5
Nov

5.11.2002

Erst nach dem Tod der Mutter der Geschwister Leupolz, der zu ihr trat, als sie in ihren Achtzigern lebte, nach dem Beginn der achtziger Jahre des Jahrhunderts, das doch die meisten Toten produzierte, und dieses technische Wort dürfte, eingedenk des fabrikhaften Tötens, angebracht sein, aber das auch allgemein, bevölkerungs- und mortalitätsstatistisch betrachtet, bisher in der Menschengeschichte die meisten Toten gehabt hatte, weil mehr Lebende als jemals zuvor auf der Erde sich fragten, wozu sie da seien, begann allmählich ein anderes Ritual, ein gesellschaftlicheres, denn als Klaus L. die Zweizimmerwohnung im obersten, im dritten Stockwerk des geerbten Hauses bezogen hatte (das zweite Zimmer war kaum der Erwähnung wert, so winzig war es), trafen wir, die Freundesgruppe, uns mit einiger Regelmäßigkeit jeweils an den Montag Aenden bei Klaus L., und daß das Anfang der Wochen, am ereignislosesten Tag der Woche, wie der Montag sich eben in Biberach darstellte, geschah, lag daran, daß ich über das ganze Jahrzehnt der Achtziger bis zur Mitte der Neunziger nur an diesem Tag nicht zur Kinoarbeit mußte; aber es gab während meiner Kinozeit auch Phasen, in denen ich selbst am mir zustehenden freien Tag Filme vorführte, freiwillig, weil ich dadurch zu ein paar Mark mehr kam; es war im Jahr 1984, und um das zu verifizieren müßte ich in die Akten sehen, als ich, weil der „Montagsvorführer“, der gelegentlich auch, doch sehr selten, an anderen Tagen, Abenden, einsprang, den Job an den Nagel gehängt hatte und ein Nachfolger sich anscheinend nicht so schnell finden ließ, ein Vierteljahr ohne einen einzigen freien Abend durcharbeitete. Ohnehin fand mein Privatleben, sofern ich davon sprechen konnte, erst nachts statt. Schon vor den Filmvorführerjahren hatte ich die Nacht zu meinem Tag gemacht. An den Abenden der Montage kam der „kleine Kreis“ zusammen, zu dessen Teilnehmern außer dem Gastgeber L. die Herren Thomas G., Jürgen K., Mario K., hin und wieder, gegen Ende der Achtziger, auch Christoph H., als wir noch miteinander befreundet waren, gehörten, und andere, deren Namen mir augenblicklich schon entfallen sind, die aber nie immer alle zusammen sich einfanden, dazu ab und zu Damen unterschiedlichen Alters, die, sei es, weil sie seit längerem Zugang zum „kleinen Kreis“ hatten, zu dem sich hin und wieder andere jüngere und ältere Herren für einen Abend dazugesellten, die aber auch nur selten erschienen, oder, weil sie zum Bekanntenkreis eines der Teilnehmenden zählten und zufällig im „Tweety“ um die Ecke gesessen hatten und eingeladen wurden, nach dem spätabendlichen Kneipenaufenthalt noch zum Plaudern und Trinken in die Leupolz’sche Wohnung mitzukommen, anwesend waren. Es war eine (heterosexuelle) Männerrunde, ein mal wirklich nur „kleiner Kreis“, der oftmals auch nur aus Klaus L. und mir bestand, oder es war auch so, daß dann, als L. und ich schon seit einer oder zwei Stunden bei billigem Wein miteinander unsere Gespräche geführt hatten, noch andere „eingeführte“ Mitglieder unseres Montagstreffens, unseres „Jour fixe“, später eintrafen, oder ein andermal größeres Zusammenkommen sich ergab, je nachdem, wie Lust und Laune dazu verhanden waren; auch, um das nicht zu vergessen, in den zur Nacht gewordenen Abenden von Freitagen zu Samstagen; aber ich war dann so gut wie nie dabei, denn bis ich aus dem Kino herauskam, waren diese freundschaftlichen Zusammenkünfte wieder beendet. Alternierend zu L.s Gastfreundschaft lud ich den „kleinen Kreis“ immer mal wieder zu mir in das Apartment im fünften Stock ein; auch dann wurde es, bei Bier, Wein, Whisky, Zigaretten, stets sehr spät, und Thomas G., einer meiner nicht schwulen längstjährigen Freunde, der zu jener Zeit auswärts studierte, fuhr schließlich Klaus L. hinunter vor das Haus in der Justinus-Heinrich-Knecht-Straße und danach Richtung Nordwesten zu seinem Studienort in Baden-Württemberg. Dieses rituelle Treffen verlor erst Mitte der neunziger Jahre an Bedeutung; als nach fast zehn Jahren das Bedürfnis nach Zusammenkunft und Austausch sich erschöpft hatte und auch die Freundesbeziehungen sich zum einen oder anderen gelockert hatten oder gar fast abgebrochen waren. Eine Stimmung, oder Nichtstimmung, der Langeweile war über den „kleinen Kreis“ gefallen, und es gab zwar noch die Montagabende, aber nur Klaus L, Thomas G. und ich hockten, bei L. oder mir, noch zusammen, aus alter Gewohnheit. Ich hatte inzwischen Alkohol und Zigaretten ja aufgegeben, und auch das Kneipengehen machte mir nun kaum noch Vergnügen. Zwanzig Jahre lang hatte ich es exzessiv gepflogen. Als Klaus Leupolz im Januar 1996 tödlich erkrankt war, war es aus mit diesem Ritual, das so viele Jahre praktiziert worden war.
- Kalt, ab dem Mittag sonnig; um 16.45 Uhr ein langer rosafarbener Strich, ein Kondensstreifen eines Flugzeugs, quer über die „Linden“ im graublau abfärbenden Himmel über Berlin.
5.11.2002

