18
Jun

18.6.2002

Am späten Abend des 18. Juni 1997, einem Mittwoch, fuhr A.K. mich nach getaner Kinoarbeit vor den Hochhauswohnblock im Klauflügelweg, hielt aber auf der Amriswilstraße an, die in einem nicht sehr ausgeprägten Bogen durch das Wohngebiet Hühnerfeld verläuft und an den großen Blocks vorbei führt, während der Klauflügelweg nur ein unwichtiges Sträßchen auf der Vorderseite dieser Hochhäuser ist, wenn man ihre Eingangs- und nicht die „Panorama“-Seiten als die Vorderseiten bezeichnen soll, und sagte zu mir: „Ich hoffe, du schneidest mich in Zukunft nicht.“ Dies zu hören erstaunte mich etwas und auch wieder nicht. Erstaunte mich, weil A.K. – mein langjähriger Chef und ich schreibe das Wort ungern hin, weil es mir auch während der sechzehn Jahre meiner Angestelltenzugehörigkeit zu den Filmtheaterbetrieben K. nie besonders erfreulich erschien, einen „Chef“ zu haben, aus Eingebungen oder Überlegungen, die ich schon angedeutet habe, oder aus Überheblichkeit nur – offenbar der Ansicht war, in diesem Moment, der in uns beiden nicht völlig ohne einen Anflug von Sentimentalität, der sich aber nur sehr flüchtig bemerkbar machte, vorüberschweifte, ich hätte Gründe, ihn „zu schneiden“. „Warum sollte ich das tun?“, sagte ich, aber beide wußten wir, daß ich dafür vielleicht doch Gründe in mir finden könnte, wenn ich sie denn finden wollen würde. Aber in diesem Augenblick, in dem ein sechzehnjähriges Arbeitsverhältnis endete und eine, alles in allem berücksichtigt, Bekanntschaft von zwei Jahrzehnten sehr unverbindlich werden würde und auch eine noch längere Vertrautheit und fast schon Verbundenheit mit diesen Kinos, in die ich, seit 1962, erst als kindlich-jugendlicher Filmegucker, dann als Filmliebhaber, schließlich Filmkenner hinein- und hinausgegangen, von dieser Minute an genauso rasch in die Vergangenheit begeben würde, wie sich die Erinnerungen an die vielen, vielen Tage und Nächte, die Erlebnisse, die schönen und die schlechten Stunden, die ups and downs eines intensiven Arbeitslebens als Filmvorführer und – zeitweilig – „Chefadlatus“, die Auseinandersetzungen, die Anlässe zur Erbitterung, die er und ich uns gegenseitig geliefert hatten, die Beruhigungen aufgewühlter Zustände, zu da und dort lückenhaften Sequenzen vieler, langer Filme formen würden, von denen ich dachte, daß der eine und der andere nie mehr aus meinem neuronalen Filmlager ausgeliefert werde – in diesem Augenblick konnte ich mild gestimmt all das überblicken, in einem raschen gleitenden Flug über diese sechzehn Jahre mich aufschwingen, die, als sie unten auf der Biberacher Erde währten, mir lang, sehr lang geworden waren, und die jetzt, in der endgültigen Plötzlichkeit des Endes, hinter mir zurück schwangen wie fortgeschwemmt in einer flachen, breiten, ausgedehnten Welle, die sie aus der Endlichkeit meines Daseins, in dem diese Arbeitsjahre sehr wesentlich das ihre abgelagert hatten, in eine höhere Zeitbestimmung trug und in dieser mächtigen und doch kaum wahrzunehmenden Bewegung manches von den Ablagerungen und Versteinerungen der Jahre wieder mit sich nahm oder glatt wusch. Ich stieg aus dem Auto, A.K. fuhr zum Kino zurück, ich ging über den Weg, der seitlich auf den Wohnblock zu- und an ihm vorbei zu den Eingängen weist und dachte: „Es ist soweit. Ich bin wieder frei.“ Zwei Gedanken in einer Minute des sanften Glücks.
- Sehr heiß und sehr hochsommerlich.
18.6.2002

