KD

22
Mai

22.5.2002

War es noch Ende Dezember 1973 oder im Januar 1974, als ich an einem Samstag Abend, spät gegen dreiundzwanzig Uhr, von unerklärlicher, fast panischer Unruhe getrieben, mich, schon mit Alkohol im Blut, aber wann hatte ich keinen Alkohol im Blut, hastig bei Falk mit der Bemerkung, ich müsse schnell mal nachhause gehen, verabschiedete (der Club war zum Bersten voll) und durch die nächtliche Schneelandschaft des Gigelbergs eilte, zum Haus und zur Wohnung in der Lindelestraße? Ich wußte nicht warum, ich hatte keinen konkreten Grund, aber ich fürchtete, daß vielleicht etwas nicht in Ordnung sein könnte, mit meiner Mutter. Es gab keine aktuelle Ursache anzunehmen, daß womöglich etwas Schlimmes geschehen wäre, etwas, das ich seit Jahren schon insgeheim fürchtete, und das nur die unterschwelligen Gedanken, die oft gar keine voll ausgedachten Gedanken waren, sondern eben unterhalb der Schwelle des auf den Alltag sich eingestimmten und ihn bewältigenden Bewußtseins lagen, lauerten, vorhanden war. Es waren dies Gedanken, die als solche nur dann diese Benennung ihrer Erscheinungsform zu Recht trugen, wenn man den Ahnungen und Empfindungen, die eine halbschlafähnliche Existenz unter den kräftigen und sehr bewußt daher kommenden Vollgedanken leben, auch den Status von – Schwingungen vielleicht, die erst zu Gedanken sich bilden wollen, allmählich, zugestehen mag. Solche Halbgedanken, wie man sie auch charakterisieren könnte, beeinflussen unsere Handlungen, indem sie auf die schon geltenden Gedanken, die wir, in ihrem fast schon halbaxiomatischen Anspruch auf unser Denken, öfters haben, als uns wiederum bewußt wird, mehr, als wir annehmen möchten, vielleicht, weil sie den Gedanken, die sich gegenseitig so vertraut sind, daß sie mit einer gewissen Gleichgültigkeit und Ermüdung miteinander Umgang pflegen, etwas Neues, Frisches, und Gefährliches auch, zukommen lassen, wenn eine Berührung erst einmal erfolgt; aus der Überraschung heraus, die eine Gemeinschaft von einander bekannten Gedanken erfährt, wenn solch ein Halbwesen von Gedanke, die ein wenig amorphe und noch in ihrer Gestalt nicht völlig zu erkennende Zwittererscheinung sie tangiert und sie mit ihrer seltsamen Eingebung infiltriert, gehorchen sie dieser, und der Mensch handelt dann auf eine Weise, die ihm deutlich macht, denn er kann sie reflektieren, daß mehr in ihm schlummert, als er wahr haben möchte. – Nach zwanzig Minuten war ich wieder unten im Club. Zuhause war alles in Ordnung gewesen.
- Heißer Tag. Haufenwolken ruhten unter dem weißlich getönten Himmel über Berlin.
22.5.2002

