14
Jul

14.7.2002

Heute habe ich mit Herbert telefoniert. Er wohnt seit kurzem, nach fünfundzwanzig Jahren in Wien, in Klosterneuburg im Haus der Eltern seiner Lebensgefährtin Elisabeth. Beide besuchten Biberach Ende der achtziger Jahre, und H. komponierte 1996 Musikstücke für den Film von Valérie und mir und kam für Film- und Tonaufnahmen, aber nicht nur für sie, im selben Jahr zum zweiten Mal nach seinem Wegzug Ende Dezember 1976 nach B.; auf einem schönen Flügel spielte er, obwohl er sich zunächst geweigert hatte, „die Finger sind nicht mehr so gelenkig“, stundenlang im Saal der Jugendmusikschule, auch Bruno-Frey-Schule genannt, in seinem alten Stil. D., der Redakteur der Zeitung, der hier schon in anderen Zusammenhängen vorgetreten ist, habe, wie wiederum Manfred mir berichtete, denn ich hatte im Kino meine Arbeit zu tun, fasziniert zugehört, nachdem er zwecks Berichterstattung über die Produktion unseres Film gekommen war. Er war der Kunstredakteur der Stadt. Aus fadenscheinigem Grund wurde er in diesem Frühjahr 2002 von heute auf morgen gechasst, nach zweiunddreißig Redakteursjahren gefeuert, „freigestellt“, wie es vornehmer heißt. Er kannte Herbert noch aus dessen Schriftsetzerarbeit hinten im Gebäude der Zeitung am Marktplatz; hatte er damals gewußt, daß ein vorzüglicher piano player ein Stockwerk unter ihm seine Artikel mit den winzigen Bleibuchstaben setzte? Auch die Tastatur der Setzmaschine war für Herbert, der dann so manchen Tipp- oder Rechtschreibfehler eines Redakteurs noch beiläufig verbesserte, eine Art Klaviatur. „Ich bin Ende Mai erst in das kleine Zimmer gezogen“, hat er in unserem Telefonat über die Karpfengasse 24 gesagt, „denn Elian war noch bis Herbst vierundsiebzig im großen.“ Das waren die beiden Zimmer, in denen ich dann wohnte. „Elian hat im Sommer vierundsiebzig noch zu einem großen chinesischen Essen eingeladen, zu dem ihre Eltern und die Eltern von Charles kamen, und Karin, den Nachnamen weiß ich nicht mehr, tauchte plötzlich splitternackt im Zimmer auf ...“ Er hat gelacht. Ich habe ihm den Nachnamen gesagt, den ich hier nicht einmal mit einer Initiale anführe, denn die etwa vierundzwanzigjährige K. war geistig nicht immer up to date. „Bei diesem Essen warst du auch dabei“, hat Herbert gesagt. „Daran kann ich mich nicht erinnern“, habe ich gesagt, „auch nicht an den Auftritt unserer Mitbewohnerin, war vermutlich zu besoffen.“
- Regnerisch trüb, feiner Regen schnürte herunter, dabei war es unangenehm feucht-warm.
14.7.2002

13
Jul

13.7.2002

Im Frühling von 1973 hatte ich Herbert im „Strauß“ kennengelernt. Mit seiner damaligen Freundin habe er, so erzählte mir Manfred eines Tages in den Jahrzehnten, die wir befreundet sind, am Nebentisch im „Strauß“ unbeabsichtigt zugehört, wie Falk zu jemandem – bestimmt nicht zu mir – etwas über einen Film gesagt habe, was Herbert geärgert habe, und deshalb habe er sich umgedreht und Falk seine Meinung über dessen Meinung zu verstehen gegeben. So seien diese beiden miteinander ins Gespräch geraten, Herbert seit diesem Moment zum Freundeskreis gestoßen, und wie es sich dann ergeben hatte, war er auch mir kein Unbekannter mehr geblieben. Er trug gerne eine alte dunkelgrüne, alligatorgrüne, Lederjacke, für die allerdings sicherlich keines dieser Reptilien sein Leben hatte hergeben müssen. Seine sehr dunklen Haare trug er sehr lang, sie fielen weit über die Jackenschultern herab. Ein Vollbart zierte das ausdrucksstarke Gesicht. Modische Stiefel unter meistens dunkelgrünen Hosen vervollständigten sein insgesamt ein wenig düsteres Erscheinungsbild; Charakter und Bewußtsein entsprachen dieser äußerlichen Tarnung jedoch überhaupt nicht, er war lebhaft, musisch, literarisch auf der Höhe der Zeit und in seinen Ansichten klar und bestimmt. Später – diese Zeitbestimmung wird noch öfter hier seine vage Funktion haben – wies er mich auf Ernst Jandl hin, und auf Leo Navratil, der in Wien Schreibtherapien für psychisch erkrankte Menschen unternahm; sehr viel später, und dieses Mal kann ich den Zeitraum, in dem dies „später“ sich ausbreitete, genau mit den Jahren 1994 bis 1998 angeben, ergab es sich in Biberach, daß ich, nachdem ich erste Texte von drei Schreibenden aus dem Umkreis einer psychosozialen Begegnungsstätte gelesen hatte, mich für solche Texte zu interessieren begann; eine fast monatlich sich treffende Gruppe entstand dann, die, nach gewisser Konsolidierung und Bearbeitung der Texte, auch öffentliche Lesungen stattfinden lassen konnte. Das lag ungekannt in den unbekannten Jahren einer Zukunft, als ich mit Herbert und den anderen oft im „Strauß“ und „Rebstock“ saß, Trollinger-Wein schlürfte und das exzellente warme Käsbrot mit Ei eben im „Rebstock“ verzehrte, die Spezialität des Hauses, die mit Silberbesteck zu sich genommen wurde, die Lena, die ältere Schwester der Wirtin Frau Tina Baur, in der Küche hinter dem kleinen Tresen zubereitet hatte. Auch das Käsbrot im „Rebstock“, gibt es in Biberach an der Riß schon lange nicht mehr, liegt mir nur noch als kulinarische Geschmackserinnerung auf der Zunge und wird wohl noch eine, wenn nicht mehrere „Rebstock“-Evokationen in mir aufsteigen lassen.
- Vormittagssonnig und sehr warm, nachmittags zog der Himmel sich zu, es blieb schwül.
13.7.2002

