28.12.2002
Ich habe am frühen Abend in Pleschinskis Roman geblättert und gelesen. Auch eine Erinnerungsgeschichte. Beiläufig stieß ich auf die Seite, in der der österreichische Schauspieler und Rezitator Helmut Qualtinger erwähnt wird; sofort fiel mir meine Begegnung mit ihm ein. Zum Beginn des März des Jahres 1979 wurde im „Urania“-Kino der opulent aufgemachte, inhaltliche jedoch dünne Film „Grandison“ des Stuttgarter Regisseurs Achim Kurz gezeigt, und Qualtinger spielte eine tragende Rolle darin. „Carl und Rose Grandison, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, haben es mit Hilfe von Hochstapler- und Gaunerfertigkeiten erreicht, im Heidelberg des beginnenden 19. Jahrhunderts als angesehene Bürger der feinen Gesellschaft zu leben und Hof zu halten“, wie ich in meinem Zeitungsbericht über die Premierenfeier, datiert mit „3.4.79“, schrieb. „Nicht alles lief letztlich so ab, wie es hätte sein sollen“, begann ich ihn, „aber es war ja trotzdem ein sogenanntes gesellschaftliches Ereignis: Die Gala-Premiere des deutschen Großfilms ‚Grandison‘, mit der anschließenden Feier in der Stadthalle. Jean Rochefort, neben Marlene Jobert und Helmut Qualtinger Hauptdarsteller, konnte zum Termin nicht kommen, und die Midnight-Show von Evelyn Künneke konnten wir auch nicht goutieren, weil deren Agentur offenbar manchmal Termine durcheinander bringt.“ Es war ein kalter Märzabend, und auch die Stadthalle, ein Klotz in der schon zur Bauzeit Mitte der siebziger Jahre überholten Betonarchitektur, war nicht besonders gut geheizt. Ich weiß das noch, weil ich stets kälteempfindlich war und bin. Nicht nur aus diesem Grund hatte ich schon reichlich Alkohol im Kopf. „Eines Tages jedoch“, so fahre ich in meinem Zeitungsartikel fort, „kommt Carl auf den krummen Weg, in Berlin wird er verhaftet; er begeht Selbstmord. Seine Frau widersteht lange Zeit den Verhören von Dr. Pfister, dargestellt von Helmut Qualtinger, der weiß, daß Roses Mann tot ist, der ihr dies jedoch ein Jahr lang, in dem er versucht, sie zu einem Geständnis zu bewegen, verschweigt. Die Grandisons gab es einmal; der Film orientiert sich an alten Gerichtsakten.“ Und weiter: „Helmut Qualtinger war Stargast. Vor dem Film las er im ‚Sternchen‘ für ein gewisses Publikum aus seinen Texten; Szenen vom wienerischen – und österreichischen – Kleinbürgercharakter. Der Qualtinger, so wird gesagt, mog seine Landsleut net. Er war brilliant. Aber das weiß er selber. Das ‚Urania‘-Theater war ausverkauft. Selten, daß man so viele Leute im Kino sieht. Das Drumherum wird wohl auch gereizt haben, der Touch der weiten Welt. No, is des schlecht? Das Publikum in Biberach ist sich selbst gegenüber ja auch bewußt, die einen erscheinen in Großer Gala, andere tragen anderes. Das ist erfreulich, diese Selbstverständlichkeit. Schließlich hockte man dann noch im ‚Sternchen‘, aber so interessant ist das nicht, und der Klatschkolumnist ist müde und macht einen Punkt.“
Zuvor aber, nachmittags, als das aufgedonnerte Stuttgarter Filmvölkchen, in großen Gesten mit den Armen rudernd, vor der Theke des „Sternchens“ stand, mit einer Hochnäsigkeit, die umgekehrt proportional zur Qualität des Werkes sich darstellte, hatte ich schon im Vorführraum zu tun, bereitete den Film für den Abend vor, und ich sah den berühmten Qualtinger, der alle Anwesenden an Bedeutung turmhoch überragte, still, bescheiden, wie abgesetzt auf einer der roten Bänke des Kinos sitzen, müde, aber eher abwesend, desinteressiert, das Treiben aus kleinen Augen beobachtend; er saß allein auf der Bank, niemand sprach mit ihm, keiner kümmerte sich um ihn.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, dachte ich, „da sitzt der Qualtinger in seinem abgetragenen grauen Anzug wie ein Penner auf der Parkbank, und wie so einer wird er behandelt.“ Kurz zuvor hatte ich im Vorbeigehen gehört, wie einer der Filmleute die Bedienungen – kein anderes Publikum hielt sich zu dieser Stunde vor dem Tresen auf, nur die Filmclique soff Sekt – angewiesen hatte, an „Herrn Qualtinger“ keinen Alkohol auszuschenken, „er hat Alkoholverbot“. Das schien mir typisch für diese Leute zu sein: sie, die keiner kannte, schluckten sich in Stimmung und einer der prägnantesten Künstler Österreichs und der deutschsprachigen Kulturlandschaft, dessen Rezitationen der „Josephine Mutzenbacher“ und des „Herrn Karl“ Höhepunkte der österreichischen Selbstanklage, lange vor Thomas Bernhards witzig-bösen Sarkasmen, sind, bekam nichts; aus medizinischer Sicht mag das gerechtfertigt gewesen sein, mir aber stieß es unangenehm auf. In der Karga hatten wir uns Jahre zuvor im Zimmer von Markus M. die Platten mit Qualtingers Lesung von Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ angehört, nicht nur die „Mutzenbacher“; „mehr Stahl ins Blut!