatte. 1971 hatte ich, das war nach der Schulzeit gewesen, einmal, als ich schreiben wollte, nur einen Satz getippt: „Ich bin nur in alkoholisiertem Zustand kommunikationsfähig.“ Ich war nämlich oft, was anderen vielleicht während der Gymnasiumszeit gar nicht so aufgefallen war, ich aber wohl wußte, zu oft für mein Dafürhalten, gehemmt und zu schüchtern, zu „still“, wie es auch, in den Sechzigern, von Bekannten meiner Mutter gelegentlich geäußert worden war; „aber stille Wasser sind tief.“ Na, ich wollte etwas lebendiger sein, hatte seit dem 20. Lebensjahr zu Bier, Wein und, noch nicht sehr ausgiebig, Schnaps gegriffen, und ich war, so präpariert, auch lebhafter aufgetreten; in jenem stets ein klein wenig über dem Boden der harten Welt schwebenden Verhalten, das zur Leichtigkeit des Seins beitrug. Das Lästige meiner eher schwerblütigen Natur mußte ich stets um ein bißchen verringern, um über die Runden zu kommen. Und der Alkkonsum hatte immer mit den Versuchen, etwas auf’s Paper zu bekommen, zu tun; mit etwas Törnung unter der Schädeldecke schrieb es sich schneller, leichter; viele Jahre setzte ich Bier, Wein und Whiky, Gin, Wodka, Klaren, Tequila etcetera zu diesem Zweck ein, aber wie sich herausstellte, taugte höchstens ein kleiner Teil von dem, was ich unter solchem Einfluß verfaßte, etwas. Vor allem: es wurde kaum einmal etwas fertig, ausgeschrieben. Das jedoch hatte auch seine Ursache im Vergeblichkeitsdenken, das ich trotz aufmunternden Einsatzes diverser äthylalkoholischer Molekülverbindungen nicht aus dem Kopf bekam. Es war ja auch ein Muster: „der Dichter und der Alkohol“, das es zu erfüllen galt, und weil ich ja klar genug war, um zu erkennen, daß ich mich nur in diesem Klischee bewegte, ich, der bemüht war, ein originales Leben zu haben, dachte ich zu meiner Beruhigung, ich könnte dieser vorgegebenen Rolle, dieser abgewirtschafteten „Genie und Droge“-Nummer meine Persönlichkeit, von der ich sehr überzeugt war, oktroyieren, aufdaß nicht die Rolle mich, sondern ich die Rolle so beherrschte, daß sie sich vom Klischee zum natürlichen Persönlichkeitsaspekt verändern würde. Ich brauchte einige Zeit, lange Zeit, um das zu korrigieren. Als dann die Dosen eine bedenkliche Höhe erreicht hatten, als auf dem Papier fast gar nichts mehr stand, als ich auf das Zeichen wartete, das ich mir selber zu geben hatte und das ich mir in den Körper gab – nicht Ich, sondern das Unbewußte – und in einer Nacht mein Magen mit einer akuten Schleimhautentzündung diese Aufgabe der Signalgebung übernahm – da war Schluß mit Akohol und Nikotin. Den Entzug machte ich selber, innerhalb einer Woche, ohne Arzt und Klinik. Die brauchte ich nicht. Ich habe nie wieder Alkohol und Zigaretten angerührt.