17
Jun

17.6.2002

Ich habe heute im Internet nachsehen müssen, wann Peter Handkes Film „Die linkshändige Frau“ in die Kinos kam. Es war 1978 und nicht 1979, wie ich geglaubt habe zu wissen. Das frühere Wissen, daß dieser Film im Mai `78 als offizieller deutscher Wettbewerbsbeitrag während der Filmfestspiele in Cannes lief, hat sich reaktiviert. Das Buch erschien 1976, und da ich ein Exemplar der Erstauflage habe, muß ich es in diesem Jahr gekauft haben, aber ich habe, gestern, als ich es im Bücherregal betrachtet und nicht in die Hand genommen habe, gedacht, es sei erst in einem Jahr am Ende jenes Jahrzehnts veröffentlicht worden. War es also 1978, als der Film im „Urania“-Kino gezeigt wurde? Oder erst 1979? Ging ich, wenn die Jahreszahl „1978“ geschrieben werden muß, von der Karpfengasse 24 zum Kino oder von der Hermann-Volz-Straße, wo ich im dreistöckigen gelben Wohnblock ab Mitte Juli `78 mein Zimmer in der Wohnung meiner Mutter, in unserer Wohnung, benutzte, weil die „Karga“ im Juli aufgelöst wurde? Lief der Film im Frühjahr, „nach Cannes“, oder im Herbst? Ich werde den Kinobesitzer fragen. Im „Urania“-Foyer drängelten sich, wie zwei Jahre zuvor bei „Satansbraten“, die Kinogeher, aber nun nicht nur Cinéasten, sondern auch Literaturfreunde, denn Handke sollte kommen, um seinen Film nach seiner Erzählung vorzustellen. Gerüchte schwirrten herum, die wissen wollten, daß der berühmte Schriftsteller nicht kommen würde. Vor vollem Saal, vor überfülltem, stand Adrian K. dann und äußerte sein Bedauern, mit Befremden gemischt, daß H. nicht angereist sei, zur Begründung seiner kurzfristigen Absage aber einen Brief geschickt habe; den las er vor. Neben anderem hieß es darin, er, H., könne sich nicht dazu entschließen, die „bundesrepublikanische Weltsenke“ zu betreten und müsse daher leider darauf verzichten, in K.s gewiß sehr respektables Kino zu kommen. „Bundesrepublikanische Weltsenke“ – der Terminus amüsierte das erwartungsvoll herangeeilte und wieder einmal enttäuschte Publikum ebenso wie es darin eine Spur von Hochmut zu erkennen das Recht zu haben glaubte. – „Später lebte ich fast ein Jahrzehnt lang an verschiedenen Orten der Bundesrepublik, die mir weiter und heller vorkam als mein Geburtsland; und konnte mich dort, anders als in Österreich, wo – es war eine Erfahrung – kaum jemand meine Sprache sprach, zuweilen sogar mit Leidenschaft einmischen (wenn ich auch oft dachte, dabei etwas anderes zu verraten). Es ist mir immer noch vorstellbar, dort zu leben; denn ich weiß, daß es nirgends sonst so viele von jenen ‚Unentwegten‘ gibt, die auf die tägliche Schrift aus sind; nirgends so viele von dem verstreuten, verborgenen Volk der Leser.“ So steht es dann 1980 in der „Lehre der Sainte-Victoire“. Ich merke nun an, daß ich bis zum Buch „Der Chinese des Schmerzes“ ein steter Handke-Leser war, danach, während der achtziger Jahre, seine Bücher nicht mehr kaufte, auch nicht las, erst zu Beginn der Neunziger wieder ein gewisses Gefallen an seiner Prosa finden konnte, nachdem ich mir „Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum“ in der Biberacher Stadtbücherei ausgeliehen hatte; aber danach las ich nichts mehr von ihm, obwohl ich nahe daran war, „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ zu kaufen. – Letzten Sommer, 2001, entdeckte ich an den Klingelschildern eines Hauses im Biberacher Weg, den es in Berlin-Steglitz gibt, wo ich war, um einige Fotos zu machen und um einen Eindruck von dieser unscheinbaren Straße zu gewinnen, und von der ich von einem Anwohner erfuhr, daß Rosa Luxemburg für einige Zeit in ihr gewohnt hatte, den Namen „Handke“ und es kam mir gleich in den Sinn, was ich vor langer Zeit in der „Lehre...“ gelesen hatte: daß H. in seinen ersten Jahren in Ostberlin gelebt habe; und wie er einmal von Westberlin aus sich in seine Kindheitsgegend hineinerinnert hatte, und fragte mich, während ich zur S-Bahn-Station Attilastraße zurückging, die vor dem Biberacher Weg liegt, wo H.s gewohnt haben mochten. In Mitte?
- Heißer Sommertag. Abends, nach 21 Uhr, der halbe Mond, schartig, in der dunkelblauen Nacht, die noch nicht volle Nacht war.
17.6.2002

16
Jun

16.6.2002

Wie weit alles zurückliegt, und wie nah doch auch! „In weiter Ferne, so nah“ ..., dieser Wenders-Film gefiel mir, nebenbei sei es eingeschoben, nicht. Ich war ja Wenders-Fan, bis zum „Himmel über Berlin“. Fassbinder war der wichtigste, “sozial“ schärfste und unbestreitbar der produktivste (BRD-)deutsche Regisseur der siebziger Jahre, dem die größte Aufmerksamkeit unter allen „Autorenfilmern“ zuteil wurde, Herzog der visionärste, Schlöndorff der literaturverliebteste (was seinen Filmen nicht bekam), Klick der „amerikanischste“, aber Wenders der poetischste und sensibelste und deutscheste aus der Garde dieser Jahre, trotz – oder eben wegen – seiner Empfänglichkeit für amerikanische Themata, Meisterregisseure wie John Ford und Nicolas Ray und westernamerikanische und australische Landschaften, durch die in Autos gefahren wird. Road Movies wurden solche Filme, die er kinofähig machte, genannt. Ein Genre, das wieder in Vergessenheit geraten ist und höchstens, aber welcher Kinogeher achtet heute auf solch ein Detail, als Name von Wenders‘ Produktionsfirma noch lebt. Ein Deutscher vom deutschesten aller Flüsse, der sozusagen mithilfe seiner Filme aus den bundesdeutschen Alltagsszenen emigrierte (und dann ging er ja auch nach Kalifornien), denen er – auch indem er Texte von Handke „befilmte“ – mit langen Einstellungen eine bisher nicht für möglich gehaltene stille Intensität gab. In „Alice in den Städten“, „Falsche Bewegung“ und „Im Lauf der Zeit“ konnte man Bundesdeutschland mit frisch geöffneten Augen sehen. „Alice in den Städten“ von 1973 sah ich im Kino neben dem Stuttgarter Schloßplatz zum ersten Mal und zum zweiten Mal in der Wim Wenders-Retrospektive im „Sternchen“ in Biberach, 1978. Rüdiger Vogler und das kleine Mädchen, das Vogler in New York über den Weg gelaufen war, fuhren in der Wuppertaler Schwebebahn; bei dieser Szene war mir, als könnte auch ich irgendwo im Hintergrund ihnen Weg kreuzen, zufälliger Passant mit langen Haaren, 1973 unterwegs zu Ronald M. Hahn. Stattdessen stand Rüdiger Vogler zu Beginn der Achtziger in der Karpfengasse auf dem schmalen Bürgersteig, als ich aus dem Schreibwaren- Zeitschriften- und Lottoladen Lau heraustrat, in dem ich als Jugendlicher meine Science Fiction- und Western-Heftchen geholt hatte, nun jedoch mit der „Zeit“ unterm Arm ihn verließ und Vogler in ihn hineingehen wollte. Dieser Schauspieler mit den meistens stoischen Gesten und dem unbewegten Gesichtsausdruck, der sich unerwartet in eine freundlich-verschmitzte Grimasse verwandeln konnte, war – für mich auf jeden Fall – einer der signifikanten Siebziger-Jahre-Filmschauspieler. Die Begegnung mit ihm – aus einer spontanen Laune heraus sprach ich ihn an, er murmelte etwas zurück – war nicht ganz überraschend, denn wir Filmliebhaber in der kleinen Stadt wußten ja, daß er aus einem kleinen Ort in der Nähe stammt. Darf ich erwähnen, daß auch verwandtschaftliche Beziehungen Gründe gaben, sich à Biberach aufzuhalten? Mit D., der Tochter des über die Große Kreisstadt hinaus anerkannten „Maleradvokaten“ Julius K. und der, wie die F.A.Z. unlängst schrieb, „besten Zeichnerin Deutschlands“, Romane-Holderried K., lebt er in Paris. „D. stammt aus einer schwäbischen Kleinstadt und macht Kleider in Paris. (...) Ihre Eltern gehören zum ‚verborgenen Volk‘, und sie kennt die Bilder, nicht nur als Beiwerk, von Anbeginn.“ Peter Handke schrieb das in seiner Schrift „Die Lehre der Sainte-Victoire“, ein Buch, das ich schon gelesen hatte, als der Schauspieler mir fast im Weg stand und ich ihm.
- Am früheren Vormittag vom Osten her Licht, mittags Verdüsterung, Regen wäre zu erwarten gewesen, der jedoch nicht fiel, ab dem Nachmittag mild-warmer hellsonniger Sommertag.
16.6.2002