“, ruft einer der Tennis spielenden adligen Müßiggängern den in den Ersten Weltkrieg marschierenden Soldaten zu. Ich beschloß spontan, diesen aufgeblasenen Filmfritzen und -klunten eine kleine Lektion zu erteilen. Ich ging zum Tresen und ließ mir ein großes Glas Bier gaben und trug es, ungeachtet der Filmleute, von denen ich annehmen konnte, daß sie sich nur für sich und ihr Geschwätz interessierten, zu Qualtinger und stellte es wortlos vor ihn hin. Er sah mich aus seinen Äuglein an, ich nickte. Mit einer behutsamen Bewegung griff er nach dem Glas. Ich warf einen Blick zur Theke. Keiner von den Filmleuten sah herüber. Ich verkrümelte mich wieder in den Vorführraum. Durfte Q. sein Bier austrinken? Ich hoffe doch, ich beobachtete die Szenerie nicht weiter. Der Film war, wie vorauszusehen gewesen war, überall in den Kinos ein Flop. Einige Jahre später las ich in einer Zeitung, daß der Regisseur K. sich umgebracht habe. Außer einigen Filmkritikern und -historikern weiß niemand mehr etwas von seinem Film, ich aber habe mich vorhin bei der Lektüre an diese Begebenheit erinnert und meinen alten Zeitungsbericht aus den Akten gekramt.
- Grau, kein Blau, wenn ich aus dem Fenster schau.
28.12.2002
Zuvor aber, nachmittags, als das aufgedonnerte Stuttgarter Filmvölkchen, in großen Gesten mit den Armen rudernd, vor der Theke des „Sternchens“ stand, mit einer Hochnäsigkeit, die umgekehrt proportional zur Qualität des Werkes sich darstellte, hatte ich schon im Vorführraum zu tun, bereitete den Film für den Abend vor, und ich sah den berühmten Qualtinger, der alle Anwesenden an Bedeutung turmhoch überragte, still, bescheiden, wie abgesetzt auf einer der roten Bänke des Kinos sitzen, müde, aber eher abwesend, desinteressiert, das Treiben aus kleinen Augen beobachtend; er saß allein auf der Bank, niemand sprach mit ihm, keiner kümmerte sich um ihn.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, dachte ich, „da sitzt der Qualtinger in seinem abgetragenen grauen Anzug wie ein Penner auf der Parkbank, und wie so einer wird er behandelt.“ Kurz zuvor hatte ich im Vorbeigehen gehört, wie einer der Filmleute die Bedienungen – kein anderes Publikum hielt sich zu dieser Stunde vor dem Tresen auf, nur die Filmclique soff Sekt – angewiesen hatte, an „Herrn Qualtinger“ keinen Alkohol auszuschenken, „er hat Alkoholverbot“. Das schien mir typisch für diese Leute zu sein: sie, die keiner kannte, schluckten sich in Stimmung und einer der prägnantesten Künstler Österreichs und der deutschsprachigen Kulturlandschaft, dessen Rezitationen der „Josephine Mutzenbacher“ und des „Herrn Karl“ Höhepunkte der österreichischen Selbstanklage, lange vor Thomas Bernhards witzig-bösen Sarkasmen, sind, bekam nichts; aus medizinischer Sicht mag das gerechtfertigt gewesen sein, mir aber stieß es unangenehm auf. In der Karga hatten wir uns Jahre zuvor im Zimmer von Markus M. die Platten mit Qualtingers Lesung von Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ angehört, nicht nur die „Mutzenbacher“; „mehr Stahl ins Blut!“, ruft einer der Tennis spielenden adligen Müßiggängern den in den Ersten Weltkrieg marschierenden Soldaten zu. Ich beschloß spontan, diesen aufgeblasenen Filmfritzen und -klunten eine kleine Lektion zu erteilen. Ich ging zum Tresen und ließ mir ein großes Glas Bier gaben und trug es, ungeachtet der Filmleute, von denen ich annehmen konnte, daß sie sich nur für sich und ihr Geschwätz interessierten, zu Qualtinger und stellte es wortlos vor ihn hin. Er sah mich aus seinen Äuglein an, ich nickte. Mit einer behutsamen Bewegung griff er nach dem Glas. Ich warf einen Blick zur Theke. Keiner von den Filmleuten sah herüber. Ich verkrümelte mich wieder in den Vorführraum. Durfte Q. sein Bier austrinken? Ich hoffe doch, ich beobachtete die Szenerie nicht weiter. Der Film war, wie vorauszusehen gewesen war, überall in den Kinos ein Flop. Einige Jahre später las ich in einer Zeitung, daß der Regisseur K. sich umgebracht habe. Außer einigen Filmkritikern und -historikern weiß niemand mehr etwas von seinem Film, ich aber habe mich vorhin bei der Lektüre an diese Begebenheit erinnert und meinen alten Zeitungsbericht aus den Akten gekramt.
- Grau, kein Blau, wenn ich aus dem Fenster schau.
28.12.2002
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