12
Jul

12.7.2002

Wie gern erinnere ich mich jener späten Abende im Frühjahr und Sommer 1975, in denen ich in Herberts Zimmer in der Karpfengasse 24 saß, im hinteren Teil (in dem drei Jahre später mein altes, von Guglielmo S. stammendes Messingbett stehen sollte), ein Glas Rot- oder Weißwein in der Hand, und versonnen den Pianosequenzen, die Herbert durch den spärlich beleuchteten Raum schweben ließ, lauschte, und Bernd H. spielte Improvisationen dazu auf seiner im Schein einer Kerze, deren gelbe Blüte auf dem schwarzen Piano ihren friedlichen Schimmer aussandte, ab und zu matt blinkenden silberfarbenen Querflöte. Herbert, inspiriert von der Musik Keith Jarretts, die er in bedingungsloser Weise verehrte, näherte sich dann oft dem Stil des Meisters so, daß nicht nur ich, sondern andere auch, die, aber sporadisch nur, ebenfalls den nächtlichen Genuß dieses freien Spiels erfuhren, erstaunt insgeheim fragten, ob das, was wir hörten, nicht doch „Jarrett“ war, so kongenial fühlte unser schwarzlanghaariger Freund sich in die Atmosphären des Amerikaners ein. Schöne Tage, schöne Abende, die zu den eindringlichsten und entspanntesten meiner siebziger Jahre gehörten. Wir waren ja eine sehr musikalische Clique, fast jeder meiner Freunde, die von 1973 bis 1978 zu denen der politischen Gruppenbildung hinzukamen, beherrschte ein Instrument, sei es das Klavier, die Querflöte, das Schlagzeug oder die E- und Akustikgitarre, den Elektrobaß, und die Gesangsstimme, die ein Instrument zu nennen so ganz falsch nicht sein dürfte. Herbert und Bernd faßten ihr Klavier- und Flötenspiel aber nie als etwas anderes als ein erfreuliches Hobby für dann und wann auf, wie auch Bernie Herskovits, ein ebenfalls sehr begabter junger Pianist, der bei Emma K., einer weltbekannten Pianistin aus Prag, Unterricht nahm, aber eher Jazz spielte und sich von McCoy Tyner beeinflußt erklärte (und in späteren Jahren einige Zeit in Rio und Sao Paulo als Barpianist arbeitete). Fast alle diese jungen Männer befanden sich eher noch in ihrer Lern- und Lehrzeit; einer von ihnen, soviel ich noch von ihnen weiß, Markus M., ist heute leader of the gang, Haupt einer professionellen Latin-Funk-Jazzband, die als „Latin Love Affair“ CDs produziert und mit der Sängerin jener Cuba-Band, die mit Wim Wenders‘ Film „Buena Vista Social Club“ berühmt wurde, zusammen arbeitet. Alle, die ich aus der lokalen Musikszene kannte, die in Biberach und Umgebung Konzerte gaben, ergriffen dann „solide“ Berufe; Caesu, der Musikalienhändler des „Sound Circus“, in der Engelgasse, gegenüber dem stattlichen Haus aus spätmittelalterlicher Zeit, in dem Klaus Leupolz aufwuchs und, nach seinen Reisen in den fünfziger und sechziger Jahren zurückgekommen, und auch danach, bis in die Achtziger, wohnte, gelegen, spielt, wenn die Geschäfte des „Ladens“ es erlauben oder erfordern, wohl manchmal in diesen Jahren noch seinen Baß; oder er mixt den Sound, wie – ich entnahm die Information der weberberg.de-Website – kürzlich beim traditionell gewordenen „Tanz auf dem Marktplatz“ am „Schützensonntag“-Abend. – Wenn diese Freunde spielten, solo oder in Compagnie, Jazz, unsere Hausmusik der Siebziger, zeigte mir mein Freundeskreis auf die stimmungsvollste Art und Weise, daß ich Gründe für die Empfindung hatte, mich in Biberach – vielleicht weil ich schon in Stuttgart ein Studium aufgenommen hatte – gar nicht so sehr am falschen Ort zu befinden.
- Heiß, oder eher sehr warm, eine kleine Schwüle in der Luft, Verschattungen, die das Scheinen milderten.
12.7.2002

