14
Mai

14.5.2002

Um 8.45 Uhr bin ich aufgestanden, sinnierte zuvor eine ganze Weile, wieder, zum wievielten Mal?, warum ich in meinem Leben so wenig Sex hatte, daß ich sagen kann, ich hatte ja gar keinen Sex. Wieder ist mir das eigenartig vorgekommen. Ich fand keine Partner, weil ich eigentlich keine suchte? Ganz so war es nicht, nicht alles an diesem Verhalten kann mit Narzißmus erklärt werden. Ich schrieb schon: ich war selbstbewußt nach außen und doch zu distanziert. Ich hörte in den frühen Siebzigern, ca. 1974, das war eher in der Mitte der Siebziger, gelegentlich Äußerungen in meiner Umgebung, ich sei sehr „sophisticated“, ich hätte etwas von einem Snob. Nein, ich war stolz und gehemmt. Jedenfalls was die sexuellen Angelegenheiten betraf. Ich war auch ängstlich, wollte mir keinen Korb einhandeln, also eben zu stolz. Dann war ich zu ängstlich, Typen, die mir, wenige waren es in all den Jahren, gefielen, einfach anzusprechen. Die Ursache daran lag auch nicht allein in der äußeren einschränkenden und unterdrückenden Kleinstadtmentalität. Ich hatte auch den Gedanken im Kopf, das könne ich doch diesem Typen gar nicht zumuten. Ich war besorgt um sein Seelenheil und hätte mehr auf meines achten sollen. Ich war frustriert vom Beginn der siebziger Jahre bis zu ihrem Ende, und danach wurde ich auch nicht zufriedener. Kann man so leben, ohne auszurasten? „Ich sublimiere eben“, hallte das Echo durch die Jahrzehnte. Ich will ja nicht herumanalysieren, bin aber überzeugt davon, daß dieser immerwährende Gefühlsstau, oder, wenn man es weniger romantisch haben will, dieser Triebstau eine der Ursachen der Krankheit, wegen der ich nun am Abend des 14. Mai 2002 im vierten Stock dieses großen langen Gebäudes im alten Klinikgelände der Charité in einem Vier-Bett-Zimmer, zur Zeit allein, sitze, ist. Dieses Thema geht mir im Kopf herum. Mein Verhalten war ganz und gar nicht natürlich, schon gar nicht für eine Zeit, die Siebziger und die Jahre danach, in der kaum etwas anderes so präsent war wie die Propaganda der „freien Liebe“, der „befreiten Sexualität“ und aller davon abgeleiteten Schlagwörter. Und das bezog sich zunehmend auch auf die als „unnatürlich“ geltenden Arten und Praktiken der Liebe; was selbst in Biberach, wenn auch nicht in allen Kreisen, eine gewisse halböffentliche Akzeptanz fand, nachdem man sie ja auch schon immer getrieben hatte. Was auch beim Überdenken dieses Themas herauskommt: ich hatte mich, ich weiß es seit vielen Jahren, einfach formuliert einfach zu dämlich angestellt. Die Dämlichkeit war ein Erziehungs- und Moralprodukt. Ich bedauere wirklich, nicht mehr rumgevögelt zu haben. Ich hätte das Edelmenschenbild, das ich in mir von mir herumtrug, zerstören sollen; wäre dann bestimmt ein anderer Charakter geworden. Und welcher? Ich hatte ja stets nur wenig bewußten Umgang mit dem Körperlichen, siehe auch meine Unlust am Sport; dabei war mir klar, daß mein Körper okay war, dieser Schatz, der mir zugefallen war, war aber selbstverständlich und der Beachtung nicht weiter wert. Oder doch? Schließlich war ich in den Siebzigern hypochondrisch um ihn besorgt. Diese neurotische Ängstlichkeit korrespondierte – und ich erkannte das auch – mit der schon erwähnten. (Nun fährt hinter der Lücke, die die beiden Häuserwände auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Gelände der Charité bilden, in der eine schmale Pappel oder ein einer Pappel ähnlicher Baum vom Wind bewegt wird, ein ICE vom Ostbahnhof hinüber zum Bahnhof Zoologischer Garten.) Wahrscheinlich zählte ich zu jener Sorte Intellektueller, die selbst in einer sexualisierten Zeit über ihre Schwierigkeiten mit dem Sexus nicht hinwegsteigen können. Aber, freilich, auch in anderen Provinzen hatten junge Schwule damals Ärger mit ihrem nichtgelebten Sex; haben es heute noch, denn die Großstadtszenen und die literarischen Ergüsse, und dieses Wort ist hier an der richtigen Stelle, die sie hervor quellen lassen, und ich meine damit nicht nur die schwulen, sprechen eben nicht von dem, und wenn, dann ungern und verächtlich, was sich in Regionen abseits der kümmerlichen deutschen Metropolen tut oder nicht tut; was da getan und wie dort gelebt wird, manchmal gelebt werden muß. Ich war in Biberach ab den siebziger Jahren nur selten glücklich (das Wort nehme ich jetzt einmal ganz naiv) und wüßte gern, ob mir’s in einer anderen Stadt auch so ergangen wäre.
- Vormittags Sonnenschein. Über Mittag bis etwa 15 Uhr trüb, und Regen fiel, bis wieder heiß die Sonne brannte. Wieder Eintrübung gegen 18 Uhr, vor der Dämmerung brach im Westen gleißend weiß das Licht durch.
14.5.2002

