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Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (4)

Im Haus Lindelestraße 2 wohnten meine Mutter und ich bis zum Oktober 1975. Ich war 24 Jahre alt, als wir von dort in ein Neubaugebiet, "Hühnerfeld", am südwestlichen Stadtrand gelegen, umzogen, in eine Drei-Zimmer-Wohnung, die vom städtischen Liegenschaftsamt verwaltet wurde. Der Auszug aus diesem Haus, das nach dem Ersten Weltkrieg als Förstereihaus eines der ersten Gebäude gewesen war, die dort am Südhang des Lindele, jenem höchsten Hügel der Stadt, gebaut worden waren und das nach der Förstertochter später "Villa Erlenmayer" genannt worden war, fiel meiner Mutter sehr schwer; ich hingegen fühlte eher Erleichterung, der "alten Hütte" Lebewohl sagen zu können, denn allmählich hatten mich die größeren und kleineren Unzulänglichkeiten des Altbaus, an dem der ockerfarbene Verputz seit Jahren schon bröckelte und dessen Dach nicht nur an einer Stelle – eine davon befand sich über meinem Zimmer – undicht war, so daß schon einmal in den sechziger Jahren Regenwasser, damals im Wohnzimmer, seinen unregelmäßig geformten Kreis an die Zimmerdecke zeichnen konnte, zu stören begonnen. Der Umzug in eine Neubauwohnung mit Zentralheizung, von meiner Mutter immer wieder aufs neue beklagt, war aber nun nicht mehr zu verhindern. Der neue Besitzer – einigen Entscheidungsbefugten der Stadt Biberach, die die Immobilie vom alten Hauseigentümer geerbt hatte, war es günstig erschienen, sie dem damals neu bestallten Stadtbaudirektor K. zu verkaufen – hatte seit dem Sommer im Hochparterre und Keller des Hauses mit einiger Rücksichtslosigkeit gewerkelt. Zuweilen kroch die Wut in mir hoch, wenn der Lärm das erträgliche Maß längere Zeit überschritten hatte, doch obwohl ich, trotz meiner Erziehung zu Höflichkeit und Zurückhaltung, keinesfalls auf den Mund gefallen war, wenn der geneigte Leser versteht was ich meine..., und diesbezüglich auch während meines nicht freiwilligen Aufenthalts bei der Bundeswehr hinzugelernt hatte..., hielt mich der Gedanke an eine durch meine Intervention noch unerquicklichere Situation, unter der die kränkelnde Mutter zusätzlich gelitten hätte, vor einem Gang nach unten zurück.

Aber – am Umzugstag war ich dann nicht dabei, ein Drama für meine Mutter, und ich mußte meine Absicht tagelang verteidigen. Wegen eines Buchprojekts beim S. Fischer Verlag, das in schwierige Gewässer geraten war, hatte ich unbedingt zur Frankfurter Buchmesse zu fahren, die zeitgleich begann. Zwei Tage lang verstaute ich meine Dinge, überließ Uwe W., dem befreundeten Inhaber eines "Informationsbüros", das er im Erdgeschoß des Hauses Karpfengasse 24 in der Innenstadt betrieb, stapelweise gesammelte Ausgaben von "Spiegel", "Konkret", "Zeit" und "Frankfurter Rundschau", die wir aus meinem Zimmer zu seinem Auto trugen, mit dem er, Bernd H. und ich einen Tag später nach Frankfurt fuhren. Auf der Autobahn bei Kirchheim/Teck flog ein Stein, vom Reifen eines überholenden PKWs nach hinten geschleudert, in die Windschutzscheibe seines kleinen NSU-Gefährts; die zerbröselte, wir kamen mit dem Schrecken noch einmal davon. Es dauerte fast zwei Stunden, bis eine Werkstatt in Kirchheim eine neue Scheibe eingesetzt hatte und wir die Fahrt fortsetzen konnten. (In den achtziger und neunziger Jahren war W. Redakteur einer Reutlinger Zeitung, sogar in leitender Position, Mitte der neunziger Jahre starb er an Krebs.) – Als wir zurückkamen und Uwe mich zur neuen Wohnung chauffierte, spürte ich doch etwas Wehmut, wie ich mir eingestehen mußte, denn mir wurde die Zeitzäsur klar: Kindheit und die längste Zeit meiner Jugend lagen hinter mir.

28.8.2000
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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