11
Sep

11.9.2002

Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär unter dem General Pinochet und mit Unterstützung der CIA gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung von Präsident Salvador Allende. Ich hörte am frühen Nachmittag aus dem Radio davon und machte mir sofort Stichworte für ein Flugblatt, das am nächsten Tag in der kleinen Stadt an der Riß verteilt werden mußte. Am Telefon der unteren Mieter vereinbarte ich dann mit dem jungen Genossen Roland A., Auszubildender in einer großen ortsansässigen Firma und nicht aus Biberach, daß ich sogleich zu ihm kommen würde (glücklicherweise war er aus irgendeinem Grund zuhause und nicht in der Firma, und ich mußte das wissen, sonst hätte ich ihn nicht antelefoniert), damit wir gemeinsam dieses Flugblatt ausarbeiten konnten. Warum textete ich es nicht allein? Weil die Genossen bei der ersten Erörterung dieses Vorfalls unverzüglich miteinbezogen werden mußten und weil – aber dessen bin ich mir nicht sicher – bei ihm die Matrizenabzugsmaschine stand und die Matrizen und die nach Azeton riechende Flüssigkeit, die für die Abzugsprozedur benötigt wurden, lagen. Wir waren elektrisiert: faschistischer Putsch in Chile! In flammenden Formulierungen empörten wir uns gegen diesen verbrecherischen Akt. Unsere Gedanken waren bei den Genossen in Chile, wir konnten uns vorstellen, wie es ihnen in diesen Stunden erging. Am folgenden Tag verteilte die SDAJ-Gruppe die Flugblätter auf dem Marktplatz. Die Bürger und Kleinbürger waren an diesen unmenschlichen Vorgängen nicht interessiert und äußerten höchstens ihre Zustimmung zum Putsch. Sowas kannten wir ja. In den Septemberwochen gingen in anderen Städten linke Gruppen und Organisationen, sogar die Jungsozialisten, wenn ich mich nicht täusche, auf die Straße, und hieß der Vorsitzende der Jusos damals nicht Gerhard Schröder? „Freiheit für Luis Corvalan!“, lautete eine der Hauptforderungen auf den Transparanten der DKP und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend. Corvalan war der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles und war sofort ganz im Süden Chiles interniert worden, während gleichzeitig die „Colonia Dignidad“, eine von Deutschstämmigen bewohnte Siedlung, eine der schlimmsten Folterstätten wurde. Damals galt die uneingeschränkte Solidarität den Opfern der faschistischen Diktatur und des USA-Imperialismus, der hinter den rechts-radikalen Offizieren die Fäden zog. Auch ein Herr Dr. K., deutschstämmiger Jude und damals Außenminister der Vereinigten Staaten, war maßgeblich daran beteiligt. Aus Opfern werden zuweilen Täter. Dieser Dr. K. war ein Dr. Seltsam der besonderen Art. Nach dem 11. September 2001 sagte er ja einmal mehr, die USA würden ihre Freunde nach ihrem Verhalten beurteilen. Die Mörder-Generäle schienen demzufolge recht gute Freunde gewesen zu sein. Viele Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, Studenten wurden im September 1973 und in den Monaten danach bestialisch gefoltert und umgebracht. Auch dieser Terror-Krieg war ganz im Sinne der reaktionärsten Kapital- und Regierungskreise in den USA; übrigens wohl auch in der so sehr demokratischen Bundesrepublik. Wenn man nun heute der Opfer des Attentats auf das World Trade Center in New York vor einem Jahr gedenkt, und auch dieses Verbrechen war schrecklich, und wer es beging, weiß man noch immer nicht und will man vermutlich inzwischen auch gar nicht mehr wissen, weil es unschöne Fragen zu seiner Instrumentalisierung aufwürfe, und es wird auch neue Verbrechen gebären, sollte auch der Ermordeten und auf immer spurlos Verschwundenen in Chile gedacht werden; das fällt aber, außer einigen wenigen neben mir, niemandem ein.
- Ein sonniger Septembertag.
11.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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