13
Mai

13.5.2002

Morgen gehe ich für drei Tage in die Charité, um eine Biopsie an den wieder vergrößerten Lymphknoten, paraaortal, vornehmen zu lassen, die nicht ohne Risiko ist. Sticht der Radiologe, der diesen computertomographisch unterstützten Eingriff vornimmt, meine Hauptschlagader am Mittwoch nach acht Uhr an, dann sind das hier die letzten Zeilen, die ich geschrieben habe, und dann nicht einmal zur Biberacher Zeit. Auch würde die Biberacher Zeit, die ja doch nur eine von mir konstruierte ist, oder, um ihre eher ätherische Konsistenz richtiger zu würdigen (es gibt das Richtigere, so wie es das Gleichere im Sinn von „alle sind gleich, nur manche sind gleicher“, was man immer aufs neue eine konkrete Erfahrung nennen kann, gibt), eine von mir nur und sehr wahrscheinlich nur von mir erahnte, verschwunden sein, wenn ich, das, was man „Ich“ oder seinen „Geist“ heißt, verschwunden wäre. Dann reihte ich mich womöglich in den Sphärentanz jener nebulöser Wesen ein, die in ihm nicht nur meine Erinnerungen, sondern auch die anderer noch Lebender begaukeln? Man gebraucht ja, dann, wenn Erinnerungen – aber nicht nur sie, sondern ganz reale vor- und herankommende Personen sind auch damit gemeint – sich aus Gründen, die ebenso lästig sind wie die Erinnerungen, die sie aus den verschlossenen Sektionen des Lebensbaus plötzlich entweichen lassen, unwillkommen aufdrängen, die Redensart von den Gespenstern der Vergangenheit, und zu solch einem unschönen Gespenst würde ich anderen eben nicht werden wollen; und die Zeitgenossen, die mir in der Biberacher Zeit unangenehm begegneten, und die ich würde erschrecken wollen, waren gar nicht sehr viele, wofür ich in erster Linie mir selber dankbar bin. Ich glaube, auch dieses Eigenlob bedarf keiner ausführlichen Erläuterung, denn „wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, und mit diesem Satz 7 – der Ziffer meines Geburtstages – in „loony Ludwigs“ Tractatus, wobei ich in ihm, dem Satz, bei dieser Gelegenheit das Wort „kann“ durch das Wort „soll“ ersetze, verabschiede ich mich – für heute; vielleicht notiere ich mir morgen in der Klinik noch etwas in ein kleineres, handlicheres Notizheft.
- Etwas bedeckt mit Wolken der Tag vormittags, danach wurde er sehr warm, weil die Sonne kräftig schien.
13.5.2002