15
Jun

15.6.2002

Ich flipperte im Winter und im Sommer, im Herbst und im Frühjahr. Es ging selten eine Woche ins oberschwäbische Land, in der ich nicht flipperte. "Ich geh mal’n bißchen flippern“ oder „Ich war beim Flippern“ waren so Sätze, die ich zu Falk, Gerd, Herbert, zu Kiki, Frank, zu anderen beiläufig von mir gab, um zu erklären, woher ich eben kam, wenn ich mich schon am frühen Abend in den „Strauß“ setzte oder wohin ich zu gehen beabsichtigte, wenn es mir im „Strauß“ zu langweilig wurde. Oft ging ich direkt von zuhause zum Flippern und Kickern; am späten Vormittag, so daß ich gegen dreizehn Uhr wieder in meinem Zimmer war, um zu Mittag zu essen, und am späten Nachmittags, manchmal sowohl als auch, wenn wieder die Unruhe, die ich spürte, mir zu verstehen geben wollte, daß ich über Lektüren und Manuskripten „das Leben“ versäume. Als ich bei der EVS arbeitete, ging ich nach dem Arbeitstag zum Kickern und Flippern; nicht jeden Abend, natürlich nicht. Doch schon auch. Als ich meinen Zivildienst Tag um Tag hinter mir ließ, führten meine Schritte mich vom Kreiskrankenhaus zum Marktplatz und dort in die Spielhalle hinein. Ich flipperte mit Genossen, Sympathisanten und Nichtgenossen. Mit Hans-Peter K., den ich seit 1972 kannte, als Uli W. und ich die SDAJ-Gruppe aufbauten und uns nicht scheuten, auch Mitglieder einer katholischen Jugendgruppe, von deren Existenz wir erfahren hatten und bei der wir potentielle Mitmacher bei unseren linken Dingen vermuteten (es war dann auch so), und Hans-Peter K. war damals einer aus der katholischen Gruppe, der aber später bei uns nie Mitglied wurde, traf ich mich mittags zum Tischfußballspielen, ohne daß wir uns definitiv verabredet hätten (auch das kam vor), wenn er, der in einem Zahnlabor in der Innenstadt eine Ausbildung zum Zahntechniker machte, seine Mittagspause hatte. Er war mittelgroß, nicht schön, nicht häßlich, mit offenem Wesen, stets gut aufgelegt und munter. Ich unterhielt mich gern mit ihm und kickerte auch gern mit ihm, denn er konnte kickern wie ich es konnte, gut bis hervorragend; so spielten wir fünf bis acht Partien hintereinander, bis er zur Arbeit mußte. Uns abwechselnd steckten wir die Münzen in den Kicker. Wir hatten Spaß. Ich flipperte und kickerte dann vor allem aus erotischen Gründen, denn ein großer schlanker Typ mit langen glatten Haaren und einem hübschen, eine Spur ins Feminine weisenden Gesicht eines Tags stand eines Tages in der Spielhalle an einem der Kästen, zwei junge Typen, die ich oft als seine Begleiter sehen sollte, die aber für mich uninteressant waren, standen daneben; mit ihnen als Partnern flipperte er, auch er hatte seinen Flipperfavoriten, dieser stand als letzter der Reihe in der stickigen Tiefe des Raums. Dieser Typ hatte es mir angetan, der hatte mein kühles Herz berührt. Bis zum Herbst 1974 war er, vor allen anderen Gründen, denn so mancher Knackarsch steckte dort in knallengen Jeans und, sommers, Shorts, die einen verstohlenen Blick wert waren, die Gesichter darüber hingegen selten, der schöne Grund meiner regelmäßigen Anwesenheit an diesem miefigen Ort, denn Flippern und Kickern ermöglichten mir, Blicke auf ihn zu werfen; Nebenbeiblicke, scheinbare, von denen ich hoffte, er würde sie nicht bemerken und gleichzeitig hoffte, er würde sie bemerken. Vielleicht hatte er sie auch bemerkt und machte sich seinen Gedanken, aber er tat nichts, was ich als positives Zeichen hätte deuten können. Nie sprach ich ihn an. Nur einmal, als ich, womöglich mit Hans-Peter K., kickerte, Monate waren schon verstrichen, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, kamen wir uns für drei Sekunden näher. Der Holzball wurde während des Spiels aus dem Kickerkasten geschleudert, kullerte zwischen vorbeigehenden Beinen in die Richtung des am Ende der Reihe stehenden Flipperautomatens, und ich hatte im Spiel wie abwesend rasche Blicke in jene Richtung geworfen, und nun wußte ich in dieser besonderen Sekunde, als ich sah, wohin der Ball gerollt war, nicht, was ich tun würde, würde ich meine Zurückhaltung endlich aufgeben, und ging die vier Schritte hinüber, und der hübsche Große mit den langen glatten Haaren hatte sich schon gebückt und den Ball aufgehoben und reichte ihn mir mit einem freundlichen Lächeln. Ich sagte ein „Danke“ und lächelte zurück, das Herz klopfte, ich wandte mich, wie leicht benommen, um, warf den Ball in den Tischfußballkasten, wir kickerten weiter. Ich war abwesend und verlor. Ich war ja so bescheuert. In den Wochen vor oder nach diesen Augen-Blicken kam ich sogar ins Gespräch mit einem der beiden Freunde des Hübschen, und auch diese Möglichkeit, über ihn mich ihm bekannt zu machen, versäumte ich; ich traute mich nicht und verfluchte meine Hemmungen. Dafür setzte ich mich dann im Frühsommer `74 an die Olivetti-Reiseschreibmaschine und begann, das ominöse Zwicken in der rechten Bauchseite, Blinddarmseite, spürte ich schon, jenen längeren Text, „Die Formierung der Gefühle“, den ich den Sommer hindurch schrieb, den die Bewunderung des Hübschen aus der nahen Ferne initiierte. Ich sublimierte eben. Ich sah den Jungen sporadisch auch im „Strauß“. Schrieb und konnte es nicht glauben, wie verkorkst ich war. Summer was gone, die unerklärlichen Schmerzen waren, so unerklärlich, wie sie sich eingenistet hatten, wieder fort, ich war Student in Stuttgart. Ich sah den Hübschen danach vielleicht alle fünf Jahre zufällig irgendwo in Biberach, längst lag die Spielhallenzeit hinter uns; auch er war geblieben, er hatte sich offenbar verheiratet. Das zu bemerken entlastete mich – sofern man sich nach so langer Zeit noch entlastet fühlen kann – von meinem Gefühl des damaligen Versäumnisses; „es wäre ja doch nichts geworden“.
- Zunächst Vormittagssonne, die von einem Regengrau mit Schauer (große Tropfen) verscheucht wurde. Langsam Aufhellung, Zwischenlicht, die Luft warm-feucht. Das Sonnenlicht strahlte dann durch, etablierte schönes Wetter, Wind kühlte die Fast-Hitze. Nachmittags bis in den Abend schwul (ab Motzstraße).
15.6.2002

