10
Sep

Gigelberg

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Nar(r)zis 3

N3

8
Sep

8.9.2002

Zu Beginn des Septembers 1976, einem sonnigen September, wurde in Biberach an der Riß die letzte linke Aktion veranstaltet. Die wurde nicht von der SDAJ-/DKP-Gruppe angeleiert, die es zu dieser Zeit vielleicht auch gar nicht mehr gab, und ich muß das deshalb so schreiben, weil ich seit meiner Rückkehr aus Stuttgart im Herbst des Jahres davor und dem Einzug in die Karpfengasse keine Verbindung mit ihr hatte. (Doch, noch einmal sah ich Genossen von einst, wobei das „einst“ gar nicht so lange zurück lag, aber für mich war dieser Lebensabschnitt klar beendet: Mit Claus M., dem jüngeren Bruder jenes halbgöttlichen Prinz-Eisenherz-Frisur-Jungen, der mir auch gefiel und noch zur Schule ging und mir viele Jahre danach einmal im Kino mit seinen Kindern über den Weg laufen sollte, und wir redeten dann ein paar Minuten miteinander, hockte ich in einem Raum in der Karpfengasse, ein paar Häuser entfernt von meiner Bude, in einer der wöchentlichen Sitzungen – die offenbar doch stattfanden – , in der mir vertraute Gesichter noch anwesend waren, für eine Zeitlang dabei, bis mir das, was gesagt wurde, was beschlossen werden sollte, was ich so und so ähnlich in früheren Jahren selbst so gesagt hatte, doch zu langweilig wurde, und C.M. und ich stahlen uns wieder davon und gingen wie geplant ins Kino.) Ich kann nicht sagen, wann diese „Doppelgruppe“ aufgelöst wurde, wann die letzten Aktivisten einsahen, daß die ganze Chose keinen Sinn mehr abwarf. In der Öffentlichkeit war von der Gruppe nichts mehr zu hören und zu sehen. Aber vielleicht achtete ich auch nur nicht mehr darauf. Ich war mit anderen Problemen, die mein Sexualleben betrafen, vollauf beschäftigt und verspürte grundsätzlich kein Bedürfnis mehr, missionarischer Sektierer zu sein. Die proletarischen Massen hatten keinerlei Interesse für die schönen Ideen und die Überwindung ihrer Entfremdungssituation gezeigt; sollten sie zusehen, wie sie klar kamen. Ich vernahm keine Gewissensrufe wegen meines genießerischen kleinbürgerlichen Spätbohèmelebens. –
Die letzte linke Aktion wurde vom KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, einer seltsamen Vereinigung maoistischer Provenienz, veranstaltet. Im Hauchler-Studio – wir erinnern uns vage, daß seine Existenz mir am Anfang der siebziger Jahre Freunde zugeführt hatte: Manfred S., Falk Ch. B., Gerd K., Gerold A. (der von der Bundeswehr seinen Abschied als Unteroffizier genommen hatte, zur Umschulung nach Biberach geschickt worden war, in Manfreds Agitprop-Singgruppe mitgesungen, im ehemaligen Zimmer von Uli W. gewohnt und nach Abschluß seiner Ausbildung die Stadt verlassen hatte) – lernten 1976 drei Herren die in diesem Institut gepflogenen Erweiterungen der Schwarzen Kunst; einer von ihnen hieß Rolf S., er war der „Chefideologe“ des Drei-Mann-Grüppchens, ein langer dürrer Mensch mit scharfer Nase, der mit einem Mal in Herberts Karpfengassenzimmer saß. In einer Kneipe hatten sie sich wohl gesehen, und unvermittelt wurde Herbert linkspolitisch. Meinen früheren Aktivitäten hatte er nicht viel abgewinnen können. Ich wunderte mich. Die beiden Genossen-Kumpel des Hauchler-Schülers saßen bald auch im Haus. Irgendetwas tat sich. Schließlich hörte ich, daß die Aktion „Freiheit für Zimbabwe“ vorbereitet wurde. Über den KBW hatte ich mich in den Jahren, die hinter mir lagen, nur lustig gemacht, seine politischen Maximen und Doktrinen waren gar zu putzig, und mehr noch traf dies auf den Jargon zu, der dort mit hoher Dosis Emphase und Pathos – einer größeren noch als bei meinen „Orthodoxen“ – abgelassen wurde. (War nicht der jetzige Bundesumweltminister in jener Zeit dort Mitglied?) Ich war nun – wenn überhaupt noch links – „freier Linker“, denn die DKP hatte mich aus ihren Reihen ausgeschlossen (nehme ich an), ich äußerte mich jedoch nicht mit linken Ansichten, ich war auf