21
Mai

21.5.2002

Arndt – schwarz wallendes Haupthaar, schwarzer Bart um das wölfische Grinsen – unterschrieb auf der Liste als erster. Arndt hatte als Fünfzehnjähriger, Mitte der sechziger Jahre, ein Motorrad gehabt und war damit durch eines der Fenster des Cafés „Lieb“, das bis zum Ende der Siebziger am Ostausgang des Marktplatzes von Biberach Kaffee und Kuchen servierte, unter dem Kirchturm von St. Martin, gesegelt. Ich lernte ihn 1972 im „Strauß“ kennen. Er kratzte seinen Lebensunterhalt als Flohmarkthändler zusammen und wohnte in der Mitte der siebziger Jahre in der Karpfengasse 24. Anfang der Achtziger betrieb er die Kneipe „Zum Schiff“ in einem südöstlichen Winkel der Innenstadt. Er malte, drehte schräge Super-8-Filme; einen, „Das Schwein“, sah ich mir 1982 im „Schiff“ an. Heiratete eine Lehrerin, die zwei Kinder bekam, sie kauften im Dorf Schemmerhofen nördlich der Stadt ein Haus. Er begann auszustellen. In der Mitte der neunziger Jahre fing er an, große Holzskulpturen zu sägen, zu schnitzen, zu bemalen, an die er Rudimente des bäuerlichen Lebens seiner Gegend hing. Im März 2000, als ich schon in Berlin lebte und meine Biberacher Zeit beendet war, stellte er eine Reihe seiner übermannshohen Skulpturen in den Hintergrund eines großen Raums, Schmidt zeigte, während ich Gedichte las, seine Dias von Biberach und Oberschwaben, ab und zu beleuchtete Arndt seine Holzdämonen mit zierlichen Scheinwerfern, vom Fußboden schräg nach oben. Ich nannte das „Rückbilder auf eine Provinz“. – Am zweiten oder dritten Abend trat Markus M. in unseren schummrig dunklen Club und vor die Theke, ein Typ von achtzehn, neunzehn Jahren, krause schwarze Locken, verhaltene Aggressivität im Gebaren, mit einem Stapel Jazz-LPs unter dem Arm, die er unbedingt sofort gespielt haben wollte. Er brannte darauf. Ich wechselte erste Worte mit ihm, ich erkannte einen wilden, noch wenig gebändigten Charakter, seine Unbedingtheit, die mühsam gezügelte Energie waren beeindruckend. Eindeutig hetero, ein Macho. Der Typ sprühte Energie. Wir unterhielten uns. Er wollte seine Platten auflegen. Ich ließ ihn hinter den Tresen, das mochte Falk nicht gerne sehen. Zwei Leute, die sich, wie sich herausstellte, nicht gut vertrugen. Überhaupt war ich der Moderierende, wenn zwei aneinander gerieten; nicht nur im Club. Unser neues Mitglied M. legte seine Platte auf, „Love for Sale“ erschallte machtvoll im Gewölbe, und mir gefiel’s. (1968 hatte ich zum ersten Mal die Jazzsendung des Österreichischen Rundfunks mit Gerhard Bronner am Mikrofon, am Dienstag Abend, gehört.) „Love for Sale“ und nichts anderes blieb mir als Erinnerungsmusik an den Club Impuls im Ohr. Markus M. kam oft, einmal erschien seine Mutter, eine Biberacher Verlegerin, deren Namen dem meinen ähnelt, herunter, suchte ihren Sohn, an diesem Abend hatte ich ihn nicht gesehen; oft kam er in Begleitung von Konrad H., einem Bayern, der sah nicht übel aus und war mir ziemlich sympathisch. Beide wohnten 1976, 1977, 1978 in der Karpfengasse 24. Längst hat Markus M. seine eigene Latin-Jazz-Gruppe, die seit Jahren „Gigs“, Auftritte, hat und auch CDs veröffentlicht: „Latin Love Affair“. – Leute, die viel später zu den ersten Grünen in Stadt und Kreis gehören sollten, kamen. – Bezeichnenderweise kamen meine Genossen nicht in den Club. – Wir verkauften Bier, Wein, Sauren Fritz, Klaren; Schmalzbrote, kalte Würstchen mit Brot und Senf, saure Gurken, Süßwaren in Riegelform. – Manchmal erlitt der Ölofen eine Verpuffung, das Gewölbe füllte sich dann mit unangenehmem Ölrauch, und es dauerte, bis der in die Wand eingebaute Lüftungsventilator ihn hinaus schaufelte, auch die Eingangstür stand dann sperrangelweit offen. Die Gäste nahmen solche Zwischenfälle ohne Murren hin. – Toiletten gab es nicht, wer pinkeln mußte, tat das oben in der Dunkelheit – die funzlige Lampe über der Eingangstür warf kein starkes Licht durch die Nächte –, fräste seine gelbe kleine Schlucht in den Schnee, von dem es in jenem Winter reichlich hatte. – Falk und ich wechselten einander an der Tür ab, wenn es galt, für den Film zwei DM Kostenbeitrag zu erheben. – Am späten Nachmittag des ersten Sonntags im Jahr 1974 ging ich in der einsetzenden Dämmerung von zuhause über den Gigelberg durch frisch gefallenen Schnee zum Club. Es war ein sehr ruhiger früher Abend auf diesem breiten Hügel mitten in der Stadt. Ich stapfte die schmale Stiegentreppe hinunter, die vom asphaltierten Hauptweg – der eine Zickzacklinie zum Talboden und zur Theaterstraße ausführte, links vorbei am damals noch bestehenden Stadtgarten, einer durch eine Mauer in sich geschlossenen floralen Anlage – abzweigt und hinab zu der Straße abfällt, deren Namen mir nun nicht einfällt, die rechts des Stadtgartens zur Theaterstraße verlief und noch verläuft, obwohl vom Stadtgarten seit Jahrzehnten nichts mehr übrig ist, und wandte mich dann auf halber Höhe dieser Treppe nach rechts und schritt aus dem Schnee in die schneefreie Zone unter der auskragenden Terrasse, die nur als Flachdach wahrgenommen wurde, schloß die schwere Tür zum Gewölbe auf, hörte, als ich eintrat, Musik von unten herauftönen, auch war das Treppenlicht eingeschaltet; was zum Teufel war da los? War Falk schon mit dem Aufräumen zugange? Das hielt ich, wie ich ihn kannte, für unwahrscheinlich. Ich wappnete mich innerlich, stieg in die nach Feuchtigkeit und kaltem Kneipenrauch riechende „Gruft“ hinunter, ging um die Ecke: alle Lichter brannten, Jazz spielte ohrenbetäubend, eine Figur mit langen gewellten Haaren drehte sich um, erkannte mich, ich erkannte ihn – Manfred K., der junge hübsche Friseur und Schlagzeuger, stand vor mir. Er ging zum Plattenspieler, stellte den Jazz ab. „Was machst du denn hier?“ Meine Frage kam ausnahmsweise aus echtem Erstaunen. Er grinste gleichmütig. „Ihr habt mich eingeschlossen. Ich bin da hinten auf der Matraze eingepennt. Niemand hat mich geweckt.“ „Kann doch nicht wahr sein! Und wenn ich jetzt nicht aufgetaucht wär?“ „Na ja, irgendwer wird schon kommen, hab ich mir gedacht. Hab mich in der Zwischenzeit nützlich gemacht.“ Am Sonntag war der Club nicht geöffnet. Bis zum SDAJ-Gruppenabend war es noch ein paar Tage hin. Hätte ich nicht den pflichtbewußten Drang verspürt, den Club ein bißchen aufzuräumen, er wäre Tage und Nächte in diesem Loch geblieben. Verhungert und verdurstet wäre er zwar nicht, aber unauffindbar gewesen. Vielleicht hätte ihn ein Spaziergänger schreien gehört, oben hinter der Tür. Ein Telefon gab es im Club Impuls nicht. Ich sah, daß er benutzte Gläser abgewaschen und geleerte Flaschen hinter der Theke zusammengestellt und die jeden Abend überbordenden Aschenbecher geleert hatte. Auch schienen die zwei Tischchen abgewischt worden zu sein. Ich gab ihm einen Drink aus, eine sinnlose Geste, weil er sich selbst bis zum Umfallen hätte bedienen können. Ich glaube, ich lud ihn sogar zum Essen in den „Strauß“ ein.
- Bis zum späten Nachmittag warm und sonnenhell, dann ein wenig Vertrübung, durch die immer wieder das Sonnenlicht fiel.
21.5.2002