14
Jun

14.6.2002

1973 wurde es eine meiner Vergnügungen, in der Spielhalle am Marktplatz die Flipperautomaten zu bedienen. In einem der alten Bürgerhäuser, die um das lang gestreckte und ein wenig verbogene Oval des Platzes stehen und ihn dadurch bilden, ziemlich genau in der Mitte der nördlichen Seite, lag sie an der Frontseite des Hauses in einem Raum, zu dem einige Stufen hinter der dicken Glastür, die nach links aufschwang, hinab führten und an dessen linker Seite fünf oder sechs Flipper auf ihren dünnen Metallbeinen standen, und auf der rechten Seite zwei Tischfußballkästen auf ihren Holzstelzen, hinter ihnen hing der Kippenautomat an der Wand, und verqualmt war das Kabuff! In der rechten hinteren Ecke der Spielbude, die nur um ein geringes Etwas länger als breit war, hockte Jupp, der Rentner und die Aufsichtsperson, auf seinem Schemel und wechselte Scheine in Kleingeld, das in die Automaten gesteckt wurde und dem auch ich, 1973, 1974, 1975, Zehn- und Zwanzig-Mark-Scheine auf das Tischchen, das vor ihm stand, legte, oder ich ließ ein Fünfmarkstück „kleinmachen“. „Hallo Jupp, wie geht’s, mach mir mal klein.“ Die Flipper und Tischkicker schluckten so manche meiner Märker. Sind die Flipperautomaten noch im Gedächtnis der Heutigen oder ist es angezeigt, ihr Design und ihre Funktionsweise zu erläutern? Wer in meinen Jahren ist, wird sich, sofern er früher solchen Zeitverschwendungen nicht völlig abhold war, an sie erinnern; Jüngere sehen sie vielleicht in „Autorenfilmen“ jener Zeit, die sie aber, nehme ich an, wohl kaum jemals noch sehen. Flipperautomaten waren rechteckige Kästen, in denen, auf einer etwas nach vorn abgeschrägten Spielfläche, aus Metall wie diese Kästen und die hohen Aufbauten an ihren Rückseiten, die mit bunten Comic-Motiven verziert waren und auf denen die Punktzahl, die sich im Vorgang des Flipperns erhöhte, angezeigt wurde, eine silberne Metallkugel von den auf der Spielfläche an den unterschiedlichsten Stellen (jeder Flipper hatte seinen eigenen Parcours) angebrachten “Fingern“ hin- und hergestoßen, abgestossen, aufgehalten und von einem geschickten Spieler dann so fortgeschleudert wurde, daß sie einen bestimmten Zählpunkt in Form von pilzartigen kleinen Erhebungen und Buchten und Kanten an den variationsreich geschwungenen Seiten der Spielfläche traf und somit die Punktezahl nach oben trieb; bei einem schnellen Spiel zuckte und ruckte der Pinball – „The Who“ sangen in ihrer Rockoper „Tommy“ vom „Pinball Wizard“ – unaufhörlich auf der Spielfläche von einer Stelle zur anderen, der Flipper klingelt und bimmelte, wenn die Punkte gemacht wurden, und das Spiel erforderte Konzentration und Reaktionsschnelligkeit, und ein guter Spieler konnte unentwegt Freispiele – „Bonus!“ – „rausholen“, und das und den vorzeitigen Abgang der Silberkugel durch Unachtsamkeit oder übermäßiges Rütteln des Apparats zu vermeiden, war der Sinn des Flipperns. „Same player shoots again“ oder „Tilt“ schrieb der Flipper unter oder neben die Scores, je nachdem. „Tilt“, „gekippt“, wies er seinen Spieler zurecht, wenn der zu sehr auf unerlaubte Weise an ihm gefummelt hatte, um den Lauf der Kugel zu manipulieren, und legte den Spielvorgang lahm; rien ne va plus, die Kugel rollte unaufhaltsam nach unten, entschwand in die elektrischen Eingeweide des Automaten. Dann ein neues Spiel, die Kugel legte sich vor den Federbolzen, er wurde von außen, von vorne am Gehäuse, an den Körper gezogen und lässig ließ man ihn zurückschnellen, die Kugel flippte in die Spielbahn hinein und wurde auf’s neue herumgestoßen. „Ring-pling“, „Ding-ding“, „Dong-bing“ tönten die Kästen durch die Spielhalle. Breitbeinig standen die Jungs, vornehmlich keine Gymnasiasten, an den Flippern und tätschelten mal deren linke Ecken, mal schüttelten sie zärtlich die rechten, und die Bälle wichen um eine Kleinigkeit von ihren bedrohlich gewordenen Wegen ab und wurden in andere gezwungen, aber: zu viel Rütteln und Schütteln hieß: „Tilt“. Den Kasten zu tillen war verpönt. Gute Spieler tillten fast nie, ihr Ehrgeiz war nicht nur, ein Freispiel nach dem anderen zu ergattern, sondern mehr noch, das Risiko des Tillens zwar herauszufordernd, aber es zum Tillen nie kommen zu lassen. Aus angespannt offenen oder etwas verzerrten Mündern drangen dumpfe Laute des verhaltenen Entzückens oder der Mißbilligung, leises Stöhnen und Grunzen begleitete das Spiel am Lieblingsflipper. Auch ich hatte einen, und war der besetzt, nahm ich den anderen, den mir zweitliebsten. Ich flipperte meisterlich. Ich flipperte auch aus erotischen Gründen.
- Unbeständig ist das Wetter wie seit Tagen. Wolkenverhangen, Tendenz regnerisch, spätnachmittags Sonnenglut hinter glasigen Wolken, die nach Osten wanderten, dann blieb der Äther frei und die Lichtpartikel prasselten ungehindert in den Abend: er wurde „schön“.
14.6.2002

