3
Jan

3.1.2002

Ich habe seit langem die Vorstellung, die Winter seien in der Zeit der Kindheit und Adoleszenz länger, jedenfalls schneereicher, auch kälter, gewesen als in all den Jahren danach, aber jedem Älterwerdenden dürfte dieser Eindruck vertraut sein; die Vorkommnisse, Umgebungen und Dinge sind in ihrer damaligen Erscheinung wichtiger und intensiver – erschienen, als sie oder ihre vergleichbaren Ausformungen in späterer Zeit sich zeigten; aber bestimmte Orte beispielsweise, Straßen, Häuser, Stadtbereiche, waren, trotz mancher kleinen oder vielleicht sogar größeren Veränderung, ja doch im wesentlichen die gleichen geblieben, nur hatten sie sich von unserem Auge, von unseren tagtäglichen, alltäglichen Blicken in ihrer stets zur Verfügung stehenden Ansicht abnutzen lassen, an ihrer relativen Unverrücktheit – und ich meine das auch in einem zweiten, psychologischen Sinn – langweilte das Auge sich im Fortgang der Zeit, sie wurden profan, der heilige Schimmer des Unbekannten, neu Überwältigenden hatte Patina angesetzt und war eines Tages überhaupt verschwunden, und in irgendeiner Sekunde, im Vorübergehen und -sehen, kann einem das plötzlich bewußt werden, und man wundert sich ein bißchen erstens darüber, und zweitens, was man früher hier Interessantes wahrgenommen hat oder zu sehen glaubte.
Fiel, ich denke nun an Januarabende in den Jahren 1965 oder 1966, Schnee aus einem dunkelnden und dann schwarzen Winterhimmel, machte ich mich oben in der Wohnung im Haus an der Lindelestraße schon mit dem Gedanken vertraut, in einer Stunde, oder auch erst in zweien, je nachdem, wie dicht der Schnee fiel und wie hoch er liegen bliebe, die Schneeschippe aus dem Abstell- und Fahrradraum im Souterrain zu holen und die Gehwege, die am Grundstück Lindelestraße 2 vorbeiführten (und -führen), von der weißen zarten Masse, die oft eine erstaunlich zähe und widerstandsfähige Konsistenz hat, ein wenig zu befreien. Während dann die Flocken, vom Wind getrieben und vorangewirbelt, durch den gelblichen Lichtbereich unter den Straßenlaternen herabsanken, schob und schaufelte ich die kristallinen Flächen zusammen, schuf Bahnen und zu deren Seiten kleine Wälle, vom Gartentor hinunter zur Gartenstraße, und auf dem dortigen Gehwegstück entlang des auf einer Mauer stehenden Holzlattengartenzauns bis zu jener schmalen hölzernen Tür, hinter der ein ebenso schmaler, im Sommer regelmäßig von den daneben sich hinziehenden Johannisbeersträuchern überwucherter Weg zum Haus führte; diese untere Gartentür wurde aber so gut wie nie geöffnet, dieser Zugang war für die Bewohner nicht wichtig gewesen.
Die Gegend dort ist an sich schon ruhig, gehobene Wohnlage, würde ein Immobilienmakler dazu sagen. Im Winter gegen 19 Uhr, zumal in einem Sechzigerjahrewinter, wenn der Schnee schon seit Tagen lag und immer neuer Schnee sich noch dazulegte, war es oft fast still. Ich schob, schaufel-te, schwitzte hin und wieder, aber nicht sehr, unter der Kappe, sofern ich eine trug, und ich muß sagen, es gab Minuten, in denen diese kleine Räumtätigkeit mir sogar einen versteckten Spaß bereitete. Mit einem Gefühl der Befriedigung, das ich aber – schließlich war diese Arbeit doch nichts anderes als eine lästige Bürgerpflicht – nicht zu deutlich werden ließ, sah ich, auf die Schaufel gestützt oder ich hatte diese wie eine abgebrochene Standarte vor mir in den Schnee gerammt, auf die von mir geschaffenen Vertiefungen in der abendlich-nächtlichen nächsten Umgebung (während der Schneepflug sich allmählich in diesen Straßenbereich vorgefressen hatte) und versuchte abzuschätzen, ob der Schnee, der vielleicht noch immer aus der Schwärze, wie von Nirgendwo, herunterschwebte, diese Einfräsungen, über die achtlose Zeitgenossen trampelten, in die Stadt hinuntergehend oder aus ihr heraufkommend, wieder auffüllen würde. Sehr selten war es notwendig, noch einmal hinauszugehen und sie sozusagen nachzuziehen. Wenn aber dann, die Nacht war tiefer geworden, inzwischen die Wolken sich geleert hatten und fortgetrieben worden waren und der klare Winterhimmel, der, der hinter der Atmosphäre liegt, seinen Schmuck offenbarte, sah ich nicht nur einmal von diesem Ort der Erde, immer neu erstaunend, hinauf (oder hinunter) zu den anderen Sonnen, die sich in den Entfernungen der Schöpfung glitzernd zeigten.
- Sehr viel Sonne, Zyrrhuswolken in der Bläue des Äthers, unter der auch wattige Archipele dahindrifteten.
3.1 2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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