4
Nov

KARGA

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3
Nov

Der Alte Fritz II

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2
Nov

2.11.2002

Es muß an einem herbstlich sonnigen, wärmenden Nachmittag während der 10. Baden-Württembergischen Literaturtage im Frühherbst 1992 gewesen sein, als ich, durch die Stadt schlendernd, an der Bürgertumstraße an einem der weißen Plastiktische, die dort am Eingang eines Cafés standen, Mario Katz neben einer Dame bei einem Glas Wein sitzen sah, und näher trat und an diesem Tisch auf einem weißen Plastikstuhl Platz nahm. Mario war im Gespräch mit Frau Nestle, der Gattin eines Chefarztes am Kreiskrankenhaus Biberach, begriffen, ich gab ab und zu ein paar einsilbige Bemerkungen dazu; so wurde ich mit Frau N. bekannt, und als Mario gegangen war, seine Aktentasche, die er unvermeidlich immer, wenn man ihm begegnete, bei sich führte, hinter den Sattel seines Fahrrads geklemmt hatte und fortgefahren war, kamen Frau N. und ich auf die in jenem Jahr neu etablierte Jugendkunstschule, deren Leiterin sie war, zu sprechen. Frau N., die schon eine Laien-Theateraufführung mit dem Brecht-Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ initiiert hatte, äußerte im Gespräch im Spätsommerlicht den Wunsch, daß es, wenn es irgend möglich wäre, doch auch die jugendlich-kindgerechte Arbeit mit Sprache, mit Literatur, an ihrer Institution geben möge, so bot ich ihr an, mir einmal Gedanken darüber zu machen. Sie kannte mich und meine literarische Kompetenz freilich noch nicht, gab jedoch ihrer Bereitschaft Ausdruck, einmal ein Konzept von mir zur Einrichtung einer Literaturwerkstatt für Kinder entgegennehmen zu wollen. Zwei Monate verstrichen, ohne daß ich das tat und ohne ermunternde Aufforderung, es zu tun, doch im Dezember formulierte ich ein paar Überlegungen und schickte das Papier ins Büro der Jugendkunstschule, das im Gebäude der Jugendmusikschule an der Wieland-Straße untergebracht war. Danach geschah etliche Monate wieder nichts, wieder war ein Winter meines Mißvergnügens Vergangenheit, ich verbannte im Frühjahr Alkohol und Nikotin aus meinem Leben. Zufällig begegneten Frau Nestle und ich uns in der frühsommerlichen Stadt und sie sagte, wir sollten uns endlich zusammensetzen, um die Eröffnung der literarischen Sektion der aufblühenden Jugendkunstschule zu erörtern. Das taten wir einige Tage danach auf den Holzbänken vor dem „Tweety“. Sie beauftragte mich, ein Faltblatt, ähnlich denen, die schon auf die Kurse und Veranstaltungen ihrer Schule hinwiesen, herzustellen, in dem etwas Aussagekräftiges zu einem zu beginnenden Literaturkurs für Kinder ab neun Jahren stünde. Ich arbeitete mit IBM und Schere und Klebstoff, bastelte ein grafisch und literarisch ansprechendes Blättchen und lieferte es nach wenigen Tagen ab. Der Schulleiterin gefiel es nicht übel, die nötigen Informationen waren optisch hübsch eingepackt; für’s Bewerbungsgespräch mit dem Vorsitzenden des Fördervereins, der diese nichtstaatliche Schule, die für ihre Kurse Gebühren verlangte, trug, dem städtischen Musikdirektor und Chef der Jugendmusikschule mit dem mir vertrauten Namen Marx, dessen Vater eine bedeutende Musikerpersönlichkeit in Stuttgart gewesen war, war nun noch ein sogenannter Lebenslauf vorzulegen. In den – diese Bewerbung war in meinem Leben die erste und letzte – schrieb ich kein Wort von meinem früheren marxistischen Funktionärswirken hinein. Das Gespräch wurde geführt, ich bekam den Job, den ich weniger wegen des Honorars, das, monatlich abgerechnet, nun auf mich zukam, angestrebt hatte, wie ich ja nie ein Streber war, sondern weil ich in mir spürte, daß ich dafür ganz gut geeignet sei und Lust hatte, etwas auszuprobieren. Das Studium der Pädagogik bei Professor Buck in Stuttgart hatte ich ja de facto nicht betrieben, neben der Politologie, die mich bald ebenso gelangweilt hatte, so war diese Tätigkeit eine Art Feldversuch in eigener Sache auch. (Prof. Buck, ein Mann nahe der Emeritierung, hatte oft und ausgiebig über seine Zeiten als Pädagoge an Waldorf-Schulen gesprochen. Hatte er nicht an der Odenwald-Schule gelehrt?) Eines Nachmittags in der Oktobermitte des Jahres 1993 war ich im kleinen Unterrichtsraum im Souterrain des alten Jugendmusikschulgebäudes – in das ich als Kind zum Erlernen des Blockflötenspiels hinein- und hinausgegangen war – , der auch für andere Kurse, Malkurse, benutzt wurde, von zwölf aufgeweckten Kindern umgeben, die gleich mir auf Holzstühlchen, die eher für sieben Zwerge als für zwölf Neun- und Zehnjährige beiderlei Geschlechts gedacht zu sein schienen, um eine große rechteckige, tiefblau angestrichene Holzplatte hockten und mich erwartungsvoll und etwas skeptisch beäugten. Ich erklärte, was hier stattfinden würde, begann das Wort zu erheben und Wörter zu erwähnen, mit denen auf die vielfältigste Weise gespielt werden könne; und alle Wörter sind ja dafür geeignet. Und daran beteiligte auch ich mich, bis zum Sommer `98. Es machte viel Spaß.
- Ein vormittags grauer Samstag, mittags kurze sonnige Auflichtung, blauer Himmel, weiße Wolken, danach Verdüsterung.
2.11.2002