20
Mai

20.5.2002

An einem verregneten Herbstabend des Jahres 1973 stieg ich, vom Gastraum des „Strauß“, durch den ich erst von vorn bis hinten gegangen war, um zu überprüfen, wer in ihm saß, wobei ich auch einen raschen Blick ins Nebenzimmer geworfen und auch dort keinen von meinen Freunden entdeckt hatte, kommend, den Regenschirm, aus dessen schwarzen Falten Wasser über die Metallspitze auf den Flurboden hinter der Tür, die den Gastwirtschaftsraum vom Toilettenbereich trennte, tropfte, in einer Hand haltend, die Stufen der Treppe, die zum ersten Stockwerk führte, hinauf, um Falk zu besuchen, den ich in seinem Zimmer vermuten durfte, da er nicht unten im „Strauß“ saß. Eine Holzwand war in den düsteren Flur eingebaut worden, wann auch immer, die mit der Hauswand rechts des Hinaufsteigenden ein nicht sehr breites Treppenhaus formte. Ich schritt ein paar Meter in den oberen Gang hinein und klopfte an der Tür zu Falks Zimmer, hinter der ein Laut bedeutete, eintreten zu können, öffnete die Tür und betrat das raucherfüllte Zimmer. Falk und die Gräfin hockten dort, auch Gerd K. mit seiner Freundin, vielleicht auch noch eine andere Person. „Holla, holla!“, machte Falk mit einer scherzhaft veränderten Stimme und wiegte bedeutungsvoll-schelmisch den blond behaarten Kopf, „eben haben wir von dir gesprochen.“ Ich schloß die Tür, aus der einiges vom Zigarettenqualm entwichen war, in dem wohl auch illegale Substanzen träge durch’s gelbe Licht einer Hängelampe streiften, stützte mich ein bißchen auf meinen Schirm und wartete. „Was hältst du davon, wenn wir aus eurem Keller einen Club machen?“ Falk grinste mir entgegen. „Aha. Was für’n Club?“ In den nächsten zwanzig Minuten diskutierten wir die Idee, den Club Impuls zum Leben zu erwecken. Ich war nicht abgeneigt, sie zu unterstützen, „muß darüber mit der Gruppe reden“, sagte ich. Das war klar. Falk erklärte sich bereit, in den Mietvertrag für den „Freizeitraum“ einzusteigen. „Ich sehe mal, was sich machen läßt“, war meine abschließende Bemerkung dazu. Das Vorhaben gefiel mir, ich wußte aber, daß die SDAJ-Gruppe Vorbehalte haben würde. So kam es. Auf der Sitzung ein paar Tage danach wurde die Sache besprochen. Es kostete mich Überzeugungskraft, Falks Vorschlag durchzusetzen. Hauptargument war, daß sich unser Gruppenanteil an der Miete für das Gewölbe halbieren würde. Die demokratische Abstimmung ergab eine Mehrheit für den neuen Kellerstatus. Wenn ich nicht irre, war Schmidt dagegen; trotz guter Nachbarschaft mit Falk auf dem ersten Stockwerk des „Strauß“. Er fürchtete eine schleichende Übernahme durch den Club. (Schmidt teilte sich auf dem ersten Stockwerk des „Strauß“ ein Doppelzimmer mit Marko J., einem Jugoslawen, der oft mit an den Tischen unten saß; die Fenstergaube wies zur Consulentengasse. 1974 würde er in eines der kleineren Zimmer auf der anderen Flurseite übersiedeln.) In der Karpfengasse 24 – die noch keine WG war, und ich ahnte nicht, welche Bedeutung dieses Haus später für mich haben würde – holten wir, Falk hatte diesen Tipp bekommen, einige ausrangierte Sessel und Sofas ab, zahlten S., dem Hauseigentümer, fünfzig Mark und transportierten alles ins Gewölbe unter der Gaststättenruine. Plötzlich wurde der Raum fast gemütlich, was auch den Genossen gefiel. Falk und ich machten uns ein paar Gedanken zur Präsentation dieser neuen Errungenschaft für die Biberacher Szene. Der Club mußte ein Mitgliederclub sein und durfte nicht als gastronomischer Betrieb existieren, um Steuern, Auflagen, Bestimmungen zu umgehen. Ausgeschenkt wurde nur an eingetragene Mitglieder. Falk kümmerte sich beim Hauchler-Studio GmbH et cetera, wo er noch bekannt war, um Clubausweise. Sie wurden uns für lau, würde man heute sagen, gedruckt und sahen dennoch schick aus. Wir stellten ein Programm zusammen. Am winterlichen Eröffnungsabend saß Falk oben hinter der Tür, hinter einem Tischchen, auf dem eine Liste lag, in der sich jeder, der Einlaß begehrte, einzutragen und 5 DM als Mitgliedsbeitrag herauszurücken hatte. Ich stand unten hinter dem Tresen und unterzog die nacheinander herein tretenden jungen Leute einem prüfenden Blick; der allerdings galt nur denen, die ich nicht kannte, und die waren nicht so viele.
- Milder Sonnentag. Keine atmosphärischen Störungen.
20.5.2002

