16
Dez

16.12.2002

Im frühen dunklen Abend eilte ich hinab zum Mühlweg, an dessen Ende die großen Hallen der „Liebherr-Werke“ liegen und das dazugehörende Verwaltungshochhaus, das meines Wissens am Ende der fünfziger Jahre dort gebaut worden war. Dem Wohnblock gegenüber, auf den ich zuschritt, den es ja noch immer gibt, ragt das „Liebherr-Hochhaus“, ein Wohngebäude im typischen Stil der Endfünfziger und ein markanter Punkt in der Stadt, auf. (Wenn ich mich nicht irre, ist diese Straße, die in alten Tagen ihren Namen von der Gaupp’schen Mühle an der Riß, die dort durch das Tal fließt, erhalten hatte, inzwischen nach jenem oberschwäbischen Entrepreneur genannt worden, dessen Kräne auch die Lasten für die Bauten am Potsdamer Platz hievten; die Familie ist milliardenschwer, ihre in- und ausländischen Werke produzieren nicht nur Kräne; im Zimmer der Tagesklinik der „Inneren“ der Charite, das aufzusuchen mir in den zurückliegenden Monaten seit Beginn letzten Jahres wegen der prinzipiell wöchentlichen Chemotherapie-Gaben – obwohl dieses Prinzip immer wieder wegen der Nebenwirkungen der Medikamente durchbrochen werden muß – , die mir noch für eine Zeitlang das Überleben ermöglichen sollen, nicht erspart bleibt, steht ein kleiner „Liebherr“-Kühlschrank – so werde ich dort immer an meine Geburts- und Lebensstadt erinnert; ich sagte das den Ärztinnen und Ärzten. Einige von ihnen kennen Biberach dem Namen nach, nur Frau Dr. F. ist einmal in Biberach gewesen: das Pharmazieunternehmen Boehringer-Ingelheim hat hier einen bedeutenden „Standort“, der in den achtziger Jahren dem Großbetrieb zugeordnet worden war und davor viele Jahre lang als „Thomae“ der Stadt ein unverzichtbarer Gewerbesteuerzahler gewesen war und das heute mehr denn je ist. Die Firma betreibt an der Riß neben der Herstellung von Medikamenten aller Art auch eine der weltweit wichtigsten – und fragwürdigen – gentechnischen Forschungsstätten. In der Hermann-Volz-Straße besaßen wir einen „Liebherr“-Kühlschrank, hergestellt in der Fabrik in Ochsenhausen, einer wirklich kleinen Kleinstadt (ein Kleinstadtdorf eigentlich nur) nicht allzu weit von Biberach in östlicher Richtung entfernt.) Ich drückte den Klingelknopf rechts von der Haustür des vierstöckigen Genossenschaftswohnblocks, der zwischen anderen, aufgebaut in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, stand; steht. In einem von ihnen wohnt seit einiger Zeit Thomas.) Ich klingelte bei „Lüring“, bei „Tante Emmi“, der Cousine meiner Mutter, der kleinen zierlichen, stets unverheirateten und frommen Frau, die an einer Schulter einen kleinen Buckelansatz hatte. In Schlesien war sie Schneiderin gewesen, hatte in den Sechzigern auch hin und wieder in Biberach geschneidert. Ihre Eltern, mit denen sie Ende der fünfziger Jahre nach Biberach gekommen war, lagen schon lange unter der Erde. Ich ging die Treppe hinauf, betrat ihre Wohnung, das Wohnzimmer, in dem die Möbel eng standen. Vor vielen Jahren waren hier Geburtstagsfeste mit so vielen Gästen, daß das Zimmer sie kaum hatte aufnehmen können, gefeiert worden. Nur wirkte den Wohnraum eigentümlich verwaist. Ich stand vor ihr und sagte: „Mama ist tot.“ Sie sah mich an, von unten, denn sie war ja kleiner als ich, setzte sich dann auf einen Stuhl. „Ach Kusinchen ...“, sagte sie nach einer Weile leise in die dunkle Stube hinein. Ich sagte noch etwas; was? Wir saßen am massiven Wohnzimmertisch und schwiegen. „Sie war vor ein paar Tagen hier“, sagte meine Verwandte (die einzige, die ich nun in Biberach hatte) dann, „sie wollte es da schon tun.