1
Nov

1. November 2002

Die Samstage und Sonntage, aber auch die Dienstage, die Mittwoche und auch Donnerstage, in denen ich – sagen wir: im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren – abends ins Kino ging, meistens in die 20.30 Uhr- oder 20.15 Uhr-Vorstellungen (je nach Filmdauer), waren besondere Tage. An den Freitagen – übrigens waren natürlich auch sie Kinotage – las ich, wenn ich in der Zeitung, die ich fast immer erst mittags aus dem Briefkasten zog, wenn ich von der Schule das Gartentürchen aufschwang (oder meine Mutter hatte das, bevor sie aus dem Haus gehen mußte, schon getan) und dann mit einer gewissen Genüßlichkeit aufblätterte, während ich das Mittagessen ohne sonderliche Beachtung verzehrte, auf einer der letzten Seiten, die ich zunächst inspizierte, die Kinoanzeigen vor allem andern; die waren als eine Leiste am unteren Ende, unter dem Sammelsurium der Klein- und Werbeanzeigen, die sich unter der Woche für die Kleinstadtleser in der Anzeigenabteilung der „Schwäbischen Zeitung“, Lokalausgabe Biberach, angesammelt hatten, abgedruckt, und wenn ich sie studierte, die Bildchen ansah, die als Werbemotive über den kleinen Zahlen, die die Anfangszeiten waren, standen, und die sonstigen Angaben, wie „Prädikat wertvoll“ oder „Prädikat besonders wertvoll“, und vielleicht auch zusätzlich die Angabe, in der wievielten Woche ein bestimmter Film schon gezeigt wurde, stieg in mir ein wohliges, angenehmes Gefühl auf, eine Art Wärmegefühl, das sich in mir ausbreitete, besonders, wenn an einem Freitag in damals allen drei Kinos, die es in B. in den sechziger Jahren erst gab, ein neues Programm anlief, und ich die Anzeigen, die in reduziertem Umfang unter der Woche auch wieder warben, noch nicht kannte. Denn dann war mir ziemlich klar, daß ich an diesem Wochenende wieder ins Kino gehen würde; oftmals kannte ich dann Bilder dieser neuen Filme, die ich vor den Schaukästen, die in der Doppeltür jener Garage im Innenhof zwischen „Filmtheater“ und „Urania“ angebracht sind, angesehen hatte, die freilich auch in den großen hohen Schaukästen an der Vorderfront des „Filmtheaters“ und an den niedrigeren des „Urania“-Kinos entlang der Foyerfront an der Saudengasse hingen, natürlich auch in den beiden – großen – Schaukästen an der Hofwand dieses bemerkenswerten Kinobaus aus den späten fünfziger Jahren; oder, um auch den anderen Kinobetrieb nicht zu vergessen, in den Schaukästen an der Frontseite des „Ringtheaters“ am Zeppelinring; und in den Wochen vor dem Start eines neuen Films hatte man als regelmäßiger Kinogeher, wie Walker Percy diese Sorte Menschen in einem seiner Romane, der den Titel „Der Kinogeher“ trägt , bezeichnet, mehr als einmal die Gelegenheit gehabt, sich auch eine „Vorschau“, wie diese Ankündigungszusammenstellungen von Filmbildern und -ausschnitten hießen und wohl noch immer so bezeichnet werden – seit etwas zwanzig Jahren hat sich der Begriff „Trailer“ beim Kinopublikum eingebürgert – anzusehen. Das Lesen der Kinoanzeigen war eines meiner Rituale, denn schon im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren hatte ich Rituale ausgebildet, die an bestimmten Tagen auszuführen waren; sie strukturierten bestimmte Stunden und waren auch ganz kleine Marksteine im Alltag; und es bereitete mir ein ganz eigenes Vergnügen, das sich dezent verhielt, wenn ich sie passierte. Ich suchte mir also an den Freitagen den Film aus, den ich am Tag danach oder am Sonntag oder gar am selben Abend ansehen