10
Jul

10.7.2002

Am Abend des 29. Juni 1997 fuhr ich nach Köln und kam dort in der frühen Nacht an, bezog in einem unwichtigen Hotel in einer schmalen Straße vor dem Bahnhof ein Zimmerchen und legte mich, ein völlig ungewohnter Vorgang, in das Hotelbett. Am Sonntag vormittag nahm ich an einem Seitentisch im Frühstücksraum einen Happen zu mir und machte mich dann auf, das Haus von Prof. Dr. Speck in Köln-Lindenthal zu finden, wo die Matinée der Marcel Proust Gesellschaft stattfand. Ich nahm die U-Bahn und fuhr dann über zwei oder drei Stationen mit der Straßenbahn und fand die Gegend, dank des Stadtplans, den ich mir Tage zuvor in Biberach gekauft hatte, auch ohne Zeitverlust oder suchendem Umherirren, ja, ich hatte bis zum Beginn, 11 Uhr, dieser festlich-alljährlichen Zusammenkunft der Proustianer noch genügend Minuten vor mir, die ich dazu nutzte, in der bewaldeten Umgebung des Anwesens des Professors Speck ein wenig herum zu spazieren. Schließlich schritt ich gemächlich zurück und verzögerte, je näher ich dem Haus, das mir von der Straße aus eine schöne Villa zu sein schien, kam, das Gehen, in der Hoffnung, andere Eingeladene kämen nun allmählich heran und zeigten mir sozusagen, wo und wie das Haus zu betreten wäre. Und so geschah es. Zwei Damen näherten sich und betraten das von einer Hecke abgezäunte Areal des nicht sehr breiten Vorgartens und klingelten an der stilvollen Haustür. Diese wurde geöffnet, den Damen und mir hinter ihnen wurde freundlich Einlaß gewährt, ich betrat einen Flur, an dessen Wand ich ein Bild von Sigmar Polke hängen sah. Ich wußte, daß der Hausherr ein bekannter Sammler von Werken Joseph Beuys‘ war, und ist, wie ich annehmen kann; diesen Polke so selbstverständlich uninszeniert an der dunklen Wand zu sehen war nun ein Anblick, der mir eine Einsicht in eine mir nicht eben sehr vertraute Art von Alltäglichkeit und Lebensführung gestattete. Ich ging einige Schritte ins Haus hinein und fand mich in einer Bibliothek von annähernd quadratischem Grundriß, in der zwei schwere dunkle Ledersessel im Bauhausstil monolithisch ruhten, wieder, und drei Wände und eine Zwischenwand, die vor einer Tür zum weitläufigen Garten, der durch das Fenster einer anderen Wand einzusehen war, sie vom Raum der Bücher ein wenig abtrennend, in den Raum hinein stand, waren von Büchern bedeckt; Proust-Ausgaben in verschiedenen Ausstattungen, aus den zahlreichsten Ländern; und eine Petrarca-Sammlung, die ihresgleichen zu finden wohl größere Schwierigkeiten gehabt hätte. Ich verharrte fasziniert vor den Proust-Büchern; stand da nicht auch eine chinesische Ausgabe? Welchen Eindruck mochte Swann bei den Lesern, die die Große Proletarische Kulturrevolution erfahren hatten, hinterlassen haben? Professor Speck kam – bevor ich die Bücherwände inspizierte (so darf man wohl im Haus eines Mediziners schreiben) – schnellen Schritts herein, begrüßte die beiden Damen und mich, sagte, er habe noch eine kleine Weile etwas zu tun, man möge sich ganz nach Belieben ergehen; ein Mann mit einer kraftvollen Ausstrahlung. Stetig trafen nun Gäste ein; in elegantem Habitus; gruppierten sich im Garten, in dem weiße Zelte im Rasen unter den Wipfeln der den Garten umstehenden Bäume aufgespannt worden waren. In einem Seitentrakt durften Getränke – Wein, Saft – entgegengenommen werden. Ich holte mir ein Glas Orangensaft, ging langsam zwischen den Anwesenden herum, von denen mir vermutlich etliche als Namen auf Büchern und in Zeitungen und Zeitschriften bekannt waren, aber diese Namen konnte ich natürlich den Gesichtern nicht zuordnen; Publizisten, Kritiker, Verleger, versierte Kenner und Liebhaber des Proustschen Oeuvres sie alle. Fast fühlte ich mich, in solcher Gesellschaft, wie auf einer der Matinéen im Pariser Kosmos des Schriftstellers. Man nahm dann, an die hundert, wenn nicht mehr, Personen, Damen, Herren, in mittlerem Alter die meisten, Platz auf seitlich der Gartenfront des Hauses aufgestellten Stühlen; es wurde mit den Vorträgen zu Aspekten von Prousts Werk begonnen: „Proust hört Debussy am Théatrophone“, „Madame Proust, ein pathogene Mutter?“; und andere, auf die ich in dieser Minute in den „Proustiana XX“, dem Mitteilungsblatt der Marcel Proust Gesellschaft e.V., blicke. Nach den Vorträgen der Lunch: Shrimpssuppe mit Baguettebrot, dazu wurde Weißwein getrunken. Ich trank O-Saft. Der Nachmittag wurde wärmer, sonniger, die Proustianer unterhielten sich, viele auf dem Rasen, unter den Zeltdächern sitzend. Auch ich setzte mich in eine der provisorischen luftigen Hütten. Klaviermusik aus Prousts Jahren perlte aus den geöffneten Fenstern des oberen Stockwerks der Villa. Die ganze Atmosphäre war sehr stimmungsvoll. Wieder las ein Herr, unter den Bäumen, einen Vortrag zur „Recherche“. Dann war es an einem anderen Teilnehmer in einer anderen Ecke des Gartens, seine Erkenntnisse vorzulegen. Dann regnete es ein bißchen. Danach zog ich mich zum Haus zurück; ich dachte an Abreise, mein Zug fuhr am frühen Abend. Professor Dr. Speck kam in seine Bibliothek, in der ich vor den Vorträgen schon in einem Bildband zu Kafkas Leben gelesen und geblättert hatte, in der ich nun wieder, die Nähe der Bücher suchend, stand, und ich ergriff die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden, mich für den sehr anregenden Tag zu bedanken und ihm eine Kassette des Videofilms, den V. L. und ich und das Team ein Jahr zuvor gedreht hatten, zu überreichen; weil er doch auch das Thema des Erinnerns bebilderte ..., und in ihm auch der Satz: „Es war die Zeit der Bücher mit den langen Sätzen ...“ gesprochen, aber im inneren Monolog nur, wurde, und Prousts Sätze waren damit natürlich gemeint gewesen; aber vielleicht war es auch keine gute Idee gewesen, die Kassette nach Köln mitzunehmen. Speck schrieb sich meine Adresse noch einmal auf. Ich verließ das Haus, fuhr mit der Tram zur nächsten U-Bahn-Station, zum Bahnhof, holte mein Köfferchen aus dem Schließfach, das ich am Vormittag dort deponiert hatte, stellte mich auf den Bahnsteig, fuhr dann ab. Im Zug sprach mich eine halbe Stunde später jemand an: ich sei doch auch auf der Matinée der Proust-Gesellschaft gewesen! Ich erinnerte mich an den Mann mit längeren Haaren, auch er hatte, auf der Terrasse, am Nachmittag etwas verloren in der noblen Gästeschar gewirkt. Er war, wie sich im Gespräch herausstellte, Maler, lebte in der Nähe von Freiburg, der Professor Speck habe ihn, wohl eher in seiner Eigenschaft als Kunstsammler, eingeladen. Hatte er auch etwas von diesem Maler gekauft? Ich weiß es nicht mehr. Wir unterhielten uns, bis der Zug in Mannheim einfuhr. Wir tauschten Adressen. Ich stieg aus, er fuhr weiter. Der Zug, der von Mannheim nach Ulm fahren sollte, hatte, wie die Lautsprecherdurchsage mitteilte, Verspätung. Ich telefonierte mit einer Telefonkarte vom Bahnsteig aus nach Biberach. Rief Sabine R. an, ob sie mich spätabends am Ulmer Hauptbahnhof abholen könne, den letzten Anschlußzug nach Biberach könne ich nicht mehr erreichen. Sie sagte zu. Ich bestieg den Zug nach Stuttgart und Ulm, Weiterfahrt nach München. Um halb zwölf Uhr nachts wartete ich vor dem Ulmer Bahnhof auf Sabine. Der weiße Lieferwagen von „Elle“, wie der Weinladen in der Bergerhauser Straße in Biberach nach dem Spitznamen ihres Lebensgefährten heißt, fuhr aus der Nacht heran. Ich krabbelte hinein.
- Bis abends sehr heiß. Nach 20.30 Uhr Unwetter, orkanartiger Sturm. Die Bäume vor den Fenstern verneigten sich sehr tief. Regengüsse. Sirenen hallten in der Nacht.
10.7.2002