13
Jun

13.6.2002

Ich bequemte mich nun doch, mich um einen Studienplatz zu bemühen, an der Universität Stuttgart, und das war nicht schwierig. Im Lauf der Julitage dann kam von der ZVS die Zuteilung für die Fächerkombination Politologie, Soziologie, Pädagogik, eine Zusammenstellung aus allein „linken Gründen“. Mir war nicht unbekannt, daß wenigstens im Fach Soziologie eines Tages aus statistischen Gründen heftig Mathematik betrieben werden würde, für ein Semester oder zwei, und das konnte mir nicht behagen, doch irgendwie, so meine nicht sehr rationale Ansicht, würde ich mich da durchtricksen. So richtig begierig auf’s Studieren, ich fühlte das, war ich ohnehin nicht und nie gewesen, weshalb ich ja auch ein Jahr später als es möglich gewesen wäre die entsprechenden Schritte unternahm. Ich hielt mein Leben in Biberach, trotz aller erotischen Frustrationen und Unzulänglichkeiten im Umgang damit, die ich an mir allmählich feststellte, für abwechslungsreich und ausgefüllt und hatte insgeheim sowieso nur das eine vor: meine Tage als Schriftsteller zu verbringen. Aber nun war zunächst ein Status erforderlich, mit dem ich mich der Gesellschaft gegenüber definieren konnte, und vor allem um meine Mutter zu beruhigen, die sich Sorgen um mich zu machen begann, aber welche Mutter hegt nicht besorgte Gedanken hinter der Stirn, wenn der Filius so gar keine Anstalten erkennen läßt, mit denen ein sogenanntes Fortkommen auf die Wege geleitet würde. Als ich den Zettel von der ZVS ihr zeigte, stand nun also für uns beide fest: ab Mitte Oktober 1974 würde ich Student und außer Haus sein, wenn auch noch nicht auf Dauer. Ich produzierte über all das gar keine Projektionen und ließ die Situation auf mich zukommen; ich lebte in Biberach hübsch bequem und genoß das auch und bekämpfte die zuweilen getrübte Stimmung, woran mein „Triebschicksal“ seinen gehörigen Anteil hatte, mit Alkohol. Zweiundzwanzig Jahre alt schon zu sein und nie zum Vögeln Gelegenheit und günstige Umstände zu haben konnte einem gut aussehenden Schwulen in einer südwestdeutschen Provinzstadt ganz schön auf den Sack gehen. Ich war schlichtweg nie frech genug, auch später nie, es lag mir gar nicht, und ich fraß meinen Ärger und meinen Selbsthaß in mich hinein, Typen anzumachen. Schwule, junge oder alte, bemerkte ich im Biberach jener Zeit nie. Manches Mal, wenn ich über den Gigelberg gegangen war, zwei und drei Jahre früher, hatte ich erstaunt überlegt: „Ich seh hier nie schwule Typen, wo sind die alle?“ Das Wort schwul war nach 1970 noch keineswegs so selbstverständlich wie heute in Gebrauch, bei den Schwulen, die sich lieber „Homoerotiker“ oder „Homophile“ nannten, noch weniger als bei den „Normalen“, für die es das alte Diskriminierungswort noch in aller stammtischhaften Selbstverständlichkeit war. Wo waren sie, die jungen Biberacher Homos, und wenigstens ein paar davon mußte es doch geben? Nie hörte ich die leiseste Andeutung von einem heimlich-offiziösen Treffpunkt, und ich hockte wahrlich oft genug zwischen Heteros im „Strauß“ oder im „Goldenen Rebstock“, auch „Stecken“ genannt, aber nirgendwo fiel, nicht einmal abfällig, ein Wörtchen über „Schwule“. Es gab keine Szene, von der ich irgendetwas hätte mitbekommen oder beobachten können. Wahrscheinlich fuhren die Jungs auch damals in die größeren Städte, nach Ulm, München, Konstanz am Bodensee; erst 1974 sickerte bis zu mir durch, daß es in Ulm das „Aquarium“ gäbe, das sei auch ein Schwulenlokal. Ich fuhr nie hin, frustete in Biberach vor mich hin. Ich hatte, es muß 1973 gewesen sein, zwar jemanden entdeckt, aber an dieser Entdeckung litt ich, statt daß sie mich erfreute.
- Vormittags und über Mittag finster, starker Windregen. Am frühen Abend ließen die zerfledderten Wolkenschichten Sonnenlicht durch, das sich behaupten konnte.
13.6.2002