19
Mai

19.5.2002

Schmidt war einen Tag vor dem Hl. Abend 1972 von einem Besuch in Kassel schon wieder nach Biberach zurückgekommen, Ostern 1973 noch einmal auf einen Kurzbesuch in seiner Heimatstadt gewesen. Dieses Zurückkommen in die ihm noch vor einem Dreivierteljahr unbekannte Stadt hatte, unabhängig von der Ausbildung, die er hier erfahren würde, durchaus die Bedeutung des Wiedereintreffens in einer vertrauten, heimatlichen Umgebung, denn rasch hatte er sich, nicht zuletzt durch die Sozialisation, die ihm der „Strauß“ angedeihen ließ, und durch die neuen Bekanntschaften, die sich der gleichen politischen Idee verpflichtet fühlten, in Biberach angenommen und aufgenommen gefühlt, und seine Kasseler Jugendzeit hatte er hinter sich gelassen und auf etwas anders und Neues vor sich eingelassen. Nach jener ersten Begegnung mit mir am Infostand im November `72 hatte er sich, meinem Hinweis, man würde immer im „Strauß“ sitzen, gleichsam nachgehend, schon am frühen Abend des ersten Tages, als er auf die Biberacher SDAJ-Gruppe gestoßen war, im “Strauß“ eingefunden, und in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten hatten er, Gerold A. und D. (beide ebenfalls Hauchler-Schüler) fast jeden Abend mit uns Biberachgebürtigen an den Kneipentischen gesessen; so hatten wir uns befreundet. Er war jemand, der sich ungern etwas sagen ließ, und ich schätzte das. Etwas bärbeißig manchmal, mit Sinn für Ironie. „Was ist denn das für einer, der muß es nötig haben“, hatte er gedacht, ein paar Abende nach der Bundestagswahl, in der Brandt glanzvoll im Amt bestätigt worden war, als ich, um zu beweisen, daß auch ich lange Haare getragen hatte, ein Foto herumreichte, auf dem meine Mähne, wichtiges Attribut meiner Selbstliebe, noch nicht von der kapitalistischen Unterdrückungsmaschinerie „Bundeswehr“ zerstört war. Dieses Fotozeigen war nichts anderes als der Versuch, meine beschädigte Identität aufzurichten, gewesen, ich hatte es also sehr wohl nötig gehabt. Daß er das gedacht hatte, sagte er mir irgendwann, vielleicht im Juni 1973, als er mich gut genug kannte und als das Repertoire und die Darbietungskunst der Songgruppe „Agitprop“, die er im Winter – er hatte seine Akustikgitarre aus Kassel mitgebracht – gemeinsam mit Gerold A., Bernie H., dessen Freundin B. und einer zweiten weiblichen Gesangshobbykünstlerin auf ihre zehn Beine gestellt hatte, so gut geworden waren, daß „Agitprop“ am Rockmusikfestival teilnehmen konnte, das das Kulturamt initiiert hatte und das an einem Junisamstag, vom Nachmittag bis in den Abend hinein, in der Gigelberghalle stattfand. Schmidt hatte in Kassel damit begonnen, zur Klampfe linke Lieder zu singen und hatte Ostern 1972 beim von SDAJ und „Pläne“-Verlag organisierten „Festival der Liedermacher“ in der Stuttgarter Liederhalle gesungen, wo auch Degenhard, Dieter Süverkrüp, Dietrich Kittner und andere gespielt hatten. „Sympathy for the Devil“, der Song der Stones, hatte ihm für Brechts „Ballade von der Billigung der Welt“ den Rhythmus- und Melodierahmen geliehen. „Degenhard kam auf mich zu und fragte, ob ich ihn vor mir auftreten lassen könnte, denn er mußte sein Flugzeug erreichen“, erzählte Schmidt mir Jahre danach, „und ich sagte ihm, wenn ich nach Degenhard auftrete, kann ich mir meinen Auftritt sparen. Der Abend war dann ja gelaufen. Natürlich ließ ich ihn vor.“ Franz Josef Degenhard – der gute F.J., der böse war CSU-Strauß – war in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren der berühmteste der linken deutschen Sänger, die aus der „Liebermacherbewegung“ von Burg Waldeck hervorgegangen waren; ein Mann, dessen LPs auf linken Parties rotierten, wenn man mal etwas zur kämpferischen Erbauung und Bestätigung brauchte, zwischen Santana, Jimi Hendrix, Deep Purple, The Mothers of Invention, Cream, The Doors ... Selige Rockpopzeiten! „Lerynn“, by the way, ein bekannter linker Barde aus Frankfurt, ist als Dr. D. Dehm nun stellvertretender Parteivorsitzender der PDS, „Schlauch“, im Ländle um Stuttgart herum auch eine Auftrittsnummer gewesen, (noch) als Fraktionsvorsitzender der Grünen/Bündnis 90 im Bundestag. Beziehen sie Tantiemen für ihre kommunistisch inspirierten Kampflieder? Vermutlich vergammeln ihre Platten in den Abstellkammern von Oberstudienräten und Abteilungsleitern. „Agitprop“ schmetterte also auch, ich fotografierte unsere Leute auf der Bühne, Lieder des Ostberliner „Oktoberclubs“ („Sag mir wo du stehst“) und der „Drei Conrads“ aus Düsseldorf („Wem soll getraut werden beim Kampf gegen den Imperialismus?“ Antwort: „Traut euch selbst!“) und stellte mit diesen Songs – Manfred trug seinen roten Pullover – die Gedankenverbindung zu den im (west)deutschen Land blühenden sozialistischen Ideen, Initiativen und guten Absichten her und bekam vom Publikum auch schönen Applaus, was einige Befürchtungen von Kulturoffiziellen zerstreute; der Rockmusik haftete ja noch immer das in den Sechzigern kultivierte Image von Rebellion an, wenigstens hielten ein paar ihrer Akteure es, trotz gnadenloser Kommerzialisierung, die es ramponiert hatte, aufrecht, so rettete fast der Auftritt von „Agitprop“ diesen etwas verblichenen Anspruch der Rockmusik an sich selber, an diesem Junisamstag in Biberach; allerdings war das nicht das Anliegen der SDAJ-Gruppe, die sich auf diese Weise bei den jungen Leuten bekannt machen wollte, gewesen. Auch wir hörten Rock und Pop, was denn sonst, ihre angeblich subversiven Töne hatten wir aber nie für politisch relevant gehalten. Vielleicht aber hatte dieser Sound, der von 1965 bis 1975 aus Radios und „Stereoanlagen“ hämmerte, dröhnte, jaulte, fiepte, flötete, sang, sprang, schwebte, harmonisch und disharmonisch, mit und ohne Notenkenntnissen auf Stratocaster-E-Gitarren, E-Pianos, Fenderbässen, Marshall-Schlagzeugen, Sitarsaiten, Querflöten, Trompeten, Tambourines – „Hey, Mister Tambourine Man, sing a song for me ..“ – und anderen Verdienstobjekten für Musikalienhändler gespielt, die Welt, die meine Generation sich anzueignen anschickte, mehr verändert als alle sozialistischen Theorien und Gruppen; ob diese auf scheinwerferbestrahlten Bühnen standen oder in feuchten Kellern diskutierten und Bier tranken. Das Zeitungsblatt am Ort titelte als Resumée des ersten großen Auftritts von lokalen jungen Musikern der Rockszene: „Traut euch selbst.“
- Der feingraue Regentag radierte da und dort die Kirchturmspitzen weg.
19.5.2002