8
Jul

8.7.2002

Schon am Nachmittag des Montags nach der „Schützenwoche“ – ich ging dann gern von der Innenstadt über den Gigelberg nachhause – lag der „Berg“ nun in einer unwirklich erscheinenden Leere vor mir. In der Nacht noch, nach 24 Uhr, hatten die Schausteller ihre gar nicht so kleine Geisterbahn, Dreh- und Schaukelkarusselle, Autoscooterbahn, das Riesenrad und die Schieß- und anderen Verlustigungsbuden abgebaut und in Lastern verstaut und zum nächsten Volksfest im Ländle abgefahren. Ich habe noch einige unklare Geräusche im Ohr, die von den Abbauarbeiten vom nächtlichen Gigelberg, von dem keine Schlagermusik mehr herüberwehte, durch das nachts im Sommer manchmal ein wenig halb geöffnete Schlafzimmerfenster an mein Bett klangen; kurze, metallisch klingende Geräusche, die, mal regelmäßig, häufiger in unregelmäßigen Abständen, auch eine Art zartes Sommernachtszirpen waren, bevor ich in meine Sommernachtsträume Einlaß fand. – Ich spazierte geruhsam über die wie zurückgelassen wirkende leere Weite des Gigelbergs, und aus meiner ein Tag und eine Nacht alten Erinnerung errichtete ich all diese Aufbauten und Buden mir wieder; „da ist das Kasperletheater gestanden“, flüsterte ich mir zu, „dort das Riesenrad, das Knusperhäuschen, wo ich die Tüte Magenbrot gekauft habe, da vorn“; so imaginierte ich mir die trubeligen, lauten, von bunter Fahrt im Kreis und den unzählig ineinander verschlungenen Geh-Wegen der leicht bekleideten „Berg“-Gänger, deren Linien wie Pinselstriche in den vielfältigsten Farben eines großen abstrakten Bildes über den grauen Asphalt der unbehausten Flächen miteinander verflochten schienen, belebten Tage der vergangenen Woche zurück. Gesenkten Kopfes schritt ich über den Platz, doch nicht betrübt, sondern, der Blick wanderte über Asphalt und Kies, Münzen suchend, Geldstücke, die in Eile oder aus Nachlässigkeit zwischen die Steinchen gefallen waren, dem ehemaligen Besitzer in der Sekunde des Geldbeutelöffnens oder -schließens aus den Fingern gefallen waren oder auf andere Weise, auch einem der Budenbesitzer vielleicht, abhanden gekommen waren. In den Sechzigern fand ich bei diesem nachschützenfestlichen Streifzug über den „Berg“, bei dem mir kaum einmal jemand begegnete (denn vor und nach „Schützen“ liegt die flache Anhöhe fast parkähnlich still), jedesmal Zehn-pfennig-, Fünfzigpfennig-, Ein- und sogar Zweimarkmünzen, die schmutzig mattgelb und -silbern zwischen den Steinen und dem Unkrautgras einem forschenden Auge entgegenschimmerten. Es kam schon vor, daß ich nach diesem Weg, zum Haus am Lindele, für den ich mir Zeit ließ, um drei Mark reicher war. Das war dann auch noch eine Nach-Schützenfreude.
- Die Stadt glühte in der Hochsommerhitze.
8.7.2002