Abstand zur Weltveränderung gegangen. Ich erklärte mich also zu meiner eigenen kleinen Überraschung bereit, ein paar Handlangerdienste für diese Aktion beizusteuern. Und andere aus dem Freundes- und Szenekreis unserer WG, die mit linker Politik – mit Ausnahme weniger Insassen – nicht eigentlich etwas zu tun hatte, stießen dazu. Nicht weil sie über Nacht links geworden wären, sondern aus jugendlichem Erlebnisdrang. Die Sache war einmal etwas anderes als nur im „Strauß“, im „Rebstock“, im „Schwanenkeller“ zu hocken. An einem milden Samstagvormittag klappte ich mit Markus M. zwei Tapeziertische auf dem Marktplatz aus und das Infomaterial des KBW wurde ausgebreitet. Die ersten Flugblätter gegen das rassistische Regime der weißen Regierung im südafrikanischen Land fanden tatsächlich Abnehmer aus der Passantenschar. Einiges Szenevolk sammelte sich um den Infostand und seine Betreiber an, Grüppchen standen herum, brave Biberacher Bürger verhielten kurz den Schritt und eilten dann weiter, oder ohne kurz zu stutzen, an den „Spinnern“ vorüber. Andere blieben sogar stehen und ließen sich in einen kurzen dialogischen Schlagabtausch verwickeln. In der Nähe des Infostandes war ein quadratisches (oder rundes) Schild auf einer Staffelei aufgebaut, im Schild waren die Konterfeie des weißen Regierungschefs des südafrikanischen Staates (hieß er nicht Smith?) und anderer Reaktionäre aufgeklebt, auf die durften mit handtellergroßen Spielzeugarmbrüstchen (das sollte aber keine Anspielung auf das „Biberschießen“ während des Schützenfestes sein) kleine Pfeile mit Saugnäpfen dran abgeschossen werden. War das nicht richtig militant und revolutionär-gewaltsam? Auch ich Kriegsdienstverweigerer ließ Pfeile losschnellen. Fotos wurden gemacht (auf einem von ihnen ziele ich gerade, angetan mit meiner schwarzen Jacke, und schwarze Hosen trug ich dazu, die sieht man auf diesem Foto aber nicht), von unseren Leuten, von der Polizei. Der „Aufruhr“ war ja vorbei, „68“ halb vergessen; auch die RAF-Terroristen der ersten Generation saßen in Stammheim und anderswo in Einzelhaft hinter Gittern (in meiner Stuttgarter Zeit war ich einmal mit der Straßenbahn am Stammheimer Knast vorüber gefahren). Helmut Schmidts SPD/FDP-Pragmatistenregierung steuerte die Bundesrepublik nach rechts. Wir lebten im Herbst der Rebellion. Auch ich schmetterte das alte KPD-Lied vom Roten Wedding mit der in den ersten siebziger Jahren beliebten neuen Zeile gegen „die Genscherpolizei“ – Genscher war Innenminister – nicht mehr. Am frühen Nachmittag wurden Infostand und Zielscheibe abgebaut und das Transparent mit der kämpferischen „Losung“ kam zusammen gefaltet in einen Karton. Abends spielten zwei zusammen gewürfelte Mannschaften Fußball auf dem Platz oben am Lindele. Wacklig stand der Infostand nebst Scheibe und Losung nun hier am Spielfeldrand. Der Kaffeeausschank – die Einnahmen gingen in den Solidaritätsfond – wurde spärlich frequentiert, die Schriften und Werke zur Revolution – nicht nur die vom Dicken mit der Warze – noch sparsamer gekauft. Wurde etwas verkauft? War nicht mein Bier; das ich aus der Dose süffelte. (Der gepriesene Führer der zimbabwischen Revolution Mugabe entpuppte sich, wie alle Leute solchen Schlages, in den Jahren nach der weißen Regierung als sehr unangenehme Figur und Schwulenfeind; immer, wenn in der Presse etwas über sein Regime erscheint, und ich weiß die bürgerliche Presse nach wie vor richtig zu lesen, erinnere ich mich für zwei Sekunden an jenen Tag im September 1976 und bin froh, daß ich nicht allzu viele Sympathien vergab.) Ich war mit Fotoapparat von der Karpfengasse zum Lindele hinauf gestiegen und hatte das alte Lindelestraßenhaus, das nun saniert war, dem aber seine ockergelbe Farbe gelassen worden war, gesehen. „Vor einem Jahr“, dachte ich, „habe ich hier noch gewohnt.“ Ich fand es doch seltsam, daß ich nun vorbeizugehen hatte.
- Wieder gab es für Berlin einen heißen Sommertag.
8.9.2002