18
Mai

18.5.2002

Wie erfuhren wir SDAJ-Aktivisten vom Kellergewölbe im Südhang des Gigelbergs? Irgendwann im Sommer `73 mieteten wir es als „Freizeitraum“, Manfred Schmidt pinselte „Gruft“ an die Kellerwand, unter der die lange steile Treppe hinabführte. Unten gab es eine Ausbuchtung der Wand nach links, nur zwei Meter tief, nach rechts hin betrat man den Gewölberaum, vor dessen rechter Seite eine einfache Holztheke mit Abstellflächen auf der Ausschankseite und links, wenn man hinter der Theke stand. Im hinteren Bereich des Gewölbes trennte eine Holzwand, an der die Theke an dieser Seite auch endete, den vorderen größeren Teil vom kleineren hinteren nur andeutungsweise ab, sodaß der hintere von ihr zur Hälfte seiner Fläche zu einer Art Nische gemacht wurde. Dieser Teil des Raumes hatte auch eine Holzplattform von geringer Höhe. Wie die Theke war auch sie von der längst nicht mehr existierenden „Jugendinitiative“ idee 68 in das Gewölbe, das in früheren Zeiten als Bierkeller oder zu anderen Lagerungszwecken genutzt worden sein mochte, eingebaut worden. Sogar zwei Barhocker fanden wir noch vor. Wir stellten einen alten Tisch und ein paar Stühle hinein, das war unser „politischer Keller“.
Am 7. September 1973, meinem 22. Geburtstag, fuhren Ronald v. R. und ich nach Stuttgart, um die Dokumentation zum Radikalenerlaß, zu den Berufsverboten für linke Lehrer und Lehramtsanwärter herstellen zu lassen. Am nächsten Tag war Aktionstag mit einem Infostand auf dem Marktplatz und einer Abendveranstaltung (und was hatte sich noch ereignet?) (War diese Abendveranstaltung überhaupt noch zustande gekommen?) Ronald und ich – leicht bekleidet, es war ein sehr heißer Tag – hockten im Zugabteil und tranken Bier und ich hatte schon zwei Flaschen intus, als wir in Stuttgart einfuhren. Die Dokumentationsunterlagen, die zu vervielfältigenden, hatten wir in einer Tasche dabei, doch plötzlich hieß es im Büro des Landesvorstands der SDAJ, unsere Publikation könne, es war ein Freitag, nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Natürlich hatten wir uns ein paar Tage zuvor damit angemeldet. Schlamperei! Ohne diese Publikation, schon in der lokalen Presse als zentrales Ereignis des Aktionstages angekündigt, durften wir die ganze Sache vergessen. Nach einigem Hin und Her, nach etlichen Telefonaten, sprachen wir im Landesbüro der Judos, der Jungen Demokraten, der Jugendorganisation der FDP, vor; die waren damals ziemlich links-liberal, wobei die erste Silbe zu betonen war, und jemand von uns hatte jemand von ihnen via Telefon gefragt, ob ...; sie hatten zugesichert, daß diese Dokumentation über die nichtliberale Politik der sozialliberalen Koalition in ihrem Büro hergestellt werden konnte. Es geschah so. Ronald überwachte das Ansteigen unseres kleinen Papierberges, denn diese Publikation umfaßte, wie ich doch richtig zu erwähnen hoffe, fast fünfzig Seiten, vielleicht sogar mehr – wäre es möglich, daß in meinem Kellerverschlag in den unausgepackten Kisten ...? – und wurde in einer Auflage von etwa fünfzig Exemplaren, die wir zu verkaufen gedachten, produziert, im Judo-Büro, in dem ein Endzwanziger im Sakko saß und gemütlich rauchte, „jaja, gebt her, das machen wir mal“, während ich versuchte, U.W. im spätsommerlich aufgeheizten Stuttgarter Kessel zu finden, was nach ein paar zusätzlichen Telefonaten in diversen Telefonzellen auch gelang. Zwischendurch rief ich im Jungliberalenbüro an, um von Ronald zu erfahren, wie weit die Dinge dort gediehen seien und bis wann alles gemacht sei; damit ich U.W. sagen konnte, wann wir uns auf die Rückreise nach Biberach begeben würden; er mußte, eine andere bezahlbare und zeitlich praktikable Möglichkeit bestand nicht, Ronald, die Papierstapel und mich nach Oberschwaben transportieren. Er war nicht begeistert, als ich endlich in seiner Wohnung stand und auch sofort mit ihm zu einem Genossen fuhr, den er unbedingt noch aufsuchen mußte, und seine Freundin noch weniger, aber er sah ein, daß die revolutionäre Arbeit auch Unvorhergesehenes parat hielt. Ich rief wieder Ronald an, der Judotyp nahm ab, dann hatte ich R. dran, der sagte, vorhin hätte die Druckerei einen Zeitverlust erlitten, als eine dafür benötigte Apparatur ausgefallen sei, nun jedoch liefe alles weiter, man müsse eine Stunde länger warten. Ich sagte das U.W., seine Laune wurde dadurch nicht besser. Es war klar: er hatte Schöneres vorgehabt, als am Freitag Abend ins halbvergessene Biberach zu gondeln. Dann hatten wir alles eingepackt, wir bedankten uns beim Judo-Mann, der grinste gemütlich, es sei okay, stiegen in den VW, ich hockte hinten neben dem Papier, es ging nachhause, zum Keller, in dem die Genossen – Genossinnen hatten wir zu dieser Zeit wohl keine – inzwischen darauf warteten, diese Papierstapel zu einer umfangreichen Berufsverbotsdokumentationspublikation zusammenlegen zu können. Nach 21 Uhr fuhren wir dort unter der breiten Terrasse des damals als Ruine stehenden „Pflugkellers“, die über eine sandige Fläche, eine kleine Abstufung des Südhangs des Gigelbergs, ragt, vor, und trugen all das bedruckte Papier hinunter. „Ich glaube“, schmunzelte Ronald, „der Typ von den Judos hat nicht so richtig gewußt, wer wir sind.“ Er lachte. Bald danach, Uli Weitz war zu seinem Elternhaus auf dem Mittelberg gefahren, gingen wir alle eine Stunde oder länger um den Tisch herum und legten die einzelnen Blätter zu langsam höher werdenden Papierstößen zusammen, aus denen fünfzig Publikationen wurden, sangen linksrevolutionäre Lieder, von den Moorsoldaten, von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, denen wir’s geschworen hätten, vom roten Wedding und von der „So-li-da-ri-tät!“. Ich trank unablässig Bier und war mit meinem 22. Geburtstag rundum zufrieden.
- Sommerwärme und Sommersonne über Berlin. Dämmerungsbläue ohne viele Zirrhuswolken.
18.5.2002

16
Mai

16.5.2002

In der Realschulzeit holte ich meine Schreib- und Zeichenwerkzeuge, Stifte, Tinte für den Kolbenfüller, Tuschefedern, Hefte, was man als Schüler in seinem „Federmäppchen“ und Ranzen eben haben mußte, im Schreibwarengeschäft „Fuchs“ in der Radgasse, durch die damals der übliche Straßenverkehr schlich. Alle sagten nur „Füchsle“ zu diesem Laden, „gibt’s beim Füchsle“, „hol’s beim Füchsle“. Der Laden war nicht sehr geräumig und niedrig, man stieg zwei oder drei Stufen hinab und mußte sich als Fünfzehnjähriger schon bücken, wollte man sich nicht den Kopf anschlagen. Ein kleiner Mann, vom Alter nicht mehr weit entfernt, kramte und kruschtelte, von einem grauen Mantel umschlabbert, das Gewünschte herbei und plazierte es auf dem kleinen Tresen, auf dem links und rechts, wie das in solchen Läden immer war, kleine Ständer mit kleinen Fächern Platz beanspruchten, in denen Sifte, Radiergummis, Spitzer, all die Hilfsinstrumente für die manuelle Tätigkeit des Schreibens und Malens eben sortiert und griffbereit standen und alles noch enger machten. Rollen bunten Papiers in der einen Ecke, Schulranzen in einer anderen, die Regale, auf denen Hefte in ihren verschiedenen Ausführungen, liniert, unliniert, kariert, mit Notenlinien versehene lagen, große Zeichenblöcke und Din-A-0-Blöcke (von denen sehr viele) lehnten an einer Seite des Raums, und was des Papiers in seinen Variationsmöglichkeiten mehr war. Spitze Bleistifte warteten nicht eben begierig darauf, von adoleszent-feuchten Fingern, „Wichsgriffeln“, wie sie in der Erfahrungswelt pubertierender Knaben hießen, umklammert zu werden; weiche und harte, Buntstifte diverser Marken, „Geha“- und „Pelikan“-Füller. Bunte Zeichenfederhalter, noch ohne unten applizierte Metallfedern daneben, buntes Verschnürmaterial in den Tiefen des Raums, Wasserfarbenkästen, Pinsel, runde, flache, dicke, dünne; pp..Zum „Füchsle“ war ich auch schon in den Grundschuljahren gegangen, der Laden war das nächstliegende Schreibwarengeschäft, und als ich in der Realschule aus- und einging nur ein paar Meter vom Schulhof entfernt. In ihm rauchten wir 1967, nicht jeden Vormittag, während der großen Pausen auch mal eine Zigarette, mit der mehr oder weniger offen hantiert wurde. Dort, wo Herr Fuchs seinen Laden betrieb, den Schülern ein bekannter Mann, serviert 2002 eine Pizzeria ihre flachen belegten Teigwaren. Nebenan befindet sich, vom Schuhhaus Wieland getrennt, das es gab, seit ich durch die Radgasse ging und fuhr, das es noch immer erstaunlicherweise gibt, die Geschäftstelle der Biberacher Ausgabe des „Wochenblatts“, eines Organs der Südwestpresse in Ulm; zu jener Zeit, in der ich im „Füchsle“ die erwähnten Dinge für das Schülerleben erwarb, verkaufte der „Nordsee“-Laden dort frischen Fisch. Manchmal betrat ich, auf einer meiner Besorgungstouren zu Fuß oder mit dem Fahrrad, auf die meine Mutter mich mit einem Einkaufszettel schickte, diesen fischig riechenden Laden und beobachtete, bis ich an der Reihe war, bedient zu werden, die grauschwarzen dickleibigen Karpfen, die durch den trüben algenverzierten Inhalt des hohen und breiten Aquariums, das dieser Behälter ja doch wohl war, ihre kurzen Bahnen zogen und dabei immer wieder das lippige Maul öffneten, mit dem sie den stummen Schrei ins Wasser zeichneten, den sie laut von sich gegeben hätten, wenn die Natur, die viel bemühte, ihnen die Lautbildung zugestanden hätte: O O, O O; jede Karpfengeneration, die dort hin- und herschwamm, ahnte ganz offen-sichtlich, was ihr bevorstand, nicht nur an Sylvester.
- Warmer, sonniger Tag.
16.5.2002