7
Jul

7.7.2002

1964. – Ich sitze auf der Toilette der Lindelestraßenwohnung, durch das geöffnete hoch-schmale Fenster, die Juliwärme quillt herein, tönt Conny Francis‘ Schlager „Heißer Sand, und ein verlorenes Glück ....“, und ein Leben oder eine Liebe in Gefahr, oder so ähnlich singt sie weiter. (In dieser Zeit gewöhne ich mir an, auf dem Schüsselrand nicht zu sitzen, sondern in einer gleichsam arschschwebenden Hockestellung über ihm zu defäzieren; es scheint mir hygienischer zu sein. Inzwischen sitze ich wieder.) Später gehe ich aus dem Haus. Alle Gehwege, Straßen, auch die dreieckige Grünfläche mit den Linden neben dem Lindelestraßengrundstück, dort, wo die Gartenstraßen in die zum Lindele hinauf verlaufende Straße einmündet, sind mit VWs. Opels, einem Borgward, Mercedes-Benzen (wenige), NSU-Automobilen, Autos noch anderer Fabrikate zugeparkt, in den süßlichen Duft der Lindenblüten mischt sich der Benzingeruch, der den PKWs, ihren Motorhauben, als technischer Blechkörpergeruch der Wirtschaftswunderjahre entweicht. Vom „Berg“ – der Gigelberg heißt in der Woche des Schützenfestes nur „Berg“ – herüber beklagt schon wieder Conny F. ihr verlorenes Glück; ich gehe den Weg zur Gaistentalstraße hinab, befühle die Markstücke in der Hosentasche – ich habe die Uniform aus- und eine lange Hose angezogen, auch das Hemd gewechselt – die ich in Kürze auszugeben gedenke, auch die Getränke- und Essensgutscheine, die von gestern noch übrig geblieben sind. Ich überquere die Straße, betrete das Wäldchen, das als grüner Streifen die Straße bis hinunter zum Bismarckring begleitet, gehe den schmalen, in einer sanften S-Kurve gewundenen Weg zum „Berg“ hinauf, komme dort auf das Ende der Jahnstraße. Links erstreckt sich der vordere (vom Lindele aus gesehen) Teil des Gigelbergs, nun ist er mit den Buden und Großgeräten der Schausteller voll gestellt, mit den für „Schütza“ so vertrauten „Volksbelustigungen“; ein ohrenbetäubender Lärm, Mikrofonansagen, Klingeln, Schreien, Fahrgeräusche vom „Schnee-Express“ und Autoscooter-Halle, Tuten, Tröten, Menschengemurmel – eine Kakophonie des Vergnügens und des Rummels schlägt auf meine Trommelfelle. In der heißen Luft der Duft von gerösteten Mandeln und Wurstbraterei, der von einem schwachen Wind verteilt wird. Auch der Asphalt riecht ganz typisch nach Sommer. Ich tauche ein in das flirrende Gewimmel, strolche hin und her, vom vorderen Gigelberg zum hinteren, wo das breite Bierzelt steht; entlang des Weges, der zwischen diesem großen Platz (auf der anderen Seite liegt eine rote Hundert-Meter-Sprintbahn) und dem mit hohen Bäumen, deren Wipfel sich zu einem Dachgeflecht zusammenfinden, bestandenen Gelände, auf das das „Zeltlager der Schweden“ und der „Kaiserlichen“ aufgestellt ist, liegt, stehen Bratereien, Glückwurfbuden, Süßwarenstände. Ich kehre um, schlendere am Kasperle-Theater vorbei, wo eben wieder der brave schlaue Kasper mit seiner breiten Klatsche die bösen Buben haut, das jüngere Kindervolk (ich bin ja schon zwölf) kreischt begeistert auf seinen Bänken vor der Puppenspielerbude aus stimmgewaltigen Hälsen; ich gehe zum Almdudler-Stand und kaufe mit einem Gutschein eine dieser bauchigen Limonadenflaschen, aus denen mit einem Strohhalm das klebrig-süße Gesöff genuckelt wird; wandere weiter, dahin, wo zwischen Karussell und Schiffsschaukeln der Lukas gehauen wird: starke Männer, oder solche, die ihre Körperkräfte ihren Freundinnen – oder ihrem „Schützenschatz“, eine biberacherische Sonderheit des Körperkontakts – beweisen müssen, packen einen unförmigen Holzhammer zwischen die Fäuste (in die sie zuvor demonstrativ gespuckt haben), schwingen ihn über ihre Köpfe, schlagen damit auf einen Metallstumpen, der aus einer Metallfläche ragt, und auf der Anzeigentafel in Gestalt eines hutgeschmückten Mannsbilds, dem Lukas, schnellt ein Metallteil in die Höhe, und hat der, der den Lukas nun gehauen hat, gute Kraft gehabt, dann schlägt dieses Teil oben an, ein lautes „Bing!“ zeigt den höchsten Wert an. Die Umstehenden murmeln beifällig, der Schützenschatz lacht und klatscht belustigt. Mit geschwellter Brust stolziert das echte Mannsbild samt Schatz von dannen. An der Autoscooter-Bahn, in der die „Boxautos“ ihre engen Kreise ziehen, verharre ich eine Weile, dann wird mir dieser Anblick langweilig, ich sehe, auf der rechten Seite des Platzes, noch beim Fotoschießen zu; dann, es ist schlichtweg zu heiß, trolle ich mich nachhause und bin fünf Minuten später im kühlen Wohnzimmer. Meine Mutter ist irgendwo in der Stadt mit ihren Freundinnen unterwegs; es ist „Schützendienstag“. Ich lege mich auf die Coach und döse eine halbe Stunde. Zwei Stunden später muß ich für’s „Abtrommeln“ die blau-gelbe Uniform anlegen. In voller Montur gehe ich wieder über den „Berg“, wir Schützentrommler – und nun schreiben alle Sekretärinnen plötzlich, aber nicht an diesem Tag, denn sie haben alle frei, „1966“ auf die Briefbögen – und wir vom Trommlercorps der „Kleinen Schützenmusik“ im andersbunten Kostüm warten vor der Gigelberghalle, bis wir vollzählig sind und es achtzehn Uhr schlägt (und die Kanone drüben hinter dem Lager aus dem 17. Jahrhundert feuert zur Bestätigung ihre Stundenböller ab). Der Tambour reckt seinen Stab in die milde Abendluft, zeigt mit der linken Hand den Marsch an, die Pfeifer lassen ihre schrillen Töne los, wir Trommler setzen – rumms! – den ersten Schlag auf das wohlgespannte Fell der Trommel, wir marschieren trommelnd und pfeifend den „Berg“ hinunter. Andere Trommlergruppen folgen zur Stadtmitte, in dem der Zug endet. Das „Abtrommeln“ beschließt offiziell die „Haupttage“ des Schützenfestes; was folgt, dient allem Volk zu sinnfreiem Amüsement. (Und die spitzen Reste der Attribute dazu glitzern am Morgen danach in manchen Straßen und Gassen.)
- Der Himmel oft bedeckt, unschlüssig versuchte das pralle Licht dieser Sonne durch die Wolkenschicht zu dringen, meistens erfolglos. Dabei war es warm, doch ein Wind kühlte die Luft, deutlich zu spüren, wenn die Wolken dichter und grauer wurden. Am Nachmittag ein zögerndes Regentröpfchen. Einigermaßen undefinierbare Witterung.
7.7.2002