7
Sep

7.9.2002

Am 7. September 1979 gab ich in den Räumen der Töpferei am Weberberg, die dem Geburts- und Elternhaus der Leupolz-Geschwister gegenüber liegt, zu meinem achtundzwanzigsten Geburtstag eine Party; eine Lesungs-Party mit Jazz live. Robert G., mit dem ich über Charles, meinen Zimmernachbarn in der Karpfengasse 24 bekannt geworden war (der nach einem Praktikum in einem Architekturbüro in Rotterdam zu einem Zweitstudium nach Berlin gegangen war), hatte mir in den Wochen zuvor das freundschaftliche Angebot unterbreitet, meine Party doch in seinen Werkstatträumen stattfinden zu lassen. Im Frühjahr jenes Jahres, in dem ich depremiert und äußerst schreibunlustig gewesen war, hatte er mir eines Tages vorgeschlagen: es wäre doch amüsant, wenn er und ich, jeder für sich, kurze Geschichten nach einem Thema, das wir uns wechselseitig stellen könnten, schrieben, so entstünden bestimmt ein paar Texte. Ich ließ mich, nicht ganz überzeugt vom Nutzen dieser Schreibtherapie, auf sie ein. R., ein schlanker junger Mann, etwas jünger als ich, gut aussehend mit langen dunklen Haaren und mit ruhigem Wesen, und ich verfaßten also kurze Texte und überreichten sie bei der nächsten Begegnung einander. Ab und zu kam er ins „Sternchen“ zu einem Film, dann fanden dort die Übergaben statt. Oder ich besuchte ihn in seinem Laden, in dem kunstvoll geformte irdene Gefäße und zierliche Figuren in Regalen und auf Tischen und Fensterborden für die Käufer aufgereiht waren. Die beiden Räume dufteten nach Ton, Lehm, Erde, Holz. Vier oder fünf dieser kleinen Geschichten wurden auf’s Papier gesetzt, eine hatte den Titel „Pfefferminztee bei Gesina von Woyski“, und die las ich am Abend des 7. Septembers im hinteren Raum, und andere. Aber bevor es dazu kam, kauften Charles (der noch vorlesungsfreie Zeit hatte) und ich im strahlend-schönen Vormittag in einem sehr großen Supermarkt im Stadtteil Birkendorf, unterhalb des Talfeldes (auf der Talfeldseite hinter der Straße, die nach Ulm führt, frißt eine Erdwunde am Hang: eine der Kiesgruben nahe der Stadt), alles ein, was an so einem Abend aufgetischt werden mußte. Im Einkaufswagen schob ich Bier-, Wein- und Schnapsflaschen, Salzgebäck, Baguettes, Wurst, Käse, Oliven, Tomaten, Gurken, Butterstücke und dies und jenes zum blauen 2CV-Citroen, den Charles damals fuhr, ein lustiges Automobil, das längst nicht mehr das Straßenbild aufheitert. Meine langen Haarsträhnen baumelten herum, als ich alles im Kofferraum verstaute, während