15
Mai

15.5.2002

Während der Zivildienstzeit hatte ich wenig Neigung gehabt, mir die Frage definitiv zu beantworten, wie es danach in meinem Leben weitergehen sollte. Ich wollte Politikwissenschaften studieren, kümmerte mich aber nun im Frühjahr 1973 nicht um einen Studienplatz. Dann war die Bewerbungsfrist abgelaufen, ohne daß mir das größeren Kummer gemacht hätte. Ich fühlte mich in Biberach insgeheim gar nicht unwohl, obwohl ich schon damit begonnen hatte, über das Städtchen zu lästern. Ich wollte mir noch etwas Zeit schenken, bevor ich wieder eine Schulbank drücken würde, und eigentlich behagte mir diese Vorstellung überhaupt nicht. Ich hatte vor, ein freies Leben zu führen, in dem mir möglichst niemand etwas zu sagen haben würde. Und noch das freieste Studium wies – weist, denn heute ist es noch verschulter – hierarchische Strukturen auf. Sowieso hatte ich für eine Zeit, die es nach dem Studium geben sollte, wie man hörte, in der das unangenehme Wort „Beruf“ herrschen könnte, gar keine Projektionen entwickelt, sie sollte nur auf irgendeine Weise auch mit schreiben ausgefüllt sein; nur mit Schreiben, wenn ich ehrlich zu mir war, denn die Idee, ein Schriftsteller sein zu können, hatte sich hartnäckig gehalten, auch wenn ich sie mir nicht so oft ausdrücklich aufrief. Das war eher eine selbstverständliche Grundtendenz geworden. Vor allem dachte ich nicht ans Geldverdienen. Geld zu verdienen, Geld zu haben, war ja eh unmoralisch. Wer Geld hatte, war ein Ausbeuter, zumindest einer von denen, die an der Ausbeutung auf eine Wiese mitmachten, für die sie mehr Geld bekamen, von Oberausbeutern, als ein Leben der unübertriebenen Maßstäbe benötigte. So ähnlich. Da wir, meine Mutter und ich, immer nur wenig Geld hatten, im Vergleich zu dem, was bei anderen üblich (geworden) war, trieb diese zwangsläufige Bescheidenheit mich auch gar nicht zu der Absicht hin, eines Tages, als Kompensation für entbehrte Verwirklichungen von Wünschen oder Freuden, deren Erfüllung mit mehr Geld möglich gewesen wäre, viel Geld zu verdienen. Bei anderen war das ja oftmals so; oder sie werden, weil die alleinerziehende Mutter ihr Geld auf mehrere Kinder verteilen muß, aus Trotz über die „kleinen Verhältnisse“ SPD-Bundeskanzler. Solche Ambitionen hatte ich nicht. Ich trachtete nie danach, irdische Güter anzuhäufen. Selbst wenn ich Geld gehabt hätte, Geld, das der Aussage „Geld zu haben“ jenen mitklingenden Ton verleiht, der andeutet, man habe Geld in einem gewissen gut situierten Umfang, hätte ich mich nie zugunsten neuer Möbel z.B. von meinen alten, alt vertrauten, getrennt (und eine Trennung im wirklich emotionalen Sinn wäre das gewesen, bei all den Geschichten, die mir diese Möbel sofort zu erzählen beginnen, wenn ich einen Blick auf sie werfe), nur um irgendeinem „modernen Schöner Wohnen“ zu Gefallen zu sein, oder von Besuchern, die bei mir immer weniger geworden sind, je älter ich bis jetzt geworden bin, für einen Mann auf der Dreiviertelhöhe des sogenannten Lifestyles gehalten zu werden. Ich trachtete höchstens danach, Ruhm aufzuhäufen, na ja, aber hatten wir das nicht schon? Auch das war, wie sich herausstellte, ein „klassischer Fall von Denkste“, wie es in den „Fix und Foxi“-Comics (aus dem Verlag Rolf Kauka) meiner Kinderjahre den Figuren in die Sprechblasen gelegt wurde; und in die der Micky Maus-Hefte auch, oder nicht? Wo bin ich stehen geblieben? Für’s Studieren hatte ich also im Jahr 1973 kein Interesse. Es gab in Biberach auch etwas zu tun. Über den Sommer bereitete die SDAJ- und die mittlerweile auf vier Genossen angewachsene DKP-Gruppe in „Aktionseinheit“ mit den Jusos und einer katholischen Jugendgruppe einen Aktionstag im September zur Anprangerung des Brandtschen Radikalenerlasses vor. Eine umfangreiche Dokumentationspublikation sollte erscheinen und mußte zusammengestellt und auch mit eigenen Texten versehen werden. Zweimal hockte ich zu diesem Zweck auch bei C.H., der Juso-Vorsitzenden ihrer Biberacher Gruppe, im Haus ihres Vaters, der einen Handwerkerverband repräsentierte, um mit dieser Arbeit voranzukommen. Sie war sehr selbst bewußt und ein bißchen schräg-modisch, aber auf eine altmodisch anmutende Art (seltsames Erscheinungsbild) gekleidet und reichlich intelligent. (Heute ist sie, wie ich vor einigen Jahren durch eine Notiz im Biberacher Lokalteil der „Schwäbischen Zeitung“, die auf ihren Lyrikband hinwies, erfuhr, Kulturdezernentin einer Stadt am Niederrhein, nach ihrem Studium der Politikwissenschaft etc.). – Über den Sommer las ich die beiden Bände des Romans von Heinrich Mann, in dem der Lebensweg König Heinrich des Vierten von Frankreich, dem aus Navarra, erzählt wird; und andere Romane, Erzählungen, Gedichte, Texte, Literaturzeitschriften, Feuilletons usw.; hielt mich im „Strauß“ auf, abends, nach dem Dienst und abends dann nach den Dienstmonaten.
- Vormittags sonnig, nachmittags wechselten sich helle mit düsteren Phasen ab. Gegen Abend hin trüber und kühler, durch die sehr lange Dämmerung schwebten hellgraue Wolkenschichten.
15.5.2002