6
Jul

6.7.2002

Am Schützenmontag im Jahr 1984 hatte ich meinen üblichen freien Montag. Ich sitze am frühen Abend schon im „Storchen“ in der Ehinger-Tor-Straße, der letzten Freakkneipe der Stadt; und was sich Freak genannt hat in den vergangenen zehn Jahren, ist nun auch nicht mehr original präsent. Die jungen Langhaarigen sind weniger geworden, die Kurzhaarigen mehr, gekifft wird deswegen wohl noch mehr als früher. Ich kiffe aber nicht, ich trinke. Rotwein wie immer, so auch an diesem Abend, in dem hier, in dieser Kneipe in der verwinkelten Altstadt – in zwei alten, hohen Räumen, die einmal eine gutbürgerliche Gastwirtschaft beherbergt hat, sitzen vom Fünf-zehnjährigen bis zum Mittfünfziger die nicht oder nicht mehr oder noch nicht so Stromlinienförmigen, Schüler, Künstler, Filmvorführer, an schlichten großen Tischen – vom Schützenfest gar nichts zu hören und zu sehen ist. Ich sitze beim zweiten Viertele Württemberger, mit zwei Bekannten, die ich – in diesem Präsens, das dieser Parenthese folgt – jetzt nicht identifizieren kann; sie sind also nur Bekannte, keine Freunde? Till kommt herein, aber nicht auf der Suche nach mir, was ich weiß, als er sich, da ich nun einmal hier hocke, an den Tisch dazusetzt. Ich freue mich, ich weiß aber, daß die Freude sich jetzt schon verflüchtigt und der Enttäuschung ihren Raum überläßt, denn Till ist mir gegenüber zurückhaltend, wie stets, wenn wir in Gesellschaft von anderen sind. Ärger steigt in mir auf, als er dann sagte, er ginge weiter, hinauf zum „Schwanenkeller“; war in den Siebzigern die Hochburg (am nördlichen Gigelberghang) der Freaks, auch 1984 ist dieses Flair und Ambiente, wenigstens an „Schützen“, nicht völlig verduftet. Ich weiß, ich kenne solche Situationen, er würde es nicht schätzen, wenn ich mitginge. Ich versuche cool zu bleiben – „cool“ kam allmählich überall in Mode – und mache den Gleichgültigen, fühle mich aber wieder verletzt; Till geht, ich trinke vorerst hier weiter. –
Am späteren Abend bin ich zum „Alten Haus“ in der Kolpingstraße vorgedrungen, dort bleibe ich. Mein Alkoholspiegel ist angestiegen, aber ich vertrage viel. Übung machte mich darin zum Meister. Nun bestelle ich aber „Achtele“ Rotwein, im versuchten Selbstbetrug der Selbstkontrolle, der ja nicht sehr gut funktioniert, denn ich bestelle eben statt eines Vierteles zwei Achtelliter, die nacheinander, obwohl das Trinken dadurch doch eine Verzögerung oder eher Ausdehnung erhält. Ich merke an mir, wirklich nicht zum ersten Mal, wie der mit immer noch einem Glas geförderte kalte Trunkenheitszustand, in dem ich sehr klare Gedanken habe, die vom Innendruck der Frustration gehärtet werden, mich langsam vom schmutzigen Kneipenboden hebt, unsichtbar, nur mir bekannt, nur um ein paar Millimeter, und diese Elevation hat nichts mit Unsicherheitsgefühl oder gar einem Schwanken, einem äußeren nicht und nicht einem inneren, an sich; je länger die Nacht wird, in der in der Kneipe und vor ihr auf dem Bürgersteig und der Straße sich eine dichte Menschenansammlung zusammenballt, die einen dunklen Sound hervorbringt, den die Songs und Musikstücke aus der lauten Plattenanlage – „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert ...“ – nur mühsam übertönen; dieser innere Zustand geht allmählich in eine zunehmende aggressive Entschlossenheit über. Bekannte kommen und gehen, ich rede mit ihnen, sie ziehen weiter, ich bleibe, zahle zwischendurch meine Zeche, lasse dann, meiner Bequemlichkeit und der des Barmanns zuliebe, anschreiben, vier, sechs, acht, zehn Achtele. Ich rede immer artikuliert, deutlich, führe meine Gesprächsgedanken in einer logisch stringenden Reihe. Irgendwann entdecke ich auf einer Bank hinter den Tischen an der Wand des Lokals einen jungen Typ mit fahlblonden Haaren; er sieht nicht besonders gut aus, aber irgendetwas an ihm reizt mich, ich nehme mein kleines Rotweinglas und setze mich neben ihn, spreche ihn mit irgendwelchen Worten, mit Kneipengerede, auf das es nicht