Charles ein Foto von der Szene machte. Es ist natürlich noch bei den Akten. Wir schaukelten – die 2CVs waren gut gefedert und gerieten zuweilen in eine Wippenbewegung – durch die Biberacher Innenstadt zum Weberberg, wo ich die Sachen in einem kleinen Nebenraum zum Vorderraum, der als Ausstellungsraum benutzt wurde, deponierte und mich bald hinauf zum Hühnerfeld fahren ließ. Am frühen Abend, schon etwas angeschickert, aber Törnung hatte ich ja meistens im Kopf, wanderte ich geruhsam durch die spätsommerlich eingetönte Luft, auf Straßen, auf denen ich da und dort links oder rechts abbog; die Rosen blühten ab und andere Blumen und Gewächse gaben mir ihre Düfte ab. Im Nebenraum der Werkstatt bereitete ich die Häppchen zu, schnitt, schmierte, belegte, legte zur Seite. Auf großen Platten stapelten sich die dekorierten Baguettescheiben. Hin und wieder ein Schlückchen Wein dabei, so machte das Spaß. Die Jazzband kam und baute ihr Instrumentarium auf. Markus M. und seine Mannen. Die ersten Gäste traten nach zwanzig Uhr ein und ich bekam Geschenke oder auch nicht und das war auch nicht so wichtig, nur eines: einen guten Abend zu haben. Die Räume füllten sich, zu den Snacks und den Getränken wurde gegriffen, Zigarettenrauch kräuselte zur Decke empor, die Band spielte ein erstes Stück. In den engen Mauern wurde es laut. Das Schlagzeug polterte, das Saxophon schrillte, die Gitarrenriffs jaulten durch die Mauern und die offene Tür hinein in die kleine Stadt. Auf einem winzigen Podest an der hintersten Wand stand mein Tischchen, hinter das ich mich auf den Holzstuhl klemmte und Geschichten ins Mikrofon nuschelte. Ich las vier Texte, darunter auch „Der Wartende“. Jeweils nach einem Stück Lesung legte die Band wieder los, auf deren Musik die Zuhörer sicherlich mehr warteten als auf meine kleinen Zugaben. Stefan K. drückte mir später am Abend sein Geschenk in die Hand: hübsch mit Geschenkpapier umwickelt: ein solider Backstein. „Der Grundstein zu deiner Karriere“, schmunzelte er; dies entsprach ganz seinem ironischen Temperament. Ich nahm ihn dankend entgegen und bewahrte ihn immer sorgfältig auf, aber das mit dem Grundstein funktionierte irgendwie nie. Vor zwei Jahren und einigen Monaten, bei meinem Umzug von der Veteranen- in die Brunnenstraße, gelangte er mir wieder in die Finger, und er wird stets bei den Akten bleiben.
- Sonnig, warm, nachmittags deckten weißliche Wolken eine vorüber wandernde Schicht unter’s Blau. Mild-sonniger Abend.
7.9.2002

