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Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (8)

Die Kindheit liegt als langer dunkler Traum zurück, aus dem sich wenige Bildersequenzen zeigen. Leider ist die erste davon vage und unscharf, und das ist wohl aus dem Schrecken, den jenes Erlebnis mir verursachte, zu erklären; jene, als ich vielleicht fünf Jahre alt war, als meine Eltern sich eines Abends stritten. Ich hatte wohl etwas Lautes gehört, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte und tappte dann in den Wohnungsflur hinaus. (Alle die Jahre, die ich in jenem Haus lebte, bewohnten wir – meine Mutter, mein Erzeuger, der aber ein separates Zimmer hatte, das größte der Wohnung, das in meinem Kinderbewußtsein als wie außerhalb der Wohnung liegend einen besonderen Ort einnahm, ab Mitte der fünfziger Jahre auch meine Großmutter, ich – immer den ersten Stock des Hauses, der von außen wie das zweite Stockwerk wirkte, weil die untere Wohnung so sehr Hochparterrre war, daß man denken konnte, sie läge im ersten Stock.) Im Flur schrie mein Erzeuger lautstark auf meine verschüchterte, von all den Enttäuschungen mitgenommene Mutter ein, riß dann mit einem Ruck die Hutablage der Garderobenvorrichtung von der Wand und schleuderte sie von sich, wüste Worte ausstoßend. Das Vorhaben, sich scheiden zu lassen, das mein Erzeuger inzwischen betrieb, und dessen Verlauf sich für ihn ungünstig entwickelt hatte, war vermutlich der Grund für den nächtlichen Wutausbruch gewesen. (Er verlor später den Prozeß.) Ich stand im Flur und sagte ernsthaft zu diesem Mann, der meine Mutter auf solche Weise, und nicht zum ersten Mal, beschimpfte: "Du darfst meine Mama nicht töten."

Ich erinnere mich genau, wie ich dann, jahrelang, manchmal zur Stunde, in der sich jener Vorfall ereignet hatte (das erfuhr ich freilich erst als Erwachsener von Frau H.), in somnambulem Zustand aufstand und wie aus der Welt gerückt im Schlafzimmer, in dem auch meine Mutter und Großmutter nächtigten, aber auch in anderen Teilen der Wohnung herumirrte. Zwar hatte ich in solchen Zuständen, in denen ich zu schweben schien, als hätte ich keinen Boden unter den Füßen, oder in denen ich sofort, im nächsten Augenblick, in unergründliche Tiefen stürzen würde, was mir heftige Angst einflößte, die besorgten Stimmen meiner Angehörigen durchaus gehört und ich sagte wohl auch etwas zu ihnen, aber eine Verbindung zwischen ihnen und mir und in ungekehrter Richtung ließ sich nicht richtig herstellen. Frau H., jene Schwäbin, die, trotz einer Freundschaftskrise, die meine Mutter in den späten sechziger Jahren hatte heraufziehen lassen, dennoch ihre treue Freundin geblieben war – und wie oft hatte ich als Kind, aber manchmal noch als Jugendlicher von dreizehn oder vierzehn Jahren, an ihrem Mittagstisch in der "Eßdiele" gesessen, mit ihren Kindern, den Töchtern E. und F., dem Sohn H., die mir gleichaltrig waren! –, sagte mir in den Neunzigern, meine Mutter habe es abgelehnt, mich von einem Psychologen behandeln zu lassen; aus Gründen, die man, bedenkt man die Stigmatisierung seelisch-psychischer Auffälligkeiten, gut nachvollziehen kann und wofür ich ihr im Nachhinein wahrscheinlich dankbar sein kann.