ankommt, an, er läßt sich darauf ein. Gehören die Leute auf de anderen Seite des Tischs zu ihm? Mir ist das egal, ich beginne seinen Rücken, den Hemdrücken, zu streicheln und zu reiben, in dieser mit Heterosexuellen überfüllten Kneipe. Er läßt es sich gefallen. Ich bin darüber nicht erstaunt; das erstaunt mich etwas, in einer Ecke des Bewußtseins. Es ist weit nach Mitternacht. Der Rumor im Haus und vor ihm schwillt nie ab. Mir ist auch etwas geschwollen, ich versuche diesen jungen Mann, der, wie sich herausgestellt hat, aus bäuerlicher Umgebung kommt, davon zu überzeugen, daß wir zu mir gehen könnten. „Zu mir“, das bedeutet im Sommer 1984 nicht mehr das Kinozimmerchen im Dachgeschoß des „Urania“-Gebäudes, das ich, nach drei Jahren, im März räumte, sondern die Wohnung auf dem Hühnerfeld, in der meine Mutter lebte. Im Sommer 1984 ist sie seit einem halben Jahr tot. Diese Wohnung ist jetzt meine. Der Typ schüttelt geduldig nur den Kopf, erhebt sich aber nicht von meiner Seite, ich streichle ab und zu den Rücken, er sitzt ruhig am Tisch, redet wenig. Es muß ihm gefallen, was ich da treibe. Ich will es mit ihm treiben, er schüttelt den Kopf, sitzt nur gelassen neben mir. Irgendwann steht er dann doch auf und geht; zusammen mit zwei anderen. Also doch. Die mußten doch gesehen haben, was ich tat. Und rührten sich nicht. Mir ist wohl bekannt, daß es auch auf dem Land Schwule gibt. Ich bin bei meinem zwölften Achtele und noch immer nicht richtig betrunken. Ich bin ausgepolstert mit kalter Wut. Zebo, ein Bekannter aus Münster, Hauchler-Schüler, setzt sich für einige Minuten zu mir. „KD, deine Augen ...“ Ich war übermüdet und doch hellwach, in der Zwischenstimmung von Schlafenwollen und unbedingtem Erlebnisdrang, der einen immer weiter durch die Nacht treibt, dem Morgendämmer entgegen. Als er mit dünnem Sonnenlicht durch die offenen Kneipenfenster hereinhuschte, hatte ich einem anderen, unscheinbaren Typ, der mit zwei anderen an einem anderen Tisch gesessen hatte, schon seine künstliche wollige Hasenpfote, seinen Talismann, abgenommen, und machte ihm klar, daß er sie auf keinen Fall wieder zurückbekommen würde. Ich sprühte vor Aggressivität, die sich aber ganz ruhig vermittelte. Er wagte es nicht, handgreiflich zu werden, seine Begleiter ebensowenig. Ich wanderte ein bißchen vor dem Tresen herum, an dem Stehplätze sozusagen auffielen, und antwortete auf Bitten des jungen Mannes, ihm doch seine Hasenpfote zu geben nur mit gelassenem „Nein“. Jeden, der sich mit mir hätte anlegen wollen hätte ich, kalt überlegt, niedergeschlagen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Es war diese Rücksichtslosigkeit gegenüber mir selbst, die mein Verhalten auf glaubwürdige Weise bedrohlich wirken ließ. Ich trank noch immer Wein. Resignierend verließ der Hasenpfoten-Typ mit seiner Begleitung das Lokal, vor dem sich die anderen Zecher, denn ich war nicht der einzige, der die Nacht durchgesoffen hatte, aufstellten, um den G.H.F. anzugucken. Der zog dann mit Tschiderassabumm vorüber. Ich verweilte im „Alten Haus“. Wieder kamen Bekannte herein. „Mußt du nicht so langsam ins Kino?“ fragte jemand. „Ich habe soeben gekündigt“, sagte ich und war davon auch ganz durchdrungen. Nicht mehr länger sollte der doofe Job mich behelligen. Ich merkte, daß dieser Bekannte, kein Gesicht hatte er nun für mich mehr, mich für etwas unzurechnungsfähig hielt; das war mir wurscht. Ich dachte an Till und wie er diese Nacht vermutlich verbracht hatte. Ich ging dann. Die Rechnung von achtzehn Achtele ließ ich vorerst offen; ich hatte kein Geld mehr. Ich wankte, jeder Schritt war ein Willensakt, zum Mittelberg, zum Hühnerfeld hinauf. Schlief. Am folgenden Tag ging ich zur Arbeit. Höheren Orts hatte man Grund, sauer auf mich zu sein. Einen Kater hatte ich im Kopf und war übelgelaunt. Die Hasenpfote finde ich bei meinen Umzügen immer mal wieder.
- Unbeständiges Wetter, windig, dann sonnig, mit späterer Vertrübung, drückend-schwül ohne Gewitter.
6.7.2002