6
Sep

Kino

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5
Sep

5.9.2002

Im Wielandturm, einige Meter vom Hauptgebäude des Schlosses von Warthausen auf der Anhöhe vor einem steil abfallenden bewaldeten Hang abseits gelegen, über dem westlichen Ortsteil der Gemeinde Warthausen – die sich nördlich vier oder fünf Kilometer von Biberach entfernt im Tal der Riß (ein Bach eher als ein Flüßchen, der jedoch Geologen nicht ganz unbekannt sein sollte, gab er doch einem regionalen Erdzeitalter den Namen „Rißeiszeit“) nach dieser und jener Richtung nicht allzuweit ausbreitet – , unter und zwischen hochgewachsenen Bäumen, die im Sommer ihr Blätterwerk in diesem Bereich des ausgedehnten Anwesens ausspreizen und den Weg zum Turm beschatten, war ich zum ersten Mal Ende der siebziger Jahre, oder schon in ihrer Mitte, als U.G., jener, dem jenes Haus- und Hofgelände, in dem 1974 Freunde von mir wohnten, am oberen Ende des Bismarckrings neben dem Autohaus M. gehörte (zweifellos besitzt er es noch immer), im zweiten der beiden Stockwerke, in einem Raum mit quadratischem Grundriß, ein sommerlich-abendliches Fest ausrichtete, auf dem ich mich aber kaum länger als eine Stunde aufgehalten haben mochte. Ich trank nur ein Glas Rotwein, redete small talk mit beiläufigen Bekanntschaften und kümmerte mich nach einer Stunde darum, von jemandem mit Auto in die Stadt zurück mitgenommen zu werden. Zum zweiten und dritten Mal saß ich zwischen den beige-weiß getünchten Wänden, als Mario K. dort wohnte; Mitte der achtziger Jahre. Mario, mittelgroß, dunkelhaarig, mit einem schmalen ansprechenden Gesicht, damals noch von ein paar Zukunftsjahre von seinem vierzigsten Geburtstag getrennt, von zuweilen heftig reagierendem impulsiv-wilden Charakter, mütterlicherseits aus einer berühmten Familie mosaischen Glaubens, von der viele von den Nazis umgebracht worden waren, stammend, väterlicherseits von serbischem Blut, lebte im Wielandturm als Dichter und Angestellter derer von Koenig-Warthausen und führte Besucher, denen die Geschichte des Schlosses und Wielands Beziehung zum ihm etwas sagte und die einmal am Ort sich umsehen wollten, durch die Gänge, Hallen, Räume, ins Wielandzimmer. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts war der schon damals weithin berühmte Dichter, dessen Geburtsort Oberholzheim etliche Kilometer von Biberach entfernt im Oberschwäbischen ein beschauliches Dorf auch heute ist, nach dem Schulbesuch in Biberach und Magdeburg, nach Aufenthalt in Erfurt, Jurastudium in Tübingen und Gast im Hause von Bodmer in Zürich, wo er auch als Hauslehrer wirkte, Senator und Kanzleiverwalter in Biberach und begann 1761 mit seinen Besuchen bei Friedrich Graf von Stadion (einem Günstling des Fürstbischofs von Mainz) und Georg Michael von La Roche, dem Sekretär des Grafen, der seit 1754 mit Wielands erster Liebe Sophie La Roche verheiratet war, auf Schloß Warthausen, wohin er sich gern von der ungeliebten Verwaltungsarbeit im nicht immer dankbaren Biberach in ein eigenes Zimmer zurückziehen konnte und an den Lustbarkeiten eines kleinen Rokoko-Hofes teilnahm. 1769 verließ W. Biberach – „von Biberach erlöset zu sein, wäre Glückseligkeit ...“ – wegen einer Professur in Erfurt, 1772 berief Anna Amalia ihn an den Hof zu Weimar als Prinzenerzieher. Danach Freundschaft mit Goethe, Schiller, Herder etc.. etc., „Teutscher Merkur“, Romane, Erzählungen, Dichtungen.
1986 oder ein Jahr danach, als Klaus L. und ich Mario Katz auf einer Party von Jürgen K., dem Philosophen, zum ersten Mal begegneten (und wenn ich mich nicht irre, war mit ihm der schon sehr alte amerikanische Stummfilmschauspieler Norman P. auf der Party anwesend), war dieser ehemalige Wasserturm des Schlosses, der den Dichternamen trug, Marios Domizil. Das Dorf unterhalb des Schlosses lag nicht in tiefem Schnee, als Leupolz, Thomas G. und ich K. besuchten, sondern im hellsten Sommerlicht, das durch die Blätterdecke über dem Kiesweg funkelte, und wir kamen nicht spätabends, vielmehr spätnachmittags an. Jahre waren seit der Party von U.G. vergangen, aber ich entsann mich des Ambientes, das sich nun während Marios Anwesenheit freilich verändert hatte: Schreibtisch, Bett, kleine und große Schränke innerhalb der eingegrauten weißen Mauern, die vollgestopfte breite Bücherregalwände (mit einer Bücherleiter, denn die Bücherreihen reichten bis unter die Decke hinauf) nicht überall verdeckten, und Bücher lagen da und dort herum; im Raum im zweiten Stockwerk. Wein und Gläser standen auf dem Tisch, über Literatur und das Schloß wurde gesprochen, über Wieland.
- Haufenwolkenlandschaften unter der Ätherbläue. Fast noch heiß. Die Dämmerung ist von 20 Uhr an schon fast ganz dunkel.
5.9.2002