14
Mai

14.5.2002

Um 8.45 Uhr bin ich aufgestanden, sinnierte zuvor eine ganze Weile, wieder, zum wievielten Mal?, warum ich in meinem Leben so wenig Sex hatte, daß ich sagen kann, ich hatte ja gar keinen Sex. Wieder ist mir das eigenartig vorgekommen. Ich fand keine Partner, weil ich eigentlich keine suchte? Ganz so war es nicht, nicht alles an diesem Verhalten kann mit Narzißmus erklärt werden. Ich schrieb schon: ich war selbstbewußt nach außen und doch zu distanziert. Ich hörte in den frühen Siebzigern, ca. 1974, das war eher in der Mitte der Siebziger, gelegentlich Äußerungen in meiner Umgebung, ich sei sehr „sophisticated“, ich hätte etwas von einem Snob. Nein, ich war stolz und gehemmt. Jedenfalls was die sexuellen Angelegenheiten betraf. Ich war auch ängstlich, wollte mir keinen Korb einhandeln, also eben zu stolz. Dann war ich zu ängstlich, Typen, die mir, wenige waren es in all den Jahren, gefielen, einfach anzusprechen. Die Ursache daran lag auch nicht allein in der äußeren einschränkenden und unterdrückenden Kleinstadtmentalität. Ich hatte auch den Gedanken im Kopf, das könne ich doch diesem Typen gar nicht zumuten. Ich war besorgt um sein Seelenheil und hätte mehr auf meines achten sollen. Ich war frustriert vom Beginn der siebziger Jahre bis zu ihrem Ende, und danach wurde ich auch nicht zufriedener. Kann man so leben, ohne auszurasten? „Ich sublimiere eben“, hallte das Echo durch die Jahrzehnte. Ich will ja nicht herumanalysieren, bin aber überzeugt davon, daß dieser immerwährende Gefühlsstau, oder, wenn man es weniger romantisch haben will, dieser Triebstau eine der Ursachen der Krankheit, wegen der ich nun am Abend des 14. Mai 2002 im vierten Stock dieses großen langen Gebäudes im alten Klinikgelände der Charité in einem Vier-Bett-Zimmer, zur Zeit allein, sitze, ist. Dieses Thema geht mir im Kopf herum. Mein Verhalten war ganz und gar nicht natürlich, schon gar nicht für eine Zeit, die Siebziger und die Jahre danach, in der kaum etwas anderes so präsent war wie die Propaganda der „freien Liebe“, der „befreiten Sexualität“ und aller davon abgeleiteten Schlagwörter. Und das bezog sich zunehmend auch auf die als „unnatürlich“ geltenden Arten und Praktiken der Liebe; was selbst in Biberach, wenn auch nicht in allen Kreisen, eine gewisse halböffentliche Akzeptanz fand, nachdem man sie ja auch schon immer getrieben hatte. Was auch beim Überdenken dieses Themas herauskommt: ich hatte mich, ich weiß es seit vielen Jahren, einfach formuliert einfach zu dämlich angestellt. Die Dämlichkeit war ein Erziehungs- und Moralprodukt. Ich bedauere wirklich, nicht mehr rumgevögelt zu haben. Ich hätte das Edelmenschenbild, das ich in mir von mir herumtrug, zerstören sollen; wäre dann bestimmt ein anderer Charakter geworden. Und welcher? Ich hatte ja stets nur wenig bewußten Umgang mit dem Körperlichen, siehe auch meine Unlust am Sport; dabei war mir klar, daß mein Körper okay war, dieser Schatz, der mir zugefallen war, war aber selbstverständlich und der Beachtung nicht weiter wert. Oder doch? Schließlich war ich in den Siebzigern hypochondrisch um ihn besorgt. Diese neurotische Ängstlichkeit korrespondierte – und ich erkannte das auch – mit der schon erwähnten. (Nun fährt hinter der Lücke, die die beiden Häuserwände auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Gelände der Charité bilden, in der eine schmale Pappel oder ein einer Pappel ähnlicher Baum vom Wind bewegt wird, ein ICE vom Ostbahnhof hinüber zum Bahnhof Zoologischer Garten.) Wahrscheinlich zählte ich zu jener Sorte Intellektueller, die selbst in einer sexualisierten Zeit über ihre Schwierigkeiten mit dem Sexus nicht hinwegsteigen können. Aber, freilich, auch in anderen Provinzen hatten junge Schwule damals Ärger mit ihrem nichtgelebten Sex; haben es heute noch, denn die Großstadtszenen und die literarischen Ergüsse, und dieses Wort ist hier an der richtigen Stelle, die sie hervor quellen lassen, und ich meine damit nicht nur die schwulen, sprechen eben nicht von dem, und wenn, dann ungern und verächtlich, was sich in Regionen abseits der kümmerlichen deutschen Metropolen tut oder nicht tut; was da getan und wie dort gelebt wird, manchmal gelebt werden muß. Ich war in Biberach ab den siebziger Jahren nur selten glücklich (das Wort nehme ich jetzt einmal ganz naiv) und wüßte gern, ob mir’s in einer anderen Stadt auch so ergangen wäre.
- Vormittags Sonnenschein. Über Mittag bis etwa 15 Uhr trüb, und Regen fiel, bis wieder heiß die Sonne brannte. Wieder Eintrübung gegen 18 Uhr, vor der Dämmerung brach im Westen gleißend weiß das Licht durch.
14.5.2002