5
Jul

5.7.2002

Nach dem Bunten Zug am Montag, der von den Schülerinnen und Schülern – heutzutage muß man so korrekt schreiben – der verschiedenen Lehranstalten bestritten wird und in dem immer, zumindest kenne ich es nicht anders, auf aktuelle Weise Schule und Schülersein in den Zusammenhang mit kürzlich medial verbreiteten wichtigeren Ereignissen, überregionalen und überparteilichen, „bunt“ und nicht ohne Phantasie, die sich in witzigen Kostümierungen ausdrücken darf, allerdings in diesem Umzug nicht historisierend, gebracht werden, gibt es die schöne Sitte der „Ziehung“ in der alten Gigelberghalle, über deren Nebeneingang – Haupteingang während der Zeremonie – breit das alte Schild mit dem altväterlichen Spruch in nicht ganz geglücktem Reim „Laßt sorgenlos die Kindlein spielen, eh‘ sie den Ernst des Lebens fühlen“ prangt. (Wir haben inzwischen wohl auch die sinnreiche Folge der beiden Hauptumzüge erkannt: wie der Bunte Zug, der die Kinder und Erwachsenen, nicht nur die Eltern, in ihrer jeweils heutigen, man könnte feststellen: Tageslage zeigt, ganz dem Präsens oder höchstens seinem Perfekt zugewandt, was das Bewußtsein für Hier und Jetzt zum Ausdruck bringt und die Nützlichkeit, die durch Ironisierungen noch eine spezielle Selbstsicherheit erhält, bestärkt – und wie daraufhin, am nächsten Tag, nun weniger den Kindern, sondern eher den zusehenden Älteren, durch das Defilée der früheren Zeiten, der vor Zeiten lebenden Protagonisten, die Alterung auch der Jüngeren und des Jungen, Zeitgenössischen, anschaulich, wenn auch durch den geschichtlichen Abstand, der aber schon gar nicht mehr ganz bewußt wahrgenommen wird, weil er so groß zu sein scheint, getrennt, an den Augen vorübergeführt wird; zumal ja auch der Schülerumzug schon vor einem Tag gewesen ist.) Die „Ziehung“ war, vor zweihundert Jahren, und um ein Jahr mehr oder weniger dürfte es uns, nach der parenthetischen Zwischenbemerkung, hier auch gar nicht ankommen, die philantropische Erfindung eines Biberacher Bürgers, des Apothekers Stecher, gewesen. Sie ist eine Lotterie ohne Einsatz; everyone’s a winner, babe, und das ist auch gut so. Blumentöpfe, Schmalzhafen und Schuhputzzeug für die Buben und mehr vom Nützlichen gab’s früher, heute nehmen die mit den besseren Losergebnissen auch teurere Dinge mit nach Hause. Ich gewann, 1963, keinen Hauptpreis, nur eine Dauerwurst, eine Elle war sie lang, die hielt ich vor dem Gartentörchen des Lindelestraßenhauses linkisch in die Höh‘, als meine Mutter dieses exorbitante Stück Wurst und mich für die Nachwelt fotografierte. Noch andere lokale Gebräuche gäbe es zu vermelden, so das „Biberschießen“, bei dem die – seit 1976 auch weibliche – Schülerschaft oberer Klassen mit Armbrustpfeilen auf das gelb gemalte Wappentier, das hat Krallen und Krone, steht aufgerichtet in der runden Scheibe, des Städtchens schießt; Schützenkönigin und -könig dürfen am nächsten Tag im G.H.F. aufgrund ihrer Leistung, die säuberlich in den Annalen vermerkt wird, mitspazieren; manchmal tragen auch die WG-Trommler sie auf den jungmännlichen Schultern. Aber ich schließe diesen geschichtlichen Teil ab.

- Unentschlossene Himmelsgestaltung, Wolken, Sonne, dann und wann trüb, letztlich aber, abends, schönes Sommerwetter.
5.7.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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