4
Sep

4.9.2002

Die Aufzeichnungen erreichen nun also, wie es mir gestern so unterlaufen ist, die späten siebziger Jahre, aber wir waren ja schon in den achtziger und neunziger. Zeit vergeht, und die zwei Tumoren in den Lymphknoten wachsen. In meinem Alter stirbt mann an Aids, nicht an Krebs. Aber lassen wir das. Oder auch nicht, denn die Furcht vor dem Virus, das keine Moral kennt, hielt mich seit zwanzig Jahren von sogenannten Abenteuern ab. „I live like a monk“, sagte Jean Démelier vor zehn Jahren zu Klaus L. und mir. Auch er war im Alter, das ich inzwischen erreicht habe, wohl auch ein erotisch reduzierter Mann. Ich will ihm das jedoch nicht unterstellen, folgere nur aus seinen verhaltenen Klagen über dieses nicht ganz unwichtige Thema. Die Zeit zwischen Sommer 1978 und Januar 1981 nenne ich für mich „die dunklen Jahre“, und als sie noch währten, empfand ich sie schon als solche. Mein Leben verfinsterte sich stärker, Resignation und Depression fochten mich an, ich zweifelte an meinem Schreibvermögen wie nie zuvor. Wenig Geld, noch weniger als in den Zeiten davor, mit einer ausgeprägten Affinität zum Alkohol (die noch lange andauern sollte), fünfzehntausend D-Mark Schulden, die mir der Status als Hauptmieter der Karpfengasse 24 eingebracht hatte, und Biberach, obzwar etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, war für mich in sexueller Hinsicht Flach- und Niemandsland. Die Nervenkrisen meiner Mutter gingen tiefer. An Flucht war zu denken, sie wahrzumachen unmöglich. Berlin, das war der Fluchtpunkt, von dem geredet werden konnte. Und warum diese Stadt? Keine andere deutsche Stadt konnte je mein Interesse auf sich so heranziehen wie diese, in der sich furchtbar Vergangenes ereignet hatte, in der aber längst das größte Freiheitsversprechen für Männer, die junge Männer mögen, etabliert war. Und Berlin interessierte mich immer auch wegen seiner Vergangenheiten. Schlesien war ja mal preußisch, und da ich sehr viel mehr von meiner Mutter als von meinem Erzeuger in mir habe, ist dieses Stück Unbewußtes womöglich in mir drin? Gibt es den Typus des Oberschwabenpreußen? In dem mehr Oberschwäbisches als Preußisches waltet? Aber Biberach/Riß, oder Biberach an der Riß, wie amtlich der Name lautet, hatte nicht allein an einem Frühlings- oder Spätsommernachmittags des Jahres 197... , der eine bestimmte, monatsbedingte Bewegung von Isothermen und Isotheren über unseren Kontinent brachte, vor, mich nicht so schnell ziehen zu lassen. Wie verwünschte ich an manchen Abenden, und mehr noch in den Nächten, die Enge des Städtchens und demzufolge sein mangelhaftes Angebot an hübschen Jungs! Es war ja nicht auszuhalten! Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, und ich will mich mit dem geschätzten Vers keinesfalls über „die Biberacher Situation“ lustig machen. Denn es gab einen Fluchtpunkt, der näher lag als die große Stadt und mir sehr vertraut war: das Kino.
- Nicht mehr gar so heiß, angenehme sommerhafte Wärme.
4.9.2002

