2
Jan

2.1.2002

In den ersten Januartagen des Jahres 1971 wurde in Biberach ein Republikanischer Club gegründet. Der zweite RC, denn schon in den sechziger Jahren soll es, wie ich später erfuhr, einen für die Sechziger charakteristischen linksrepublikanischen Club gegeben haben. In Tübingen gab‘s einen, in Ulm, in Stuttgart, in anderen Städten Baden-Württembergs; in Berlin, Frankfurt, München... Etwas von den Bewegungen des linken Spektrums, die sich schon vor 1968 vor allem in den Universitätsstädten bemerkbar gemacht hatten, war offenbar schon damals auch in Biberach angekommen. In den Aktionen der APO meldeten sie sich dann auch in der oberschwäbischen Stadt unüberseh- und hörbar zu Wort und Bild. Bernd Häußler, zwei Jahre jünger als ich, wie wir bald feststellten, betreute die Kontaktadresse der örtlichen Gruppe des Verbands der Kriegsdienstverweigerer und hatte mir im Herbst 1970 die Adresse des Metzinger Rechtsanwalts Dr. Martin Bangemann gegeben. Ich brauchte für meinen Kriegsdienstverweigerungsprozeß vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen einen kompetenten Anwalt. Doch nicht B., sondern sein Kompagnon Gerhard Bansemer hatte meinen Fall übernommen, als Bernd mich am zweiten Weihnachtsfeiertag in der Lindelestraße 2 abholte. Wir gingen über den verschneiten Gigelberg, durchs Tal und wieder hinauf auf den Mittelberg zu Ulrich Weitz in der Weißhauptstraße, denn Bernd hatte ihm von mir berichtet und nun sollten wir uns kennenlernen, weil wir vielleicht gemeinsam etwas für die linke Bewegung tun konnten. Ulrich W. war einer der unbotmäßigen Schüler des Wieland-Gymnasiums gewesen, die zum Kern der Biberacher APO gehört und in dieser Eigenschaft ein paar Ausgaben des hektographierten Blättchens „Venceremos“ veröffentlicht hatten, von denen eine, mit Artikeln über die Sexualmoral „der Herrschenden“, also aller Spießer, die Befreiung der fortschrittlichen Jugend davon, anarchomarxistischer Theorie (gewagte Mischung sowieso) und Phalli gefüllt, für Aufruhr nicht nur an der Schule, sondern auch in der ganzen Stadt gesorgt hatte. Ulrich war groß, etwas schlaksig, seine dichten Locken verbreiterten den Kopf, er trug eine Brille, zeichnete – wie an den Phalli zu sehen – hervorragend und fuhr mit einem Mofa durch die Stadt, auf dessen Gepäckständer ich dann mindestens einmal eines Nachts vom Mittelberg zum Lindele kutschiert wurde. Arztsohn. Ein Prozeß wegen Verbreitung unzüchtiger und pornographischer Schriften und dergleichen war gegen die Blattmacher angestrengt worden, der Rechtsanwalt Dr. Bangemann hatte ihn jedoch in allen Punkten für die Angeklagten gewonnen. Dieser gewonnene Prozeß, in dem die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung gegen Spießermoral und den Versuch, unliebsame politische Ansichten zu unterdrücken, verteidigt wurde, kann durchaus als der Beginn eines veränderten politisch-kulturellen Selbstverständnisses dieser Stadt gelten; auch das graue und beschauliche, von der ländlichen Umgebung stark geprägte Städtchen war vom mächtig über die „westlichen“ Staaten fegenden Zeitgeist angerührt und aufgeschreckt worden. (Der Anwalt Dr. B war jener Dr. B., der Bundeswirtschaftsminister, FDP-Vorsitzender, EU-Kommissar, Telekommunikationsgesellschaftsvorstand in Spanien wurde und das alles jetzt nicht mehr ist.)
Ich hatte mit der Biberacher APO nichts zu tun gehabt und erinnere mich, sie sogar ein wenig verspottet zu haben: „Die Opas von der Apo“. Aber dieses Sprüchlein entsprang meiner Vorliebe für Sprachspielerei und sollte kein Kommentar zur bekannten Losung „Trau keinem über dreißig“ sein.