12
Jun

12.6.2002

An einem Nachmittag in den Frühjahrsmonaten von 1975 saß ich in dem Kino in der Nähe des Schloßplatzes in Stuttgart, in dem ich für gewöhnlich Filme ansah, wenn ich Lust auf Film hatte, was aber während der Stuttgarter Zeit sehr selten vorkam, und schaute Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ an. Als ich das Kino verließ – statt ins Seminar war ich ins Kino gegangen – trug ich im Kopf die Absicht hinaus, eine Kritik des Films zu verfassen und an die „Deutsche Volkszeitung“, DVZ, zu schicken, die trotz ihres nationalistisch klingenden Namens eine linke Wochenzeitung war, vom VVN, Verband der Verfolgten des Naziregmines, getragen. Wie ich in den Achtzigern aus einer anderen Zeitung erfuhr, es war wohl „nach 1989“, hing sie stets am Finanztropf der DKP und somit der SED. Ich hatte über Sylvia P. einen Kontakt zu dem Blatt, das die SDAJ-Gruppe Biberach seit 1972 regelmäßig bezog und das ich einmal in der Woche (als ich noch nicht in Stuttgart war) aus dem Postfach der Gruppe holte, zusammen mit anderen Sendungen, denn ich war Besitzer des Postfachschlüssels, weshalb ich fast jeden Tag zur Post an der Ulmer Tor-Straße spazierte, meistens um die Mittagszeit, um das Fach zu leeren. In den Tagen eines meiner Besuche bei den P. hatte Sylvia mich einmal in die Wohnung eines der verantwortlichen Redakteure mitgenommen. Ich schrieb die Rezension und sandte sie nach Düsseldorf, von dort erhielt ich jedoch keine Resonanz, sie druckten meine Besprechung nicht, wie ich allmählich kapierte. Bekam ich je eine Begründung? Ich kann in meinen Archivalien nichts finden, nur den Durchschlag eines Briefs an S.P., daß ich bis dato noch nichts von der Redaktion gehört hätte. (Vor einem halben Jahr, Anfang 2002, las ich in einem Artikel der „Berliner Zeitung“ über die Filmjournalisten – und Leo Kirchs ehemalige Filmeinkäufer – Ripkens und Stempel, in der deutschen Schwulenszene als Herausgeber, Juroren und Schreiber bekannt, daß sie eine Zeitlang in den Siebzigern Redakteure der DVZ gewesen seien; damals hatten mir ihre Namen allerdings noch nichts gesagt, denn vermutlich hatte ich sie gelesen; das schwule Thema dürfte also der Redaktion nicht unbekannt geblieben sein.) Zur allgemeinen Beurteilung tippe ich den Text, denn ihn habe ich in einem alten Schnellhefter entdeckt, noch einmal, siebenundzwanzig Jahre nach dem Kinobesuch und zwanzig Jahre nach Fassbinders Tod – der Regisseur hatte den Protagonisten „Franz Biberkopf“ in seinem Film gespielt – ab.
„Das tabuisierte Existenzproblem „Homosexualität“ wurde hierzulande filmisch erstmals von Martin Sperr in seinem Film „Jagdszenen aus Niederbayern“ aufgegriffen; im beginnenden Politisierungsprozeß der „Studentenbewegung“, der die Krusten der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufbrach, konnten sogenannte Außenseiter auch auf eine stärkeres objektives Interesse an ihrer Situation hoffen. 1971 gab Rosa von Praunheim mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der den männlichen Homosexuellen radikal und schonungslos provozierend den Spiegel vorhielt, einen wesentlichen Anstoß zur öffentlichen Diskussion, zumal er einige Zeit darauf im Fernsehprogramm ausgestrahlt wurde. Die heftigsten Angriffe gegen Praunheim kamen – charakteristischerweise – aus der eigenen homosexuellen Subkultur: Praunheim habe, indem er homosexuelles Verhalten überspitzt habe, Vorurteile bestätigt und die entsprechenden Lebensumstände ins Lächerliche gezogen. Dennoch hatte Praunheims Absicht, die Homosexuellen zur eigenen Emanzipation aufzufordern, Erfolge aufzuweisen; in Arbeitsgruppen wurden Strategien und Aktionen diskutiert und veranstaltet, um das individuelle Triebschicksal mit all seinen Auswirkungen mit einer politisch relevanten Arbeit zu verbinden. Über die Art dieser Arbeit, in welchem Rahmen und in welchem Ausmaß Homosexuelle sich politisch engagieren, in welchen bestehenden Organisationen sie sich betätigen sollen, gibt es Auseinandersetzungen und unterschiedliche Standpunkte. Und die Mehrheit der Homosexuellen will von Politik nichts oder wenig wissen.