3
Sep

3.9.2002

Im Frühjahr 1978 war ich schon sechsundzwanzig Jahre alt und die Frage „Wie geht es weiter?“ baute sich vor mir auf. Ich nahm sie nicht sonderlich ernst, überlegte mir jedoch, daß ich vielleicht etwas aus meinem schon vieljährigen Interesse für „Film“ machen könnte. Ich forderte mit einem Brief vom 26.10.1978 die Bewerbungsunterlagen der Filmhochschulen in München und Berlin an und mahnte sie, weil sie nicht kamen, am 1.1. und 24.1.1979 noch einmal an. Die Papiere trudelten endlich ein und ich „bearbeitete“ sie, fotografierte das Pissoir im „Alten Haus“; es war wohl irgendetwas Schwules, wofür dieses Pissoir in Biberach gar nicht geeignet war ... Eine Geschichte in zwanzig Fotos oder weniger entstand; die gefiel aber in München nicht und die Texte zu anderen Themen (insgesamt war da wohl auf vier „Themenschwerpunkte“ einzugehen) gerieten bestimmt auch nicht nach den Vorstellungen des dort auswählenden Gremiums. Im Juli kam die Ablehnung. Ich saß in meinem schmalen Zimmer in der Hermann-Volz-Straße und zuckte mit den Schultern. Dann nicht. Ich trank weiterhin Wein und Whisky und marschierte jeden Abend „in die Stadt“ hinunter, zum „Alten Haus“, dessen Namen sich von der grauen unansehnlichen Fassade herleitete, und stellte mich dort an den Tresen. Friedel, der noch junge Wirt, Ende Zwanzig, kannte mich als guten Gast. Fast alle, mit denen ich damals Umgang hatte, gingen inzwischen in diese Kneipe. Sie blieb mein Stammlokal bis 1982.
Irgendwann 1979 verlangte ich dann die Unterlagen der DFFB in Berlin, die wurden mir zwei Monate später zugeschickt. Die Themata, die in Berlin für zeitgenössische gehalten wurden, waren – ganz beendet waren die Siebziger noch nicht – gesellschaftskritisch getönt. Ich schrieb meine Meinung über Fassbinders „In einem Jahr mit dreizehn Monden“ auf ein paar Seiten und füllte auch alles andere aus. Ich würde diesen Text über den Fassbinder-Film nun gerne einfügen, finde ihn aber zur Stunde nicht. Stattdessen fällt mir ein Brief von H.J. Alpers vom 23.5.1979 in die Hände, in dem er auf meine Anfrage – die Verbindung zur den Science Fiction-Kritikern und -schreibern war noch nicht völlig abgerissen und blieb konstanter, als ich vor einigen Monaten zu wissen glaubte –, ob er mir in seiner Eigenschaft als Herausgeber für einen bestimmten Verlag Übersetzungsaufträge vermitteln könne, mitteilt, sein Mitarbeiterstamm reiche aus; „immerhin, wie der Zufall es will, habe ich gerade jetzt ein paar Stories, die SCHNELL übersetzt werden müssen. Ich sende Dir deshalb beiliegend: FOUND (Asimov), CHIMERA (Buckley), THE TAXMAN (Robinett) ....“ Ich machte mich an die Arbeit. Als ich damit fertig war – manche Zeilen hatte ich im Vorführraum des „Urania“-Kinos auf’s Papier gekritzelt – brachte mir der Postmann den ablehnenden Bescheid aus Berlin. „Irgendwann“, das schwor ich mir, „mache ich doch noch einen Film!“
- Das Hochdruckgebiet bleibt über Berlin.
3.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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