Dabei waren die Leute der Biberacher APO auch nicht sehr viel älter als ich. Zwischen 1968 und 1970 hatte ich schon einiges an marxistischer Literatur gelesen, auch Lenin-Bände hatte ich mir während der Besuche 1968 und 1970 in der DDR, in Radeberg und Dresden, gekauft, nicht nur – rote, nicht blaue – Werke von Marx und Engels, und ich verstand mich also zu jenem Zeitpunkt, zu dem ich U.W. kennenlernte, als junger Intellektueller fast schon marxistisch-leninistischer Provenienz, der, wie es den schönen Maximen entsprach, nach der Lektüre solch wegweisender Schriften wie „Staat und Revolution“, „Was tun“, „Womit beginnen“, „Linksradikalismus – eine Kinderkrankheit im Kommunismus“ und anderer, von der Theorie zur Praxis kommen wollte. So kam es, daß ich im Januar 1971 zum vierköpfigen „Kader“ (dessen Chefideologe U.W. war) des neu gegründeten RC gehörte, der es sich zur Aufgabe machte, die schon versprengten Reste der Biberacher APO und „freie Linke“ wieder zu sammeln, um, dieses Mal auf eine wirkungsvollere Weise als die „zu spontane“ APO, „der Bewegung in Biberach“ zu neuem Aufschwung zu verhelfen, sie eigentlich erst in die richtigen Bahnen zu bringen.
Im Wirtschaftsgymnasium machte ich Abitur. Das interessierte mich wenig, das wurde abgehakt. Die Sitzungen des Kaders, in denen die Direktiven und die Taktik für die nächsten „Schritte“ festgelegt wurden, die Vollversammlungen, die Installierung von Arbeitskreisen waren aufregender und wichtiger. (Und davon bin ich noch heute überzeugt). Es gab, wie überall in den politischen Dingen, Fraktionen, verschiedene Ansichten über die wahre Theorie und ihre revolutionäre Umsetzung, es gab Kampfabstimmungen, Austritte, Enttäuschungen, Machtgehabe. Vor allem gab es im Sommer schon weniger aktive Mitglieder, die Arbeitskreise – in meinem lasen wir „Lohnarbeit und Kapital“ und „Lohn, Preis, Profit“, die klassische Einstiegslektüre für Anfänger in marxistischer politischer Ökonomie – wurden erst spärlicher, dann gar nicht mehr besucht, und in den Sommerferien geschah dann aus verständlichen Gründen überhaupt nichts mehr, denn der RC hatte vor allem Schüler und Studenten in seinen allmählich gelichteten Reihen, und natürlich fuhren auch die jungen Angestellten, es waren wenige, und die älteren Genossen, sie waren noch weniger, in den Urlaub. So hatte ich Zeit für’s Lesen. Arbeitete mich, mit spitzem Bleistift, der Anmerkungen und Unterstreichungen produzierte, in Wochen durch „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie“ von Karl Heinrich Marx; den zweiten Band las ich zum Teil, den dritten kenne ich bis heute nicht. Einige dieser Freundschaften aus den kleinstadtrevolutionären Bemühungen jener Zeit hielten lange. Doch die politischen Ansichten differenzierten sich. H., Maoist, konnte sich mit der Tendenz des RC, zu einer revisionistischen Organisation zu werden, nicht abfinden. Er bestellte uns, nach Anfrage, ob Interesse bestünde, die Ausgewählten Werke des Großen Vorsitzenden Mao Tse-Tung, heute Mao Zedong genannt. Eine weibliche Person begehrte Auskunft, wie wir es mit Stalins Verbrechen hielten. Uli sagte, dazu würde ein Arbeitskreis, den ich leiten würde (davon wußte ich noch nichts), eingerichtet werden. Da war die Achillesferse jeder sozialistischen Politik berührt. Ich hatte von Dschugaschwili, der sich „der Stählerne“ nannte, etwas gelesen, mit Schaudern, eingedenk seiner Untaten und derer, die die „Säuberungen“, ein Begriff, der mir schon damals eher einer aus dem faschistischen Vokabular zu sein schien, überlebt hatten. Wir wußten einiges darüber, doch noch nicht alles. Der Stalinismus-Komplex, in seiner architektonischen Bedeutung innerhalb der kommunistischen Gedankengebäude wie in seiner