12
Mai

12.5.2002

Im Frühjahr 1962 kam ich zu den Schützentrommlern. Schützentrommler und -pfeifer stellen seit unvordenklichen Zeiten, die ins vorletzte Jahrhundert zurückreichen, die erste Musikantengruppe und überhaupt die erste Gruppe der sehr langen Schützenfestumzüge, die sich an vier Tagen des Biberacher Schützenfestes durch die Gassen und Straßen und über den Marktplatz der Oberschwabenstadt winden. Das Schützenfest, das in der Regel am letzten Wochenende des Juni beginnt und am ersten Wochenende des Juli endet, aber auch schon etliche Male seit den siebziger Jahren auch erst am ersten Wochenende des Juli begann, ist der Höhepunkt des Jahres in Biberach, des Biberacher Jahrs, und weil gerade im Zusammemhang mit dem Schützenfest, dem Kinder- und Heimatfest, wie es die Überlieferung gern sieht, wobei es seit den Siebzigern doch, zumal unter der Jugend des Städtchens und des Umlands, in seiner Funktion als Sauf- und Fickfest seine eigentliche Bedeutung gefunden hat, der Terminus „Biberacher Jahr“ oft gebraucht wird – das Biberacher Jahr werde durch das Schützenfest oder Schütza, wie es im Dialekt heißt, in „vor de Schütza ond noch de Schütza“ geteilt –, deutet der Ausdruck „Biberacher Jahr“ unter Umständen an, daß die Biberacher Zeit von der anderer Städte womöglich doch etwas unterschieden ist. Was insofern zusätzliche Argumentationsunterstützung erhält, als diese neun Tage zu Beginn eines jeden Juli in der Mitte des Jahrs für jeden echten „Biber“ eine Ausnahmezeit sind, in der bestimmte Regeln des individuellen Verhaltens, die sonst recht genau beachtet werden, sofern heutzutage, und dieses „heutzutage“ dauert ja seit Jahrzehnten an, und eigentlich seit jeher, überhaupt nicht alles, auch die Einhaltung von Regeln, laxer geworden ist, zur Seite gerückt werden und der Mensch sich oft als Mensch zeigt; zu oft, wie man sich denken kann. Ich will nicht übertreiben, nicht überziehen, will festgestellt haben, daß Allzumenschliches überall geschieht, wo gefeiert und gefestet wird, und außerdem das Krasse und Mutwillige, in dem in aller Regel stets etwas Mutloses sich Luft verschafft, von einer den Juvenilitäten noch nicht entwachsenen Minderheitsfraktion der Biber-Population betrieben wird; wer allerdings einmal am zweiten oder dritten Juli vormittags in bestimmten Gäßchen der engen Innenstadt durch Glassplitter watet, der kann schon mal die Stirn runzeln, wenn er älter geworden ist; ich will damit nicht sagen, daß ich mich an solchen Enthemmungen in früheren Tagen beteiligt hätte, gebe aber zu, und gern, „in früheren Tagen“ der Biberacher Jahre auch manche Nacht des Schützenfestes durchgesoffen zu haben.
Als ich 1962 bei den Schützentrommlern aufgenommen wurde, was eine Ehre war, konnte ich auch von dieser Zukunft nichts ahnen. Vor der breiten Treppe auf dem Schulhof der Pflugschule umringten wir jemanden, der die Liste der Neuzugänge zusammenstellte. Ich glaube mich zu entsinnen, daß ein um ein paar Jahre älterer Jugendlicher, der in meiner Gegend auf dem Lindele wohnte, in der Alpenstraße, Helmut, Heinz-Wolfgang und mich vorgeschlagen hatte; wenn es dieser dickliche Junge gewesen war, dann hätte ich ihn auch noch wegen eines Verhaltens, das mir nicht gefiel, das er ein Jahr danach an den Tag legte und das eine Freundschaftskrise zwischen H. und mir heraufbeschwor, auf zwiespältige Weise in der Erinnerung. Dazu später. Es ging bei dieser Auflistung gar nicht sehr aufgeregt zu, schließlich standen meine beiden Freunde und ich auf diesem Papier. An einem anderen Tag wurden die Trommeln ausgegeben, samt Koppeln und Schlegel; wenn ich mir trauen darf, dann war das oben auf einem der weiträumigen Dachböden der Pflugschule, wo auch die Uniformen, und nicht nur die der Schützentrommler und -pfeifer, sondern auch die der anderen Trommler- und Trachtengruppen, mit Ausnahme wahrscheinlich der des Trommlercorps des – Wieland-Gymnasiums, lagerten und eines Abends, als die Festtage allmählich heraufzogen, ausgegeben wurden. Ich lernte Märsche trommeln.
- Heute etwas bedeckt, erst ab dem Nachmittag fiel das Sonnenlicht konti-nuierlich herunter und wärmte die zweite Tageshälfte und den Abend wieder auf.
12.5.2002