wollte. Die Gewißheit, ins Kino zu gehen – sofern genug Kleingeld vorhanden war, und manchmal kramte ich eben in den Taschen der Mäntel meiner Mutter, ob sich da etwas finden ließe, das den Betrag für die Kinokasse aufstockte – , erfüllte mich dann mit einer stillen Vorfreude. Rechtzeitig (an manchen Tagen jedoch mußte ich mich auch sehr beeilen, wenn ich mich beim Lesen vertrödelt hatte oder eine häusliche Arbeit, die aus irgendeinem Grund gerade jetzt dazwischen kam, als ich mich aufmachen wollte) schritt ich hinunter in die Stadt. Ich schätze Pünktlichkeit seit jeher; Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, wie einer der französischen Louis – war es nicht der vierzehnte ihrer? – sprach. Saß ich dann im großen Kinosaal, die Einlaßmusik, Melodien aus klassischen Western oder Abenteuer- und Kriegsfilmen, die ich längst gesehen hatte, tönte aus den hinter Verschalungen und der Bildwand verborgenen Lautsprechern, andere Kinogeher kamen einzeln oder in kleinen Gruppen mit zögerlichem Schritt in den Saal herein (ich saß, wenn ich es bezahlen konnte, im „Rücksitz I“ hinten), das Gemurmel im Saal wurde stärker, endlich dunkelte es in ihm sehr langsam, der erste Vorhang, ein gelb-goldener, teilte sich nach beiden Seiten – dann war der Abend schon gelungen, unabhängig von der Qualität des Films. In jenen Jahren sah ich mir am Ende der Vorführung den Titelabspann noch nicht ganz an; dann folgten, in den Siebzigern, wo es für einen Cinéphilen selbstverständlich war, einen Film in voller Länge, mithin auch den Nachspann, zu genießen, Filmabende, in denen – und hatte der Vorführer die Vorhänge zu früh sich wieder schließen lassen, ehe alle Titel „durch“ waren, erlaubte man sich, darüber ein paar mißgelaunte Worte zu äußern – ich bis zur letzten Zeile, zum letzten Logo, zum letzten „credit“ sitzen blieb; und nun, in meiner Berliner Zeit, stehe ich wieder mitten im Nachspann auf, und das deutet schon an, daß ich mich von dem Kinoenthusiasmus, den ich über viele Jahre hinweg pflegte, etwas distanziert habe. Damals, in den Sechzigern, die ich als glückliches Jahrzehnt empfand und empfinde (aber weiß man, daß man glücklich ist, wenn man es ist?), mehr denn je, die die vielleicht schönste Zeit meines Lebens waren, war eines meiner Rituale das, nach dem Verlassen des Kinos auf dem Heimgang an einen bestimmten Zigarettenautomaten, der an einer Wand eines Tabakwarenladens in der Hindenburgstraße hing, heranzutreten und mir eine Schachtel „Astor“ zu ziehen, eine der Nobelmarken des musikalisch und politisch revolutionären Jahrzehnts (in dem ich kleine aristokratisch anmutende Attitüden ausbildete), sie im Weitergehen aufzureißen, einen der weißen Stengel mit dem dunklen Korkfilter heraus zu ziehen, zwischen die Lippen zu stecken und – in aller Regel des Rituals mit einem Streichholz – zu entzünden, den Rauch auf der Zunge und dem Gaumen zu schmecken und so, rauchend, den Film überdenkend, meinen Weg zum Lindele durch die von Straßenlaternen, Wohnungs- und Schaufenstern und Autolichtern aufgehellte Stadt hinter mich zu bringen. Selten zündete ich mir einen zweiten Glimmstengel an. Und nach manchen Kinobesuchen auch gar keinen; weil ich kein Geld für eine Schachtel oder auch gar kein Bedürfnis nach dem Rauchen hatte. Jedes Ritual gewinnt ja durch Unterbrechungen.
- Erst das übliche Grau, mittags, nachmittags Sonnenlicht, das zunächst nur als eine hauchzarte Schicht über den Gebilden der Topographie lag.
1. November 2002