psychologischen, wurde, was mir stets bewußt war, stets eher weiträumig umfahren, diente nicht der Sache, sich zu ausführlich mit ihm zu beschäftigen, wie wohl uns allen damals klar war, daß aus ihm die krankhaften Veränderungen wucherten, die alle Anstrengungen für eine sozialistische Gesellschaft zerstören könnten. Das Thema blieb, auch in den folgenden Jahren, auch nach Solschenizyns „Archipel Gulag“, dessen faktische Beweiskraft nicht widerlegt werden konnte, dessen antikommunistischen Motive jedoch zu offensichtlich schienen, als daß sie ernsthaft in die ständigen Diskussionen eingeflochten worden wären, tabu. Die Fehler Stalins waren auf dem XX. Parteitag der KPdSU verurteilt worden, damit waren diese Verirrungen (angeblich) besprochen und abgelegt; man rührte in den linken Gruppen nicht gern an dies Thema, von den maoistisch-stalinistischen Kleinparteien abgesehen, für die Stalin ein Held war, nicht nur der Sowjetunion, auch der Arbeiterklasse der ganzen bekannten Welt. Das fanden wir lächerlich. Der Arbeitskreis, der mir auch aus Gründen der Klärung des eigenen Standpunkts durchaus angenehm gewesen wäre, kam nicht zustande, und nach dem RC sowieso nicht mehr. Dann wurden aktuelle Dinge wichtiger.
In einer Wohnung am Alten Postplatz traf sich im Sommer und Spätsom-mer 1971 nur noch der hartnäckige innerste Zirkel, und uns war klar, daß der Republikanische Club seine letzten Tage hatte. Durch meine Mitarbeit an einer gewissen Zeitschrift kannte ich Freunde in Düsseldorf, denen ich vom Niedergang des RC schrieb; diese Freunde waren Mitglieder der Deut-schen Kommunistischen Partei. Sie besuchten mich. Horst P. referierte vor einem kleinen Kreis in der Wohnung am Alten Postplatz. Während des Herbstes reifte in Uli und mir der Entschluß, in Biberach eine örtliche Gruppe der DKP einzurichten; auf jeden Fall eine Gruppe der SDAJ, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, die quer über die damalige Bundesrepublik, selbst in kleineren Städten, Zulauf hatte, zu gründen. Das wurde getan. Niemand von den übrig gebliebenen RC-Mitgliedern schloß sich dieser für Biberach schon wieder neuen linken Gruppe an. Noch nicht in Erscheinung getretene Interessenten wurden rekrutiert, neue Treffen anberaumt, im „Strauß“ an der Consulentengasse wurde bei Bier und Wein agitiert. Mit der Zeit entstand eine kleine, ziemlich stabile und organisationsbewußte Gruppe, über die zunächst ich residierte und in deren Angelegenheiten ich manchmal nach Ulm zum Bezirksvorstand und nach Stuttgart zum Landesvorstand fuhr. Die Mitglieder, die nach einem Jahr noch dabei waren, die blieben. Die Gruppe richtete auch einige größere Veranstaltungen aus – zum „Radikalenerlaß“ der SPD/FDP-Koalition, zum Putsch in Chile, bekannte linke Rockmusikgruppen wie „Hotzenplotz“ und „Volksmusik“ spielten auf –, bis auch sie sich, und die noch kleinere DKP-Gruppe, die sich parallel, aber mit fast identischer Personalstruktur, dazu bewegte, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als ich mich von beiden Organisationen schon distanziert hatte, aus der politischen und kulturellen Topographie Biberachs verabschiedete; zu einer Zeit, als ein allgemeines Abflauen des Interesses an sozialistischen Alternativen zu registrieren war, nicht zuletzt wegen der voluntaristischen Terroristenidiotie von RAF und Roten Zellen und der darauf reagierenden Staatshysterie mit ihrer Jagd auf „Sympathisanten“, zu denen auch ein Böll gezählt wurde, mit der Aufrüstung von Legislative, Judikative, Exekutive.
- Ein heller Sonnentag in Berlin, blau, Elfenbeinwolken in langen Strähnen, manchmal etwas hellgrau übertüncht.
2.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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