8
Mai

8.5.2002

Wäre heute nicht der 8. Mai, würde ich mich vor einigen Minuten nicht an das Franzosenwäldchen erinnert haben; es würde in diese Erinnerungen, die doch nur fast alles unberücksichtigt lassen, was mein Leben war und nur einiges von dem, was sich Tag nach Tag zu Wort zu melden vermag, auf’s Papier bugsieren, bestimmt nicht aus meiner Kindheitslandschaft hineingeschwebt sein. Biberach war einmal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert worden, die Ulmer Tor-Straße hatte dabei einige Häuser verloren, ob Menschen umgekommen waren, müßte ich recherchieren, im Stadtarchiv und in alten Ausgaben der „Schwäbischen Zeitung“, die aber erst nach dem Krieg gegründet wurde, wenn ich richtig informiert bin (notfalls korrigiere ich das), welche sich in späteren Jahren mit der Zerstörung der Ulmer Tor-Straße befaßte – und zwar erst, wie ich mich genauer entsinnen kann, vor ein paar Jahren wieder –, wäre davon zu lesen. Während des Krieges war hinter dem Lindele, nördlich der Stadt, ein Kriegsgefangenenlager errichtet worden, das „Lager Lindele“, wie es nach dem Krieg genannt wurde, in dem fast nur englische Soldaten interniert gewesen waren. Der Vater von Klaus Leupolz – ich sollte einmal erwähnen, daß K.L. drei Brüder und eine Schwester hatte; Eckart Leupolz, als Ekke L. stadtbekannt wie Klaus L., starb Ende des Winters an Krebs – hatte dort als deutscher Offizier zur Wachmannschaft gehört. Die kleine oberschwäbische Kreisstadt hatte dann im französischen Besatzungsgebiet gelegen, das auch Oberschwaben umfaßt und also bis zur Donau gereicht hatte. Nördlich davon war die englische Besatzungszone eingerichtet worden. Das erfuhr ich so richtig erst, als meine Mutter und ich für zwei Wochen meiner Sommerferien Anfang der Sechziger in Geislingen bei Frau S. urlaubten, und einer ihrer beiden Söhne, damals Student, mich auf englisch etwas fragte und ich nicht sofort, denn mein Englischunterricht in der Mittelschule hatte wohl erst vor einem Jahr begonnen, antworten konnte. „Ach ja, Biberach war ja von den Franzosen besetzt“, sagte er, und weil mir in jenem Augenblick das Franzosenwäldchen einfiel, nickte ich erleichtert, „dann kannst du noch kein Englisch.“ Meinte er damit, ich sei deswegen mit Französisch als zweiter Muttersprache (meine Mutter beherrschte keine Fremdsprachen) aufgewachsen? In diesem Moment aber erschloß sich mir das Wort „Franzosenwäldchen“ glaubhaft. Was der Sohn von Frau S. sagte, bewies mir nun den Zusammenhang zwischen den französischen Soldaten, dem Krieg und dem Wäldchen erst als richtig. Davor war das Franzosenwäldchen ein Ort eher unserer Jungenphantasien, die sich am Hörensagen bedient hatten, gewesen. Es war ein unbedeutender Hain zwischen den Feldern und Wiesen, die sich von der Nordseite des Lindele aus zum Burrenwald erstreckten Ich schreibe das in der Vergangenheitsform, denn eine große Fläche davon wurde seit der Mitte der sechziger Jahre bebaut. Steht das Franzosenwäldchen noch? Zu meiner Kinderzeit ging das Gerücht um, die abziehenden Franzosen hätten in ihm Waffen vergraben, Gewehre, Handgranaten, und das war für einen Neun- oder Zehnjährigen doch spannend. Mit Helmut K. und anderen Freunden strolchte ich dort ein paar Mal herum, streifte durch das Unterholz, durch die Baumwipfel fielen Sonnenstrahlenstreifen, wir suchten den verstrüppten Boden nach waffenähnlichem Kram ab, fanden, oh ja, auch Patronenhülsen, also war etwas dran an dem Gerücht; dachten wir. Vielleicht fanden wir auch noch anderes militärisches Material, verrottetes, zerbrochenes Kleinzeug, ein Koppelschloß oder Ähnliches. Für einige Tage eines Sommers brachte das Franzosenwäldchen unsere Phantasie auf Trab. Wir stellten uns vor, wie an diesem Wäldchen französische Reiter vorübertrabten, französische Jeeps vorbeifuhren; und nur wenige hundert Meter entfernt standen ja auch noch die Baracken des Lagers, von denen ich damals nicht wußte, daß es ein Gefangenenlager gewesen war, aber auf unausgesprochene Weise gehörten diese lang gestreckten niedrigen Gebäude zur ereignisreichen Landschaft, die sich am Lindele erstreckte, dazu, und auch zum Krieg, den es irgendwann einmal gegeben hatte. Das Lager kannte ich ja, in ihm besuchte ich in jener Zeit mit meiner Mutter unsere Verwandtschaft, die L.s, die Ende der fünfziger Jahre, über Zwischenstationen in Weinsberg und auf der Schwäbischen Alb, nach Biberach in diesem inzwischen als Notaufnahmequartier genutzten ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergekommen war, bis sie in die neuen Wohnblocks am Mühlweg einziehen konnten. In den sechziger Jahren wurden die Baracken abgerissen – wurden sie doch? – und machten Platz für neue, größere Unterkünfte für die dort stationierte Abteilung der Bereitschaftspolizei. Ob in dem Sommer, in dem das Franzosenwäldchen interessant war, oder in dem danach – ich sehe wieder, wie ich ungeduldig, aber immer höflich auf die Verwandtschaft wartend, voranspazierte, wenn „Tante Emmi“ und ihre schon alten Eltern und meine Mutter, die sich unterhielten, langsam, sehr langsam, über die Kuppe des Lindeles gingen; wie es der Zufall arrangierte, hatten es die in Biberach neu Eingetroffenen zu unserer Wohnung – und weil es uns in Biberach gab, waren sie aus den polnisch verwalteten Gebieten Schlesiens nach Oberschwaben gekommen, denn in die DDR, wo Tante Emmis Bruder mit Familie lebte, wollten sie nicht – gar nicht weit. Sie mußten ja nur über’s Lindele und die Lindelestraße hinuntergehen. Wäre Hitlerdeutschland nicht untergegangen, hätte es auch sie nie nach Biberach verschlagen.
- Sehr warmer, sehr schöner Frühsommertag fast schon, mit vielen weißen
Kumuluswolken, die im Blauen schwammen.
8.5.2002