Vom Leben meiner Großmutter weiß ich fast nichts. Sie und ihr Mann – der erste oder der zweite? – besaßen einen Hof in Niederschlesien und einen Kolonialwarenladen. Ihr erster Mann, Hoffmann, habe sich in jüngeren Jahren oft in Italien aufgehalten, wie mir erst kürzlich eine meiner Tanten Auskunft gegeben hat. (Ihr Vater und der meiner zweiten Tante G. war der zweite Mann meiner Großmutter gewesen, auch das habe ich erst in Berlin erfahren. Ich wußte nie, daß meine Tanten Stiefschwestern meiner Mutter waren. Wie wenig man als Kind gesagt bekommt.) Ich habe eine Fotografie (eine von sehr vielen aus einer Vergangenheit, die stumm für mich bleibt, weil ich weder die Personen, die auf ihnen sich präsentieren, noch irgendwelche Geschichten dazu kenne), die ihn in einem gutgeschnittenen Anzug, mit breitkrempigem Strohhut und einem eleganten Stöckchen in einer Hand zeigt. Kaufmann sei er gewesen und er sei auch herumgekommen, in Italien soll er gewesen sein, wie Frau H. mir einmal gesagt hat, er habe sich – ich weiß nicht wann, warum, nie hätte meine Mutter davon zu mir gesprochen – das Leben genommen. Meine Großmutter war mittel-groß, in ihren letzten Jahren füllig, mit einem runden Gesicht und langen schwarzen Haaren (mischte sich nicht auch etwas Grau hinein?), die sie oft zusammengerollt und -gesteckt trug. Ich kann mich nur an wenige Szenen mit ihr erinnern. Eine davon ist die, in der sie mir (im kleinen Zimmer, das erst Jahre später mein Zimmer werden sollte) beim Schreiben der ersten Buchstaben und Wörter half. Ich sehe mich am großen Tisch sitzen und in linierte Din-a-4-Hefte As, Bs, Fs, Rs, eben alle Buchstaben hineinschreiben; ab und zu mißglückte einer, der durchgestrichen wurde, daneben setzte ich das selbe Zeichen in einem neuen Versuch. Mit sanften Worten begleitete die Großmutter diese ersten Ausgestaltungen der Schriftsprache. Bestimmt hatte ich mir die Buchstaben laut vorgesagt, während ich sie malte.

Eine andere Begebenheit, eine, die mir aufgrund wieder eines Schreckens im Gedächtnis blieb, war ihr Ohnmachtsanfall am oberen Ende einer Treppe in einer düsteren Gastwirtschaft – lag sie in der Ehinger-Tor-Straße? –, die wir eben hinaufgestiegen waren, um eine Veranstaltung des "Bundes der Vertriebenen", in dem meine Mutter Mitglied war und einige Jahre danach auch das Ehrenamt der Kreiskassiererin innehatte, zu besuchen. Entsetzt hatte meine Mutter aufgeschrieen, andere Leute, die sich auf dem Flur befanden, gingen aufgeregt hin und her, bückten sich zu meiner Großmutter hinunter, und wegen der allgemeinen Bestürzung und auch weil Mama in Tränen aufgelöst war, vergoß auch ich, weil das Wort "sterben" von irgendwo, halb geflüstert, halb erstickt, an meine Ohren gelangt war, Tränen. Jemand nahm mich zur Seite, während meine Oma, die ich ja gern hatte, aufgerichtet wurde und sich wieder, erwacht aus der Bewußtlosigkeit, besser fühlte. Mich aber hatte eine schlimme Vorahnung gestreift: die Ahnung, daß meine Großmutter sterben könnte, ja sterben würde, und vielleicht würde es gar nicht mehr so lange dauern, bis diese Ungeheuerlichkeit wahr werden würde. Auch merkte ich meiner Mutter an, daß sie ebenfalls von diesem Gedanken plötzlich erfaßt worden war, und dies verstärkte meine minutenlange Verstörung. Ich hatte mich aber bald wieder, wie alle Beteiligten, gefangen; und wie jener Abend dann noch verlief, kann ich nicht sagen, die folgenden Umstände liegen hinter einem Vorhang des Vergessens.

15.10.2000
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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