Faßbinders Film „Faustrecht der Freiheit“ erzählt die Geschichte von Franz Biberkopf, der, proletarischer Herkunft, als „Fox, der sprechende Kopf“ auf dem Jahrmarkt agiert, in der „Klappe“ einen gutbetuchten Antiquitätenhändler trifft und in dessen exklusiven Freundeskreis gerät. Franz spielt Lotto und hat Glück: als Halbmillionär wird er „interessant“. Er lernt Eugen kennen, dieser täuscht Liebe vor und will doch nur, wie alle anderen, sein Geld. Franz kauft eine Wohnung und überschreibt sie Eugen; er kauft üppiges Mobiliar vom Antiquitätenhändler; er zahlt die Reise nach Marokko; er gibt Eugens Vater, dessen Druckerei bankrott ist, Kredit. Franz zahlt. Er schuftet in der Druckerei und meint, damit noch gut zu verdienen. Als das Geld futsch ist, gehen ihm die Augen auf: In „seiner“ Wohnung hat sich Philipp, Eugens alter Freund, eingenistet und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu; der Kredit ist durch Advokatentricks verloren; Franz dreht durch, wird rausgeworfen, setzt sich in den flotten Sportwagen, den er zum Schleuderpreis verkaufen muß. Abends im Schwulenlokal bekommt er den letzten Frustrationsschock; er besäuft sich, schluckt Valium, und am Morgen liegt er im U-Bahn-Terminal, und zwei Bübchen fleddern sein letztes Bares. Der Antiquitätenhändler und Franz‘ einstiger Freund vom Jahrmarkt kommen vorbei, lassen ihn liegen und unterhalten sich, wie man die von ihm gekauften Möbel am unauffälligsten über die Grenze schiebt.
In welcher Weise wird Faßbinders Film der Situation der Homosexuellen gerecht? Die Story ist – wie ja in allen Faßbinder-Filmen – nicht ohne Melodramatik; in diesem Fall könnte sie jedoch eine dem Thema angepaßte adäquate Vermittlungsfunktion übernehmen, wenn sie nicht einmal mehr auf bloß subjektivistischer Basis errichtet wäre: Melodramatik, angewandt auf die Schilderungen homosexueller Lebensweise, könnte die Scheinwelten, die Sentimentalitäten und unechten Verhaltensweisen, denen Homosexuelle ausgesetzt sind – und die sie reproduzieren – entlarven. Andererseits hat Faßbinder die „Kultur“ der (kleinbürgerlich strukturierten) homosexuellen Subkultur getroffen: er zeigt den zwanghaften Kulturkonsum, der wie überhaupt alles „Stilvolle“ zum Fetisch stilisiert ist, er zeigt Abhängigkeits- und Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Subkultur.
Ein Ausbeutungsverhältnis ist auch die Beziehung zwischen Franz und Eugen. Franz, der Eugen auf die naive Weise liebt wie jener Franz Biberkopf im Döblin’schen „[Berlin,] Alexanderplatz“ [liebt] – woher Faßbinder auch Motivation mitverbraucht hat – , glaubt wirklich an die Große Liebe und ist – wie der erste Franz B. – auch bereit, dafür zu zahlen. Und er bezahlt und geht drauf wie der erste. Das „Faustrecht der Freiheit“ also als die Freiheit dessen, der besser durchblickt und skrupelloser ist als die anderen? Das wäre nicht sehr originell, wären es nicht eben Homosexuelle, die so handeln. Denn das zeigt, daß auch in der homosexuellen Subkultur die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse wirksam sind, ja sie ins Extrem ausbilden. Ein Proletarier und ein erklärter Kleinbürger als (scheinbares) Freundespaar: das führt vor Augen die Traumwelt des schönen Scheins, die vorzugaukeln mancher Homosexueller sich bemüht; eine Traumwelt, die illusorisch ist und daß scheitert, wer sich ihr ergibt. Franz‘ Geschichte zeigt, wenn auch nicht mit Absicht, daß es Klassenverhältnisse sind, in denen Homosexuelle leben und von denen sie bestimmt werden; die Unterdrückung der Homosexuellen, daraus resultierend ihre Gettosituation und ihre persönlichen Verhaltensweisen sind konkrete Erscheinungen von Klassenverhältnissen, und diese haben Wirksamkeit auch dort, wo Franz meint, eine Große Gemeinschaft vorzufinden. Als er merkt, von seinesgleichen betrogen und brutal benutzt worden zu sein, selbst hier keine Solidarität zu erhalten, packt er’s nicht mehr.
Dieser Zusammenhang von gesellschaftlich bedingter „Normalität“ und individuellem „Außenseitertum“ wird von Faßbinder aber nicht hinterfragt. Die Zwänge, denen Homosexuelle unterworfen sind, erscheinen als nicht zu erklärende Phänomene, und so werden auch die Erwartungen des Filmkonsumenten wohl kaum weiterentwickelt, eher bestätigt. Was man vermutet, aber selten so richtig zu sehen bekommt – hier sieht man’s. Homosexuelle Lebensweise, über der der Ruch der Anstößigkeit und der moralischen wie sittlichen Verkommenheit liegt, wird hier ehrlich gezeigt; aber ob das genügt, aufklärende Wirkungen zu zeitigen?
Das Resümme? Eine Schilderung homosexueller Lebensumstände in idealisierten Formeln; und dann eventuell noch ein – glücklicherweise in „selbstverständlichen“ Bildern – Beitrag zur „Toleranz“. Das mag sehr vielen Homosexuellen recht sein; jene aber, die etwas umfassender denken, wollen nicht toleriert, sie wollen akzeptiert werden. Die um die persönliche wie gesellschaftliche Emanzipation der Homosexuellen kämpfende Schwulenbewegung aber, die mit diesem Ziel vor Augen sich formiert, hat einen Weg vor sich, dessen Barrikaden noch für ungewisse Zeit von den Bannerträgern der Angst, der Dummheit und Ignoranz gehalten werden.
KLAUS DIEDRICH“
Nun ja ... Und warum schrieb ich Fassbinders Namen permanent falsch ?
- Vormittags sonnig. Ab Mittag grau, aber der Tag blieb eigentümlich warm. Vor und nach 20 Uhr streifte über die ganze Stadt ein kräftiger Regen.
12.6.2002