7
Mai

7.5.2002

Die Summe, die ich zwischen 1971 und 1978 im „Strauß“ liegen ließ, muß beträchtlich gewesen sein. Erstens trank ich viel, erst Bier, schließlich eher Wein, zweitens waren Bier und Wein und Tee mit Rum ziemlich billig, viel billiger als heute, selbst im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten. (Der Viertelliter Rotwein kostete im „Strauß“ um die DM 2,30, und das war kein schlechter Stoff.) Das, was ich für die Zivildienstarbeit 1973 erhielt, und das war verdammt wenig, und jener Lohn, den ich als Werkstudent von April bis Juli 1974 bei der großen Biberacher Niederlassung des Stromlieferanten Energieversorgung Schwaben (später einer der größten Atomstromhersteller), verdiente, verschwand zum großen Teil, wenn nicht zum größten, in der breiten schwarzen Bedienerinnenbörse, wenn Barbara, und das war ja fast jeden Abend so, zum Schluß der Zecherei, in der drei oder vier halbe Liter Bier oder zwei bis drei Viertele Rotwein hinuntergeschluckt worden waren, abkassierte. Manchmal aß ich auch im „Strauß“, Jägerschnitzel mit Croquetten und künstlich aussehendem Gemüse dazu war für eine gewisse Zeit ein bevorzugtes Menü; und hatte ich am Vorabend mit der Trinkerei den Magen zu sehr strapaziert, denn zuhause öffnete ich nachts gerne noch ein Fläschchen Gerstensaft oder ich nahm noch etwas Wein zur Brust, dann bestellte ich eine Hühnerbrühe mit Ei, die ich vorsichtig schlürfte, dazu kam erst einmal nur ein Achtele Rotwein – Weißwein trank ich seltener – in Betracht; das änderte sich im Verlauf des Abends. Allein saß ich da doch selten, man hockte mit den anderen zusammen, quatschte über Politik und Kino, über Literatur weniger ausführlich, was ich auch nicht vermißte, denn Literatur hatte ich ständig im Kopf, soff, qualmte Zigaretten (`73 und `74 noch keine selbst gedrehten), wurde lebhafter und schließlich bezecht, ich; und das wollte ich so. Je länger der Abend wurde, umso besser wurde mir. Freilich trug ich mehr als nur einmal üble Räusche hinauf zur Lindelestraße; durch frische Frühlings-, laue Sommer-, kalte Novembernächte, in denen der Nebel so dicht wie in meinem Schädel hing, über die verschneiten Gehwege der Wielandstraße, des Bismarckrings, über die im Wäldchen entlang der Gaisentalstraße, im Überqueren der Gartenstraße, wenn die Fenster des Hauses, auf das ich unsicheren Schrittes zutaperte, schon nicht mehr erhellt waren. Vor Mitternacht kam ich damals fast niemals nach Hause. Manchmal nahm ich den anderen Weg aus der Stadt, erklomm den steilen Asphaltpfad, auf dem man vom „Biberkeller“ – wo diese Wirtschaft im Sommer ihre Tische und Bänke aufstellt, habe ich vor einiger Zeit beschrieben – ansteigt und hinauf zum östlichen Ende der Gartenstraße gelangt, nach links abbiegt und in westlicher Richtung geht, vorbei an den Gärten meiner Kinderzeit und -spiele. Auch in umgekehrter Richtung führte ich meine Schritte gern, sommers wie winters. Noch in den ersten Sechzigerjahrewintern standen rechts oberhalb des „Biberkellers“ hohe Balkenkonstruktionen, die, wie ich einmal beobachten konnte, aus einem Gartenschlauch mit Wasser bespritzt wurden; sofort bildeten sich lange Zacken und pittoreske Fahnen, die erstarrt von den Gerüsten hingen, als ich am Tag danach vorüber kam; mächtige Eiszapfen, zwei Meter lang, formten einen bizarren Vorhang, oder ein gigantisches Mordinstrument für einen Winterriesen, der in einer der am Gigelberg und in den südlichen Abhängen des Lindelehügels oft so versteckt, daß man sie nicht bemerkt, liegenden Höhlen noch schlief und irgendwann hervorkommen konnte. Diese Eiszapfen und Eisstangen wurden abgeschlagen und auf dem Anhänger eines Traktors fortgeschafft. Aus einer einzigen dieser Eisstangen hätte ich genug klirrende Würfel für alle Scotch- und Bourbon-Drinks meines Lebens, und das waren etliche, schlagen können. (Hätte sie ausgereicht?) Als ich sie damals sah, die Eisbalken, ahnte ich freilich noch nichts von meiner Affinität zu diesen äthylalkoholischen Drinks.
- Kühler und grauer Maitag.
7.5.2002