13
Mai

13.5.2002

Morgen gehe ich für drei Tage in die Charité, um eine Biopsie an den wieder vergrößerten Lymphknoten, paraaortal, vornehmen zu lassen, die nicht ohne Risiko ist. Sticht der Radiologe, der diesen computertomographisch unterstützten Eingriff vornimmt, meine Hauptschlagader am Mittwoch nach acht Uhr an, dann sind das hier die letzten Zeilen, die ich geschrieben habe, und dann nicht einmal zur Biberacher Zeit. Auch würde die Biberacher Zeit, die ja doch nur eine von mir konstruierte ist, oder, um ihre eher ätherische Konsistenz richtiger zu würdigen (es gibt das Richtigere, so wie es das Gleichere im Sinn von „alle sind gleich, nur manche sind gleicher“, was man immer aufs neue eine konkrete Erfahrung nennen kann, gibt), eine von mir nur und sehr wahrscheinlich nur von mir erahnte, verschwunden sein, wenn ich, das, was man „Ich“ oder seinen „Geist“ heißt, verschwunden wäre. Dann reihte ich mich womöglich in den Sphärentanz jener nebulöser Wesen ein, die in ihm nicht nur meine Erinnerungen, sondern auch die anderer noch Lebender begaukeln? Man gebraucht ja, dann, wenn Erinnerungen – aber nicht nur sie, sondern ganz reale vor- und herankommende Personen sind auch damit gemeint – sich aus Gründen, die ebenso lästig sind wie die Erinnerungen, die sie aus den verschlossenen Sektionen des Lebensbaus plötzlich entweichen lassen, unwillkommen aufdrängen, die Redensart von den Gespenstern der Vergangenheit, und zu solch einem unschönen Gespenst würde ich anderen eben nicht werden wollen; und die Zeitgenossen, die mir in der Biberacher Zeit unangenehm begegneten, und die ich würde erschrecken wollen, waren gar nicht sehr viele, wofür ich in erster Linie mir selber dankbar bin. Ich glaube, auch dieses Eigenlob bedarf keiner ausführlichen Erläuterung, denn „wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, und mit diesem Satz 7 – der Ziffer meines Geburtstages – in „loony Ludwigs“ Tractatus, wobei ich in ihm, dem Satz, bei dieser Gelegenheit das Wort „kann“ durch das Wort „soll“ ersetze, verabschiede ich mich – für heute; vielleicht notiere ich mir morgen in der Klinik noch etwas in ein kleineres, handlicheres Notizheft.
- Etwas bedeckt mit Wolken der Tag vormittags, danach wurde er sehr warm, weil die Sonne kräftig schien.
13.5.2002

12
Mai

12.5.2002

Im Frühjahr 1962 kam ich zu den Schützentrommlern. Schützentrommler und -pfeifer stellen seit unvordenklichen Zeiten, die ins vorletzte Jahrhundert zurückreichen, die erste Musikantengruppe und überhaupt die erste Gruppe der sehr langen Schützenfestumzüge, die sich an vier Tagen des Biberacher Schützenfestes durch die Gassen und Straßen und über den Marktplatz der Oberschwabenstadt winden. Das Schützenfest, das in der Regel am letzten Wochenende des Juni beginnt und am ersten Wochenende des Juli endet, aber auch schon etliche Male seit den siebziger Jahren auch erst am ersten Wochenende des Juli begann, ist der Höhepunkt des Jahres in Biberach, des Biberacher Jahrs, und weil gerade im Zusammemhang mit dem Schützenfest, dem Kinder- und Heimatfest, wie es die Überlieferung gern sieht, wobei es seit den Siebzigern doch, zumal unter der Jugend des Städtchens und des Umlands, in seiner Funktion als Sauf- und Fickfest seine eigentliche Bedeutung gefunden hat, der Terminus „Biberacher Jahr“ oft gebraucht wird – das Biberacher Jahr werde durch das Schützenfest oder Schütza, wie es im Dialekt heißt, in „vor de Schütza ond noch de Schütza“ geteilt –, deutet der Ausdruck „Biberacher Jahr“ unter Umständen an, daß die Biberacher Zeit von der anderer Städte womöglich doch etwas unterschieden ist. Was insofern zusätzliche Argumentationsunterstützung erhält, als diese neun Tage zu Beginn eines jeden Juli in der Mitte des Jahrs für jeden echten „Biber“ eine Ausnahmezeit sind, in der bestimmte Regeln des individuellen Verhaltens, die sonst recht genau beachtet werden, sofern heutzutage, und dieses „heutzutage“ dauert ja seit Jahrzehnten an, und eigentlich seit jeher, überhaupt nicht alles, auch die Einhaltung von Regeln, laxer geworden ist, zur Seite gerückt werden und der Mensch sich oft als Mensch zeigt; zu oft, wie man sich denken kann. Ich will nicht übertreiben, nicht überziehen, will festgestellt haben, daß Allzumenschliches überall geschieht, wo gefeiert und gefestet wird, und außerdem das Krasse und Mutwillige, in dem in aller Regel stets etwas Mutloses sich Luft verschafft, von einer den Juvenilitäten noch nicht entwachsenen Minderheitsfraktion der Biber-Population betrieben wird; wer allerdings einmal am zweiten oder dritten Juli vormittags in bestimmten Gäßchen der engen Innenstadt durch Glassplitter watet, der kann schon mal die Stirn runzeln, wenn er älter geworden ist; ich will damit nicht sagen, daß ich mich an solchen Enthemmungen in früheren Tagen beteiligt hätte, gebe aber zu, und gern, „in früheren Tagen“ der Biberacher Jahre auch manche Nacht des Schützenfestes durchgesoffen zu haben.
Als ich 1962 bei den Schützentrommlern aufgenommen wurde, was eine Ehre war, konnte ich auch von dieser Zukunft nichts ahnen. Vor der breiten Treppe auf dem Schulhof der Pflugschule umringten wir jemanden, der die Liste der Neuzugänge zusammenstellte. Ich glaube mich zu entsinnen, daß ein um ein paar Jahre älterer Jugendlicher, der in meiner Gegend auf dem Lindele wohnte, in der Alpenstraße, Helmut, Heinz-Wolfgang und mich vorgeschlagen hatte; wenn es dieser dickliche Junge gewesen war, dann hätte ich ihn auch noch wegen eines Verhaltens, das mir nicht gefiel, das er ein Jahr danach an den Tag legte und das eine Freundschaftskrise zwischen H. und mir heraufbeschwor, auf zwiespältige Weise in der Erinnerung. Dazu später. Es ging bei dieser Auflistung gar nicht sehr aufgeregt zu, schließlich standen meine beiden Freunde und ich auf diesem Papier. An einem anderen Tag wurden die Trommeln ausgegeben, samt Koppeln und Schlegel; wenn ich mir trauen darf, dann war das oben auf einem der weiträumigen Dachböden der Pflugschule, wo auch die Uniformen, und nicht nur die der Schützentrommler und -pfeifer, sondern auch die der anderen Trommler- und Trachtengruppen, mit Ausnahme wahrscheinlich der des Trommlercorps des – Wieland-Gymnasiums, lagerten und eines Abends, als die Festtage allmählich heraufzogen, ausgegeben wurden. Ich lernte Märsche trommeln.
- Heute etwas bedeckt, erst ab dem Nachmittag fiel das Sonnenlicht konti-nuierlich herunter und wärmte die zweite Tageshälfte und den Abend wieder auf.
12.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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