31
Dez

31.12.2002

Nach den Weihnachtstagen von 1977 saßen Simca G., Henri H. und ich im „Alten Haus“ und dachten an Sylvester. Wie diese Nacht hinter sich bringen? Simca studierte inzwischen in ....; hieß die Stadt nicht München? Ich kannte sie seit den linksradikalen Jahren am Anfang des Jahrzehnts. Henri H., ein nicht sehr großer Typ mit rundem Gesicht und einem kurz geschnittenen Vollbart darin (ein Hetero wie alle die ich kannte), hatte die Angewohnheit, die Meinungen, die er vertrat, in dezidiertem Ton vorzutragen, als gäbe es von dieser seiner Meinung keine mögliche Abweichung. „So läuft das“, oder „da kannst du drauf warten, daß es so kommt“, sagte er, selber völlig überzeugt davon, und griff nach dem Bierglas. Ich bemerkte hin und wieder, daß dieser Tonfall, dieses Überzeugtsein von der richtigen Sichtweise eigentlich banaler Vorkommnisse mir auch nicht fremd war, und eher habe ich es seit jenen Tagen noch deutlicher werden lassen. Ja? Aber mit H.H. hatte das nichts zu tun, wir waren uns darin nur ein wenig ähnlich. Wir überlegten also, was in der Sylvesternacht zu tun sei und vereinbarten, etwas Geld zusammen zu legen und eine gemeinsame Party in meinem Zimmer im Haus in der Karpfengasse zu geben. Am 31. Dezember fuhren wir mittags in einen großen Supermarkt am Rand der Stadt – Simca fuhr, H.H. hatte wieder einmal ein Auto demoliert und war ohne Führerschein – und luden Alkoholika und Knabberzeugs in Körbe und schleppten eine halbe Stunde später alles in mein Zimmer hinauf. Ich stellte ein paar Möbel anders hin, um Platz zu schaffen, schloß am Nachmittag das Zimmer ab (im Frühjahr waren eine Menge Jazz-Platten von Markus M. und ein paar von meinen alten Pop-Platten am Tag nach einem anderen Umtrunk aus meinem Zimmer geklaut worden, es bedurfte ja nicht sehr weitgehender Kenntnisse, um das alte Schloß zu öffnen) und ging zur Wohnung im Hühnerfeld, wo ich, Wein trinkend, lesend in meinem Raum, die Zeit zubrachte, bis nach zwanzig Uhr meine Mutter das Sylvesteressen auf den Tisch stellte. Danach spazierte ich in die Stadt hinunter in die Karpfengasse. In den Straßen und Gärten knallte und zischte es selten; es herrschte noch, wie zu jedem Jahresende, die Ruhe vor dem Sturm. Nach neun Uhr am Abend trafen die ersten Partyleute ein. Der Kater Panama versteckte sich unter einer ausrangierten Kommode im Flug, die Hektik verschreckte ihn. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn wieder ins Zimmer zurück, wo er sich in eine Ecke verkroch. Ich wollte nicht, daß er aus dem Haus abhaute, wie er es schon zweimal in den Jahren, die ich dieses Haus bewohnte, getan hatte und ich tagelang in Sorge gewesen war. (In den Jahren im Appartment im fünften Stock wollte er dann immer, wenn sich Gäste um den Holztisch von Herbert Kohout versammelten, dabei sein und legte sich gemütlich neben den Stuhl, auf dem ich saß, so daß ich über ihn hinweg steigen mußte, wenn ich eine neue Flasche oder ein frisches Glas aus der Küche holte; er rührte sich.) Allmählich füllte sich mein Karpfengassenzimmer mit Leuten an. Markus hatte wider bessere Erfahrung seinen Plattenspieler und zwei Boxen herein getragen und aufgestellt, Jazz pulsierte durch das Haus, denn oft genug blieb die Tür offen stehen, die ich wegen der Kälte, die auf dem Gang hockte, und wegen Panama immer wieder schloß. Es kamen Leute, die ich kaum kannte, die zu Simcas Freundeskreis gehörten oder die sich hatten sagen lassen, daß in der Karpfengassen-WG eine Party stattfand. Doch störte mich das nicht. Es war ein offener Abend; auf dem bemerkenswerterweise kaum etwas zu Bruch ging. Gegen später trank ich nur noch Scotch, wurde aber nicht betrunken, was ich auch nicht werden wollte, denn bei solchen Festen, bei denen ich zu den Gastgebern gehörte, behielt ich gern den Überblick. Die Körbe mit den vollen Flaschen wurden geleert, Salzstangen und -brezeln und allerlei Partygebäck gemümmelt. Ungefähr fünfzig Leute kamen und gingen während der Nacht, hielten sich eine Weile im Zimmer auf, traten hinaus, kamen wieder. Spät, der Morgen war nicht mehr fern, saß ich in einem der blauen Sessel im hinteren Teil des Raums, drehte das Whiskyglas in den Fingern und plauderte mit Charles, meinem ehemaligen Zimmernachbarn, der zu den Feiertagen zum Elternbesuch in das Dorf in der Nähe von Ochsenhausen angereist war, erzählte ihm viel von Prousts „Recherche“. Jahre danach sagte er mir, daß dieses Morgengespräch ihn dazu veranlaßt habe, sich dies Werk der Erinnerung zu kaufen und zu lesen. Hinter den beiden Fenstern stieg der Neujahrsmorgen mit grauem Licht auf; niemand wußte, was nach ihm im Leben geschehen würde.–
So viel Zeit ist vergangen ...
Es wird also wieder ein Jahr beginnen, eine Zahl wird sich verändern, und ein neuer Zyklus, der mit Krieg anfängt, kann nur für jene ergiebig sein, die daran verdienen. Während die einen ihre Restillusionen verlieren, stürzen andere sich freudig in ihre neuen hinein. So ist auch das vor den Pforten schon wartende Jahr kein neues, sondern ein eigentlich längst altbekanntes, das die Wiederkehr des Immergleichen, mit Talmi aufgeputzt trügerisch glänzend, mit Orden für’s Morden, mit der frechen Zurschaustellung der weltlichen Legitimität von Raubgier und Machwahn, zelebrieren will. Die Menschen bleiben sich ja auch immer gleich, wieso sollten Jahre es anders halten? Nur die Spiegelungen und Widerspiegelungen auf den Oberflächenstrukturen, die Erlebnis, gute Geschäfte, verheißen, reflektieren ein wenig anders, verschieben ihre Trugbilder in eine weitere Variante der Verzerrungen hinein (die man „die Wechselfälle des Lebens“ nennt), aber sonst bleibt sich alles gleich. Etwas Neues ist ja nur die Ausgeburt von etwas Altem; wenn das Alte zu spät gebiert, könnte das Neue eine Fehlgeburt sein. Und gebiert das Alte zu früh, kann man eines Tages – „eines schönen Tages“ – das Neue vom Alten kaum unterscheiden. Aber das ist nur Raisonnement am äußersten Rande eines Jahrs; in dem ich durch viele Jahre gegangen bin – in meiner Biberacher Zeit.
- Ein sonnenstrahlender Tag mit sehr kaltem Wind.
31.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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