6
Mai

6.5.2002

In 21 Jahren meines Lebens war ich ein steter Kneipengänger. Im „Strauß“ begann das. Wenn ich daran denke, wie oft ich hinter dieser grauen Mauerecke – der Verputz dieses Gebäudes ließ es fast unansehnlich wirken, aber in jener Biberacher Zeit war die Stadt noch nicht so hell-pastell herausgeputzt wie in den heutigen Tagen, in der ganzen Innenstadt dominierte diese trübe Farbe, die diese alte Reichsstadt in Herbsttagen wie mit der Patina versunkener Jahrhunderte bestrich – saß !; denn an eben dem Tisch, der hinter ihr im „Strauß“ stand, saß ich sehr oft, dort war einer meiner Lieblingsplätze im „Strauß“, weil ich von ihm aus, im Halbdunkel des Gastraumlichts sitzend, denn das warme Lampenlicht über dem großen Tisch in der Mitte und das über dem Ecktisch links von diesem Platz in der hintersten rechten Ecke und auch das über dem kleinen Tisch, der direkt vor der Tür zum Nebenzimmer stand, drang nicht in voller Helligkeit heran, sodaß, wer dort saß, in einer schummrigen Zurückgezogenheit auf sein Bier oder Glas Wein wartete, das ganze Innenleben des „Strauß“ überblicken konnte.
Wenn ich in meiner Erinnerung an diesem Tisch sitzen bleibe und nicht zu einem der andern gehe und mich dort niederließe, wenn ich also aus dieser Perspektive den Gastraum beobachte, die, die in ihm sitzen, gehen, stehen, hereinkommen und hinausgehen, sagen wir: an einem Abend im Mai 1973 oder 1974, dann stelle ich fest, daß der Anblick der meisten dieser Körper und Gesichter mir vertraut ist, weil ich sie seit langem in ihren Haltungen, Bewegungen, Bekleidungen, in ihrer Mimik und Gestik kenne, denn wie ich gehen auch sie so häufig in den „Strauß“, daß ich meinen könnte, wir alle zählten zu einer Sippe vielleicht sogar. Es gab natürlich immer „Strauß“-Gäste, mit denen ich nie ein Wort wechselte. Aber begegnete man sich in der Stadt und ging man grußlos aneinander vorüber, was nicht hieß, daß das achtlos gewesen wäre, sondern es war nur der üblichen Distanzhöflichkeit geschuldet, dann wußte doch jeder vom anderen: „Der hockt auch jeden Tag im Strauß“, und ein bißchen Verbundenheitsgefühl stieg im Bewußtsein auf, während jeder seiner Wege ging; und ich behaupte, diese Verbundenheitsempfindung war, obwohl sie klein blieb, komprimierter als bei Stammgästen anderer Kneipen, denn allein daß jemand in den „Strauß“ ging, bedeutete, daß man von ihm annehmen konnte, daß auch sein Denken und seine Stimmungsfrequenz insgesamt auf der Wellenlänge lag, die jene Jugend für sich in Anspruch genommen hatte, die sich aber so was von deutlich von den Altvorderen und von spießigen Gleichaltrigen unterscheiden wollte. Und zu dieser Jugend kamen Ältere, die ihre frischen Ideen im Kopf mitbrachten; der Künstlerstammtisch, um den trotz dieser Bezeichnung gar nichts Dumpfes war, tagte im „Strauß“; und so entstand ein Fluidum, in dem und mit dem man sich gegenseitig beeinflußte und zum Leben antörnte. Dennoch – auch im „Strauß“, ich will es nicht verschweigen, gab’s langweilige Abende, in denen kein Gespräch einen Funken ergab; und manchmal hockte ich, frustriert, allein nach dem Kinobesuch an einem der Tische, das Lokal war, an einem Dienstag Abend (auf die nächtlichen Straßen fiel Landregen) spärlich besucht, zum Reden hätte ich keine Lust gehabt, und Barbara, die hoch gewachsene schlanke Wirtin mit den rassigen Gesichtszügen, trat an den Tisch heran und fragte rein rhetorisch, denn sie kannte meine Vorlieben seit Jahr und Tag: „Heilbronner, Klaus?“ Und ich nickte nur und sie ging und wußte, daß ich schlechte Laune hatte.
- Zunächst blieb’s trüb. Über die Mittagszeit lichtete sich’s auf. Bis zum Abend Sonnenschein.
6.5.2002