31
Okt

31.10.2002

In meinen Aufzeichnungen von der zweiten Hälfte des Neunundsiebzigerjahrs finde ich diesen Eintrag: „Mo, 17.9.: R. v. Praunheim-Film ‚Armee der Liebenden‘“; er lief, wie ich die Usancen des Filmeinsatzes kannte und auch nicht vergessen habe, sicherlich mehr als nur einen Tag im „Sternchen“, am Montag, 17.9.1979, sah ich ihn mir an.
- Aus dem verhangenen Tag wurde noch ein sonniger Nachmittag. Und die Abenddämmerung setzt schon so früh ein, daß sie dem Nachmittag ohne langen Übergang folgt.
31.10.2002

30
Okt

30.10.2002

Ende Oktober, Anfang November ’79 begann die Freundschaft zwischen Klaus Leupolz und mir. Wie so häufig lungerte ich an einem Herbstabend wieder im „Sternchen“ herum, und auch Klaus L. war, aus einem Grund, den ich nie mehr eruieren kann, anwesend. (Diese ersten intensiveren Begegnungen, in denen die Freundschaft sich ankündigte, sind mir unklar, ich kann nicht ganz genau schildern, was wir zueinander sagten, ich kann davon gar nichts mitteilen, ich weiß nichts vom Thema, über das wir, so kann ich aber wenigstens annehmen, ins Gespräch gekommen sind; der Alkohol zerstörte wohl diese Zellen, in denen das gespeichert war, schon in jenen Tagen.) Ich finde auf den fünfeinhalb Din-a-4-Seiten, auf denen ich die mir relevant erschienenen Vorkommnisse des Herbstes und des Winters von 1979 notierte, die, wenn ich genau sein will, ab Mitte Juli ’79 aufgeschrieben wurden, nur die Eintragung „Do., 29.11.: Filmfest (K. Leupolz am Tresen und K.)“, wobei mit „K.“ ich mich selber benannte, die in der Nacht des 29.11. nach den Tagen gemacht wurde, in denen Klaus L. und ich schon miteinander zu tun gehabt hatten, denn die „1. Biberacher Filmfestspiele“ hatten am 29.11. ja schon begonnen, und Adrian Kutter hatte, nachdem Klaus L. in den Wochen, die dem Filmfest vorangegangen waren, seine grafisch-malerische Mitarbeit zu den Vorbereitungen des Filmfestes angeboten hatte, schließlich ihm und mir über den Tresen zugeworfen: „Also, dann setzt euch mal zusammen und überlegt, wie das Plakat aussehen soll!“ Das taten wir. Klaus Leupolz zeichnete ein witzig-skurriles Motiv, das die Lokalität „Biberach“ mit Filmstreifen und Vorführapparaturen verband; das auch für’s Programmheft Verwendung fand. Auch fertigte, doch das geschah nach den Filmtagen, die schon beim ersten Mal von Donnerstag bis Sonntag den damals produzierten deutschen Filmen eine heimelige Ecke in der Bundesrepublik boten, er einen gelben spitzgesichtigen Stern aus Gips an, der dann für Jahre, bis er brüchig geworden war, über der Innenseite der Eingangstür zum „Sternchen“ freundlich lächelnd den breiten Mund verzog. In diesen Vorbereitungen in der Vorfilmfestzeit, zu denen ich nicht mehr als ein paar Anmerkungen und filmspezifische Anregungen beitrug, stellten er und ich recht schnell fest, daß unsere Wellenlängen, die ja jeder, obwohl das wissenschaftlich noch lange nicht erforscht sein wird, ausstrahlt, gut miteinander harmonierten. So begann diese Freundschaft, die nach dem Herbst ’79 sich vertiefte und zweiundzwanzig Jahre hielt, ohne daß wir uns jemals zerstritten hätten. Ein straighter Hetero und ein Homo, und der Altersunterschied betrug einundzwanzig Jahre – sowas war also möglich. Freundschaft war mir stets in allen Jahren viel wichtiger als Sex. Künstlerische Persönlichkeit, Diskussionen über Kunst, Politik, Philosophie, Literatur, Film, der fast alltägliche Austausch von Gedanken, von Erlebnissen, von Freude, Wut, Enttäuschungen, die kommentierende Begleitung zweier Jahrzehnte – das interessierte mich, und wenn es mit denen meiner sexuellen Präferenz, die in der Provinzstadt bis zum Ende der siebziger Jahre nicht zu sehen waren, nicht ging, dann eben mit anderen, die eine andere – für mich ist ja die „normale“ eine „andere“ – Sexualität praktizierten oder auch nicht. Als ich in den Neunzigern eigene Lesungen in der kleinen Stadt veranstaltete, half er mir mehr als einmal, die Plakate zu gestalten; gab Zuspruch und Ermunterung. Er hatte in den Siebzigern kleine Schriften im Eigendruck, hübsch illustriert, verfaßt, die „Das Mauerklopfen an der Kopfenmauer zu Biberach“, „Das Märchen vom Biberacher Bilderbaum“, „Die Klagemauer zu Biberach“ und andere Titel hatten, vom „Biberacher Wunderwasser“ handelten, das unter bestimmten Umständen aus dem Brunnen auf dem Marktplatz, über dem der schildhaltende Steinritter stand und steht, flösse; und in ironisch-sarkastischem Duktus, aus dem der Spott über die „Spätabderiten“, die, wenn sie sich besonders der „Kunst“ zuwandten (und -wenden), gerne daneben langten, ja sich vergriffen, was in Biberach schon seit Wielands Jahren eine unheilvolle traditionsbewußte Regel zu sein scheint, zu hören war (doch auch eine verborgene Sympathie für’s Heimatstädtchen, in dem es auch anders ginge, wenn die Borniertheit nicht wäre), Biberacher Verhältnisse aufgriffen. Die wären es wert, einmal von Biberacher Kulturgeld zu einem Bändchen zusammengefaßt zu werden.
- Ein trübgrauer Tag, mit kurzer Aufhellung am Nachmittag.
30.10.2002

29
Okt

Grab 3

KD-GRAB3
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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