11
Jun

11.6.2002

Vor dem versammelten Saal, vorn zwischen der Bildwandbühne und der ersten Stuhlreihe – Sessel konnten diese ungepolsterten Sitzmöglichkeiten in den drei ersten Reihen nicht genannt werden – stellten sich der Kinobetreiber und „Kurti“ Raab auf, der Hausherr begrüßte die Gekommenen, die in Erwartung Rainer Werner Fassbinders Gekommenen, und bedauerte, daß Rainer Werner Fassbinder leider nicht kommen könne, da er mit dem Auto, in dem er auf der Autobahn unterwegs gewesen sei, einen Unfall gehabt habe (wer wollte das glauben?) und nach München zurück gekehrt sei. Er bitte um Verständnis – in verschiedenen Sesselreihen grummelte Unmut auf – und hieße nun, statt des Regisseurs, der seine Absage wirklich bedauere, den bekannten Fassbinder-Schauspieler Kurt Raab willkommen, einen der engsten Vertrauten des Filmemachers, der eben dessen Bedauern, hier in Biberach nicht vor das Publikum treten zu können, überbringe; „Kurt Raab!“ Enttäuschter Applaus schwoll auf und ebbte ab. „Doch zunächst der Film: Satansbraten, von Rainer Werner Fassbinder!“ Es mag sein, daß Raab noch etwas sagte, bevor die beiden nach links wieder abgingen. Rasch senkte sich die Kinodunkelheit über die Zuschauer, der erste Vorhang teilte sich in der Mitte und seine beiden sacht dem Zug des Öffnungsmechanismus nachschleifenden Teile glitten nach links und nach rechts auseinander in die Ecken, die des zweiten ebenso, und weil der Vorstellungsbeginn in der Hoffnung, der Meister möge sich vielleicht doch noch bald zeigen, um zwanzig Minuten oder länger hinaus geschoben worden war, wurden weder Werbefilme noch Trailer vorab auf die Bildwand, die nun sichtbar wurde, projiziert, sondern die ersten vierundzwanzig Bilder (pro Sekunde) von „Satansbraten“. Münchner Dichter, exaltiert und priesterhaft, schreibt ein Gedicht, findet es genial und muß sich darüber aufklären lassen, daß dieses Gedicht wortwörtlich schon Stefan George geschrieben habe, worauf der Dichter zu verzweifeln sich anstrengt und auch sonst allerhand Schelmereien geschehen, in deren Verlauf Volker Spengler, der einen Debilen gibt, ausgiebig Gelegenheit erhält, vom „Fliegenficken“ zu faseln; und wer mit dieser Synopsis (Satire sollte der Film sein) nicht einverstanden ist oder auch wissen möchte, der kann sich das Werk ja ansehen; gestern übrigens hat der Sender „Vox“ es ausgestrahlt, ich habe nicht ferngesehen, einmal hatte mir gereicht. Die Vorhänge schlossen sich, das Licht glomm fade auf, Kinobesitzer und Darsteller traten wieder vor die Sesselreihen. Nun möge das Publikum Kurt Raab zum Film befragen. Schweigen im Saale, die etwas rohe Kost mußte noch verdaut werden, also machte Raab einen Anfang und plauderte drauflos. An „Diskussion“ war dann nicht viel, der Abend ging in die one man show des Schauspielers über, der sich nicht gütlich genug daran tun konnte, in seinen sprudelnden Ausführungen das Fliegenficken wortreich zu würdigen, es war der Fliegenficken-Abend, und eigentlich nur wegen des Raab’schen Ergötzens, das Fliegenficken so ungestört ausgiebig erörtern zu können, blieb er mir im Gedächtnis. „Und was meinen Sie zum Fliegenficken?“, rief er über die von dieser Vorstellung durchaus erheiterten Kinogeher mir zu, in meine hinterste Ecke, offensichtlich meinte er mich; oder wie? Ja, aus irgendeinem Grund – hatte er mich während der kleinen Szene vor der Kassentür doch bemerkt, oder warum fiel ich ihm, unter all diesen Leuten, auf? – sah er mich direkt über die Köpfe an. Ich konnte nur müde grinsen. Und weiter ging’s da vorn mit der Suada. Geduldig lächelnd stand der Kinomann, der es aufgegeben hatte, eine ernsthafte Diskussion über filmkünstlerische Aspekte zu erwarten, daneben. Schließlich fühlte das publico sich in ausreichendem Maß unterhalten, Zuschauer erhoben sich und gingen, der Höhepunkt im Flickenficken war überschritten, und Raabs aufgedrehte Selbstdarstellung verlor an Schwung. Mit einem Dank für’s Kommen wurde der Abend offizielle beendet. Ich ging. Ein paar Tage danach berichtete mir ein Sechzehnjähriger, auf den ich schon im Jahr zuvor beide Augen geworfen hatte, daß Raab – der in Fassbinders „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ den Jungenliebhaber und -mörder Hamann spielte – sich ihm auf der anschließenden Party genähert habe, die im Haus des Chefarztes N. in der Alpenstraße auf dem Lindele – Gartenstraße, Probststraße, Alpenstrasse, in dieser ansteigenden Reihenfolge liefen diese Straßen über den Hügelabhang – stattgefunden habe; aber es war freilich zu nichts Unnatürlichem gekommen.
-Sonne, Regen, wobei die Sonne letztlich siegte.

11.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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