“ Ich nickte traurig. Der Alkohol, den ich mir gegeben hatte, kreiste in meinem Kopf. Ich war keineswegs betrunken. Ich sagte, daß der Arzt und die Leute vom Bestattungsinstitut da gewesen seien; die Dinge nähmen nun ihren Lauf. Ich war in einem Zustand, den man „aufgekratzt“ nennt. Wieder waren wir still. Schließlich verabschiedete ich mich und ging in der Rollinstraße zur Innenstadt, in sie hinein zum „Storchen“, in dem schon die ersten Abendtypen herumhockten und vereinzelt den Tresen mit ihren Ellbogen beschwerten. Till stand an der Theke. Ich stellte mich neben ihn. Bestellte Rotwein. Er und ich wechselten ein paar Worte. „Meine Mutter ist heut gestorben“, sagte ich und kam mir mit diesen Worten seltsam vor. Er sah nur kurz zur Seite. „Hart“, meinte er. Ob er mitginge, eine Pizza oder sowas zu essen, ich würde ihn einladen. Er müsse sehr bald gehen, fahre mit der Bahn zurück zum Studienort. Ich hatte gar nicht gewußt, daß er in der Stadt war. Ob ich ihm fünf Mark leihen könne. Ich gab ihm fünf Mark. Ich war gar nicht sehr enttäuscht, ich kannte ja seine Art. War ihm nicht böse. Er trank sein Glas leer und ging. Ich schaute ihm nach und dann durch die Kneipe, ich wollte nur mit jemandem ein bißchen reden. Anselm, ein junger, etwas gedrungener, pausbäckiger Typ spanischer Abstammung, mit dem ich seit zwei, drei Jahren gelegentlich Backgammon im „Alten Haus“ spielte, der der Literatur etwas abgewinnen konnte, kam an die Theke, um mich in seiner immer etwas theatralischen Art zu begrüßen. Sie störte mich nicht. Man konnte sich mit ihm unterhalten. Ihn fragte ich, ob er mir Gesellschaft leiste; meine Mutter ... Wir verließen dieses letzte Biberacher Freaklokal und gingen ein paar Schritte um ein paar Ecken und setzten uns in eine altbekannte Pizzeria, in der wir zu dieser Stunde noch die einzigen Gäste waren. Ich bestellte einmal Wein und Grappa. Sagte etwas, sagte wieder etwas ..., war aber eher einsilbig. Anselm hörte verständnisvoll zu, entgegnete Sätze, die nicht übertrieben mitfühlend in einem fast sachlichen Ton daherkamen, und das beruhigte mich ein wenig. Ich zitterte innerlich, jedoch nicht die Winterkälte war die Ursache dafür. Wir aßen Pizza. Ich mußte etwas zu mir nehmen. Tranken Grappa. Vor der Pizzeria ging A. dann nach links, ich nach rechts. Nun war der Abend älter geworden. Ich mußte noch zum Kino, um die Publikumsdiskussion über den letzten Film des an diesem Abend beendeten Nazi-Film-Seminars mit Dr. Albrecht vom Deutschen Filminstitut zu protokollieren. Der Alkohol summte in meinen Neuronen, ich war nicht betrunken, nur von der Welt etwas fortgerückt. Ich vertrug damals eine Menge. „Du verträgst einen Stiefel“, hatte der Kinobesitzer einmal zu mir gesagt; er sah es nicht gern, daß ich stets etwas alkoholisiert zur Arbeit erschien, fand sich, nach süffisanten Bemerkungen über meine Fahne, zuweilen aber damit ab. Ich war Spiegeltrinker. In der hintersten Sitzreihe des „Urania“-Kinos belegte ich einen der Klappstühle, zog Notizblock und Filzstift aus der Anoraktasche und protokollierte. „Meine Mutter ist tot, und ich sitze hier, als sei nichts geschehen“, dachte ich. Alles war strange. Alles war absurd. Das ganze Leben ist ja absurd; so dachte ich seit langem. Nach Schluß der Diskussion ging ich aus dem Kino, durch die frostkalten Straßen, über den Marktplatz, zur Diskothek „Take Five“. Dort konnte man noch einen Schluck zu sich nehmen. Ich stellte mich an die Theke des verschummerten Ladens, die in kantiger Hufeisenform um den Barbereich verlief und orderte Rotwein. Es war spät, als ich aufbrach. Roland R., der Disko-Betreiber, schrieb die zehn Mark, die ich vertrunken hatte, an, ich hatte kein Geld mehr dabei. Ich war ja seit vielen Jahren Gast. Mein Weg führte in der Winternacht durch die menschenleere Stadt zur Wohnung an der Hermann-Volz-Straße; nie mehr würde dort meine Mutter nachts mein Zimmer betreten, um mich müde bittend zu veranlassen, doch zu Bett zu gehen. Mein Leben würde sich nun, ab diesen Minuten, in denen ich durch die Straßen ging, verändern. Es war eigenartig. Ich war sehr einsam.
- Grauer Tag, nicht mehr gar so kalt.
16.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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