11
Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (11)

Wenn ich mich nicht täusche und ich wüßte heute niemanden, den ich fragen könnte, so wurde ich im letzten Jahr meiner Grundschulzeit Anfang der Sechziger zu so einem "Wölfling". In jenem Jahr fand der Unterricht in einem Kellerklassenzimmer, so muß man diesen Ort wohl bezeichnen, der Pflugschule in der Wielandstraße, die damals "meine" Grundschule war, statt; durch einen langen Gang erreichten Schüler wie Lehrer eine kleine Treppe mit nur drei oder vier Stufen, hinter der das Klassenzimmer lag. (Eine meiner frühesten Erinnerungen an die ersten Schuljahre ist die, daß ich auf die Frage des damaligen Lehrers, Herr B., einem in jenen Tagen zur Korpulenz neigenden Mann zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr, was ich – er fragte reihum – in den letzten Tagen gelesen hätte, antwortete, meine Lektüre sei das dicke Lexikon, das meine Mutter gekauft hatte, gewesen; ich hatte Wörter konsumiert. Der Lehrer schmunzelte, als er das hörte und ließ auch eine lobende Bemerkung fallen, während ich – dieses Klassenzimmer befand sich in einem der oberen Stockwerke des hohen Gebäudes – durchs Fenster auf die Häuser und den Hang, der sich gegenüber der Pflugschule Richtung Birkenharder Straße zieht, sah. Das war gewesen, bevor der Unterricht im Keller war; war er bei Frau K. aber gar nicht.)

Wie lange gefiel mir mein christliches Pfadfinderleben? Im 14. Lebensjahr wohl verlor ich dann das Interesse. Die Vorleseabende in der "Bärenfalle" oder einem der anderen mit reichlich zerschlissenem Mobiliar ausgestatteten Räume, in denen wir von Mowgli und Balu, dem Tiger Shir Kahn, der Schlange Kah, dem Affenkönig King Louis hörten, wechselten sich mit den Abenteuern in freier Wildbahn ab, aber fanden nicht auch sie vor allem im Kopf statt?

Einmal waren wir auf "Schnitzeljagd", aber was da gejagt und gesucht und vermutlich auch gefunden wurde, ist mir entschwunden, am Nachmittag und frühen Abend eines Martinimarkt-Novembertages und ich sehe uns wieder durch die grauen Gassen der Innenstadt, an einem typisch grauen Herbsttag, schleichen und hetzen, mit einer Phantasiewelt im Kopf, wie man sie so intensiv und wichtig nur in solchen Jungenjahren erleben kann. Auch in den späteren Jahren entwickeln wir hin und wieder blühende Szenarien, nicht zuletzt deshalb, weil wir uns immer eine Fluchtmöglichkeit aus dem für unzureichend empfundenen Stand der Dinge offen halten wollen, aus denen wir – manchmal gar nicht so ungern, denn unsere Träumereien verlangten von uns ja, würden wir sie tatsächlich zu einer künftigen Wirklichkeit werden lassen, ein gehöriges Stück Zusatzarbeit und auch das Zurücklassen von vielem, was unser bisheriges Leben war und ist, was die allermeisten, der sich in diesen Phantasmen Ergehenden aufgrund des unerbittlich agierenden Alltags dann doch nur noch als eine weitere Zumutung ansehen und vermeiden, – in unsere vorhandene Erfahrungswelt der altvertrauten Straßen, Gassen und Seelenzustände mit dem bedauernd-gelassenen Gefühl eines wenigstens halbwegs auf seine Kosten gekommenen Ausflüglers zurück gleiten.

23.11.2000
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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