5
Mai

5.5.2002

strauss
Warum habe ich gestern geschrieben, ich hätte kein Foto vom „Strauß“? Wenn ich doch genau hätte wissen müssen, daß ich doch eines zur Verfügung habe? Dieses Foto, das ich hier abbilde, nachdem ich es mit einem gängigen Com­pu­­er­bild­be­ar­bei­tungs­pro­gramm links und rechts etwas be­schnit­ten ha­be, befindet sich doch schon seit län­ge­rem im Spei­cher meines 300-Mhz-AMD-Rech­ners. Manfred S. nahm diese An­sicht vom „Strauß“ in einem der Jah­re der Acht­ziger – aber ich werde ihn fragen, ob er sich erinnern kann, wann er dieses Fo­to machte – auf. Woher mein Mangel an Aufmerksamkeit, weshalb diese Verdrängungsversuche? Ich habe gestern nicht an dieses Foto gedacht (und es ist auch das einzige, das M vom „Strauß“ hat, das kann ich nun sagen, eine sehr alte Aufnahme, eine Postkarte, auf der, wie erwähnt, das Kesselhaus der Brauerei zu erkennen ist, die ihm vor vielen Jahren irgendwie in die Hände gekommen ist, ausgenommen, ohne mich wieder berichtigen zu müssen, denn wir sprachen vor Jahren schon eben über den Umstand, daß man damals nie auf den Einfall gekommen war, vom „Strauß“ Fotos zu machen, und daß dieses Foto damals entstand, ist schon beinahe als eine unabsichtliche und wenig die Zukunft bedenkende Handlung anzusehen), weil es nicht in meinem kleinen Fotoapparat entstand, in jener „Kodak Instamatic“-Box, die in ihrer Kleinquaderform an die Kästen der frühen photographischen Apparaturen erinnert (ich schreibe im Präsens, denn ich habe diesen Fotoapparat noch), die ich zur Konfirmation geschenkt bekam; wenn ich mich nicht, wie es gestern schon wieder vorgekommen ist, falsch erinnere, sogar von meiner Göttinger Verwandtschaft väterlicherseits? Dann wäre das Foto, das mich am Konfirmationstag in meinem Konfirmandenanzug zeigt, auf dem ich in einer Hand ein Buch halte, die Bibel vermutlich, mit der anderen mich am VW-Käfer mit dem GÖ-Autokennzeichen abstütze, aber so, daß eine lässig-elegante Haltung dabei natürlich gewahrt bleibt, eines der ersten Fotos, die mit dieser Kamera – eigentlich ist diese Bezeichnung für dieses einfache Modell, das mir aber über Jahrzehnte hinweg treue Dienste leistete, nicht angebracht – gemacht wurden? Und mit ihr lichtete ich auch die Ruine des „Strauß“ ab, im Januar 1996, weil ich für das Ankündigungsplakat der Lesung des Poems, das ich im Januar `96 aber noch schrieb, nachdem ich es im November `95 begonnen hatte, Aufnahmen von diesem traurigen Anblick haben wollte; und nicht nur für dieses Plakat, sondern auch, weil mir plötzlich bewußt geworden war, wie wichtig einmal diese Fotografien sein könnten. Klaus Leupolz fotografierte mich an einem anderen düsteren Januarnachmittag vor der auf diesem hier abgebildeten Foto zu sehenden „Strauß“-Ecke stehend; ich halte einen Schnellhefter in der Hand, der suggerieren sollte, daß sich in ihm der Anfang März dann vorgelesene Text befände. Sein Foto wurde zum Ankündigungsartikel der Presse veröffentlicht. Sein Foto sollte, denn weder er noch sonst jemand wußte um seinen Zustand, seine letzte künstlerische Handlung sein; zwei Wochen später stürzte er in der Nacht vor der geplanten Abreise nach Australien und Asien schwer von der Kellertreppe, und als er nach einer Woche genau untersucht wurde, hatten die Ärzte den Tumor entdeckt.
- Heute kam kein Sonnenstrahl durch die Wolkenschicht. Abends Regen.
5.5.2002