Im April 1976 beschlossen einige Leute aus der „Szene“, die eine heterosexuelle war, in der ich mich bewegte, wie jeder Schwule sich in einer zwei-geschlechtlich organisierten Gesellschaft aufhalten muß, ob’s ihm gefällt oder nicht, einen Jazzclub zu gründen. Ich schrieb einen Satzungsentwurf. Eines Sonntags kam der Initiatorenkreis, Rolf Z., Markus M., Stefan K., Frank S., und ?, in meinem Zimmer in der Karpfengasse zusammen, dazu Frau Kr., die nicht nur die Stadtbücherei managte, sondern auch Kulturamtsleiterin war. Wir einigten uns über die Satzung, über das Vorgehen in der nächsten Zeit, über die Zusammenarbeit mit Institutionen der Stadt Biberach, auf einen Termin für die Gründungsversammlung, die am 24. April im Nebenzimmer der „Pflug“-Gastwirtschaft, die ein Grieche gepachtet hatte, vonstatten ging; dort, wo fünf Jahr zuvor – ohne Grieche – während einer der Vollversammlungen des Republikanischen Clubs die Einrichtung der Arbeitskreise beschlossen worden war. Ein bildhübscher Sechzehnjähriger mit langen dunklen Haaren saß unter den künftigen Mitgliedern des Jazzclubs. Unsere Blicke fanden sich, sofern er nach meinem gesucht hatte, was ich bezweifle; ich war zu dumm, diese Stunde und andere zu nutzen, ihn kennen zu lernen. Jahre später sah ich ihn eines Abends im “Storchen“, ich war überrascht und nicht mehr so zurückhaltend, wir plauderten eine Weile miteinander, er sah noch immer sehr gut aus, es stellte sich heraus, daß er in Berlin, in Kreuzberg, Hörspiele schrieb; wir tauschten Adressen, er ging, ich kippte einen großen Schnaps, um den Ärger über mich hinunterzuspülen. Die Adresse ging unter, nach Berlin fuhr ich nicht, gesehen habe ich ihn nie wieder.
Dies war der Artikel, den ich über diese Gründungsversammlung schrieb und der am 28. April 1976 in der lokalen Zeitung veröffentlicht wurde.


„Jazzclub gegründet
Das Interesse am Jazz soll geweckt werden
Biberach. Das Interesse war schon lange vorhanden, der Wille, etwas dafür zu tun, auch, und nach einigen Vorbesprechungen mit den Verantwortlichen der Volkshochschule und des Kulturamts fand nun am vergangenen Samstag die Gründungsversammlung des „Jazz-Club Biberach e.V.“ statt.
Laut Satzung möchte der Club das Interesse am Jazz wecken und fördern. Dazu sollen Jazz-Konzerte ansässiger und auswärtiger Musiker, Seminare über Entwicklung und Stilrichtungen des Jazz, Schallplattenabende und weitere Veranstaltungen, die die Förderung des Jazz betreffen, stattfinden. Der Jazz-Club hat sich auch die Aufgabe gestellt, zur Belebung der kulturellen Szene in Biberach beizutragen, wobei er von der VHS und vom Kulturamt mit weitgehender Unterstützung rechnen kann. Was die Mitglieder des Clubs nicht wollen: als "Jazzkenner“ unter sich bleiben. Vielmehr möchten sie gerade den etwas „elitären Anspruch“, der der Jazz-Musik gerne angehängt wird, abbauen. In den nächsten Wochen sollen geeignete Räumlichkeiten ausgebaut werden, wobei der Biberacher Jugendverein freundlicherweise seine Bereitschaft zur Unterstützung und Mitarbeit zugesagt hat.
Bei der Gründungsversammlung wurde ein sechsköpfiger Vorstand gewählt. Vorsitzender ist Rolf Zaicescu. Der Jazz-Club wird sein Programm halbjährlich vorlegen, um so zu einer effektiven Zusammenarbeit mit der VHS zu gelangen. Das Programm für das laufende Sommersemester steht teilweise fest: Am 8. Mail soll die “Rainer-Oliva-Group“ – die allerdings noch nicht fest zugesagt hat – kommen; am 28. Mail spielt die „Familie Draht“. Am 5., 6., 7. Juni findet in Zusammenarbeit mit der VHS ein Gitarrenseminar statt (zu dem man sich noch anmelden kann), und am 26. Juni soll „Powerplay“ auftreten.
Die nächste Mitgliederversammlung findet am 13. Juni statt. Mitglied kann man ab 14 Jahren werden. kd“


- Stürmisch, regnerisch, kühl.
28.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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