3
Mai

3.5.2002

Abends in den „Strauß“ zu sitzen war 1973 schon zu einem Verhalten geworden, das man gar nicht mehr befragte. Auch zu einem Ritual. Zu keiner der anderen Kneipen, die ich in den Jahren und Jahrzehnten meines Lebens in Biberach danach aufsuchte, hatte ich so ein inniges, ja intimes Verhältnis wie zum „Strauß“, der Gaststätte, die in Jahrzehnten, die vor meiner regelmäßigen Frequentierung lagen, zur „Brauerei Strauß“ gehört hatte, deren Kesselhaus, wie ich auf einer alten Fotografie, in einer Zeit später, als der „Strauß“ nicht nur für mich seine Bedeutung verloren hatte, sah, auf der anderen Seite der wirklich nicht breiten Consulentengasse gestanden hatte. In den Jahren, in denen ich abendlich und täglich – den Ruhetag am Donnerstag ausgenommen, und tatsächlich ging ich auch nicht wirklich jeden Tag hinein, aber fast – den langen Gastraum betrat, trank man in ihm das „Gögginger Bier“; von einer Brauerei im südwestlichen Zipfel von Oberschwaben, deren genaue Lage wir, und warum hätte sie uns auch interessieren sollen, Hauptsache war, daß das Bier mundete, damals nicht kannten; erst in den Neunzigern, erst, als alles das, was in den Siebzigern im „Strauß“ geredet, gelacht, agitiert, gedacht, getrunken worden war, sich seit langem nur noch als Erinnerungspartikel in meinem Gedächtnis festgesetzt hatte, fuhr ich einmal, als Manfred S. und ich in seinem Auto eine Spritztour zum Rheinfall bei Schaffhausen unternahmen, an eben dieser Brauerei vorbei. Beide erinnerten wir uns im gleichen Blick. „Von da also kam das gute Gögginger her“, sagte ich versonnen; ein paar Bilder aus jenen Abenden und Nächten legten sich zwischen die Landschaft, durch die wir fuhren, und meinen Augen.
Wie oft schon habe ich bedauert, daß ich damals keine Fotos vom „Strauß“ machte, festhielt, wie es in der Gastwirtschaft aussah! Auch keine Außenaufnahmen aus seiner Zeit Anfang der siebziger Jahre habe ich. Die Selbstverständlichkeit, mit der in ihn hinein- und hinausgegangen wurde, in der wir in ihm hockten, die Tatsache, daß er eben da war, ließen mich nie auf den Gedanken kommen, er könnte eines Tages verschwunden sein. Man nahm sehr vieles selbstverständlich in den jungen Jahren und dachte noch nicht daran, daß man sich eines Tages an etwas, das als das Natürlichste erschien, überhaupt erinnern würde, gar wollte. Dachten und handelten andere „Strauß“-Geher je anders, gibt es diese atmosphärischen Dokumente, die ich vermisse? Aber könnten uns Fotografien von einem oder mehreren der Abende im „Strauß“ uns die Wahrheit über die Stimmung in diesem für mich – und ich weiß: auch für andere – immer ein besonderer Aufenthaltsort gebliebener Raum in der Biberacher Zeit vermitteln; die vibrations, in denen er unsichtbar im Zeit- und Empfindungsgefüge, mit uns, die wir ihm unsere Stimmungen und Gedankenflüge zukommen ließen, indem wir in ihm und seinen Schwingungen uns aufhielten, seine Aura entfaltete? Proust mochte den Realismus, den die Photoplatte lieferte, nicht; „weil sie [die photographische Aufnahme] niemals zwei verschiedene Oberflächen oder Gegebenheiten vergleicht, kann sie keinen Zugang zu der Wahrheit bieten, die in das Blickfeld rückt, wenn man über die Zufälligkeit hinausgeht, auch wenn man dies dadurch erreicht, daß man zwei Photographien – oder Erinnerungen – einer Person in verschiedenen Umständen miteinander vergleicht“, wie Hayman Prousts Auffassung paraphrasiert. (Vgl. Hayman, Ronald, Marcel Proust, suhrkamp taschenbuch 3311, S.503.) „Die Menschen verändern uns gegenüber unaufhörlich ihre Position. In der zwar unmerklichen, aber unablässigen Bewegung der Welt betrachten wir sie in einem Augenblick, der zu kurz ist, als daß wir die Bewegung feststellen könnten, die sie vorantreibt, als unbeweglich. Wir müssen jedoch aus unseren Erinnerungen nur zwei zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder auswählen, die für sie so weit ähnlich sind, daß sie sich an sich nicht verändert haben, zumindest nicht merklich, und der Unterschied zwischen den beiden Bildern wird zu einem Maßstab für die Veränderung, die sie uns gegenüber vollzogen haben“, wie Proust selber formuliert. (Vgl. Haymann, a.a.O., S. 503; vgl. Proust, Marcel, Brief an Henry Ghéon, 2.1.1914, Corr., XIII., S.23.) Ich überlasse es der Leserin und dem Leser, darüber zu grübeln, ob die Fotografie nicht doch diese kleine Veränderung und die Wahrheit, die sie in sich trägt, leisten kann, aber wir müssen nicht erst Proust bemühen, wenn wir an der Wahrhaftigkeit von fotografischen Aussagen zweifeln; es ist uns möglich, aus diesen scheinbar so unverrückbar bleibenden „Zeitdokumenten“ eine beliebige Variation jener einstmaligen Sekunden herzustellen, bis eine dieser Möglichkeiten einer Situation uns in die – in der Regel dunklen – Zwecke paßt. Auch mit solchen Mitteln verändern die Technologien das, was mangels einer „harten“ Definition Zeit geheißen wird, die sich anhand dessen, was in ihr geschah, darstellt; und natürlich auch die Zeit, die ihre Lebensformen entwickelt hatte, bevor diese Technologie sie rückwirkend so arrangieren, daß die Historiker eines anstrengenden Tages Schwierigkeiten haben werden mit den Umschreibungen dessen, was sie „Geschichte“ nennen, weil ihnen – die Zeit dafür fehlen wird. Das wird dann die Zeit neuer dogmatischer Axiome sein. Aber ich will mich hier nicht leichtfertig in halbphilosophischen Sentenzen verlieren.
Ich muß also geradezu froh darüber sein, keine Fotografie vom Innenleben des „Strauß“ zu besitzen, denn sie könnte mir die erinnernde Imagination auch blockieren und sie um diese einzige von ihr angebotene Augenblickslage herum organisieren und andere Erlebnisse und Ereignisse – den Unterschied zwischen beiden erörtere ich nicht – zurückdrängen, vielleicht sogar vernichten. Weil die Erinnerung an das „Strauß“-Leben sich in mir tatsächlich immer wieder in neuen Konstellationen zusammenfügt, bewahren sie mir auch den Eindruck der Lebendigkeit, die an dem damals wichtigsten Ort der „Szene“ in der kleinen Stadt herrschte; das feeling der vibrations, die an diesem Ort durch die Seelen und Bewußtseine – möge sich jeder nun aussuchen, was ihm zutreffender zu sein scheint, die Erinnerung an diesen Ort läßt mich großmütig werden – zitterten.
- Vor allem war der untere Himmel mit nicht ganz dichten weißlich-grauen Wolken zugezogen, durch die etwas Bläuliches da und dort schimmerte.
3.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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