6
Okt

6.10.2002

Am Abend stand ich unter einem Zeltdach eines jener Zelte, dem die Wände fehlen, und las meinen kleinen Vortrag zur Ausstellung, auf vier, fünf Seiten geschrieben, vor; durch die naßkalte Dunkelheit flackerten die Feuer in den offenen, an antike Obelisken erinnernden stählernen Gartenöfen, Funken sprühten, Leute standen vor dem Zelt, ich las meinen Text, einige Gedanken zum Wesen und zur Geschichte des Kults; als solchem. Keines bestimmten. Mich fror, Erkältungskrankheiten kann ich mir nicht leisten, also bat ich Beate, Arndts Frau, um einen Tee im Wohnhaus. Dort saß ich eine Viertelstunde später im Mantel, wie ich es oft halte, schlürfte heißen Tee und Mareen, die hübsche Tochter, und ein junger Mann, von dem ich annahm, daß er ihr Freund sei, saßen dazu. Auch die Tochter ist künstlerisch talentiert. Ich fragte nach dem Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Beate meinte, er verhalte sich prinzipiell ungesellig, und auch sein Outfit sei nicht ganz alltäglich, und wenn man ihn bitte, herunterzukommen, zeige er sich erst recht nicht. Ich vergaß das im Reden, als plötzlich eine Maske in das Wohnzimmer der A.s hereinspähte, dann stand das Geisterwesen, ein Untoter, ein Goth oder Gost, weiß geschminkt in schwarzen Klamotten vor mir: Manuel, der Sohn, ein Anhänger, ganz offensichtlich, der Schwarzen Szene. Ich war amüsiert, ich unterhielt mich mit ihm, lobte ihn für’s ungewöhnliche Auftreten. Bestimmt etwas scheu, versteckte er sich hinter der weißen Schminke. Bald zog er sich wieder zurück. Vor wenigen Minuten hatte ich vom Kult gesprochen, schon erschien mir ein Kultjüngling. Kult ist im Hause Arndt fast Pflicht, möchte man annehmen, steht man vor den mannshohen Skulpturen, die Arndt aus alten Balken und Wurzelwerk produziert, die sofort an Totempfähle, an Geister und Gespenster, an Aliens und andere Welten denken lassen, und an oberschwäbische Gebräuche alter Zeiten. Auch ich ließ mich frühzeitig zum Haus der Doctores nach Warthausen fahren.
28.9. – Manfred S. holt mich an der Bushaltestelle unten an der Straße, an der das neue Rathaus, ein kleiner Bau im üblichen nichtsausdrückenden Neubaustil der Neunziger steht, und auf der man hinauf zur Heggelinstraße kommt, ab; hinter dem verkehrsberuhigenden Rondell, das auf die andere Straße nach Schemmerhofen und die zur am Rand der Schwäbischen Alb liegenden Stadt Ehingen gepflanzt wurde; zunächst stehe ich aber ein bißchen im frischen, doch sonnigen Vormittag herum, warte, über den ununterbrochenen Verkehr von links und rechts, von oben nach unten bin ich erstaunt. Ich sehe Manfreds kleines weißes Auto, er fährt den Bogen um den Straßenkreisel und auf der Straße nach Ehingen weiter. Er hat mich, der ich neben der Bushaltestelle stehe, nicht gesehen. Wo will er hin? (Vor einer halben Stunde habe ich ihn mit dem Handy angerufen, weil ich keine Lust gehabt habe, noch länger auf den Bus zu warten.) Ich warte jetzt also darauf, daß er einsieht, daß ich so weit entfernt von der alten Malzfabrik, in deren Nähe ich stehe, wie ich ihm mitgeteilt habe, nur eben ihr gegenüber, nicht stehen kann; und es dauert auch nicht lange, bis sein Auto wieder, jetzt von links, sich dem Rondell nähert. Manfred kehrt, wie ich beobachte, auf einem Parkplatz dort vorn an der Straße, die neben dem ehemaligen „Wurzelmax“-Gebäude und am Bahnhof vorbei auf die B 12 zuführt, um, fährt zurück, und ich bin schon ihm entgegengegangen und winke ihm mit einer kurzen Arm- und Handbewegung, und endlich nimmt der Freund mich wahr und fährt an den Straßenrand, außerhalb des Kreisels, heran, hält. „Wo willst du hin?“, frage ich. „Du Sack, warum stehst du nicht da, wo du stehen solltest?“, gibt er zurück. Ich steige ein und lasse das auf sich beruhen. Wir fahren zu Arndt. M. besichtigt die Ausstellung, kühler Wind bläst durch den schönen Tag, wir lassen uns zu einem Kaffee im Wohnzimmer einladen. Noch in der Küche stehend bemerke ich an der Wand etliche kleinformatige Bilder, lobe eines, das in gelungener quasiimpressionistischer Manier, mit abstraktem Motiv aber, gemalt wurde, und Beate sagt, dieses Bild sei eines von Manuel aus dessen Kinderjahren. „Söhnchen hat Besuch und frühstückt oben“, fügt sie hinzu und nimmt ein Tablett, auf dem zwei Kaffeetassen, Milch, Zucker, etwas Eßbares, sich befinden, in die Hände. Wir ziehen ins Wohnzimmer, dort wird uns das beliebte Heißgetränk serviert. M. und ich fahren nach einer halben Stunde ab, er chauffiert in Biberach hinauf zum Weingartenberg, fährt über einen Weg hinter den Häusern, hält vor einer Wiese an. Wir schlendern über den angedeuteten Feldweg zur Böschung, zum Steilhang, der von einem Maschendraht abgegrenzt wird, hinter dem Unkraut und Büsche wuchern; den Hang hinab. „Scheiße, man kommt nicht richtig ran“, sagt M., „damals stand der Zaun dicht vor dem Abgrund.“ Mit damals meint er die frühen Achtziger, als er oft mit seinem großen schwarzen Hund Musculus durch die Umgebung der Stadt streifte; jahrelang hatte er keinen Job, wollte keinen haben, lebte von Sozialhilfe. Längst hat er als Industriemeister mehr Geld zur Verfügung als ich. Wir schauen hinunter auf das Kieswerk, das unten in der hellbraun-weißlichen großen Ausbuchtung des Hangs mit seinen Gebäuden, Förderanlagen, Baggern etwas spielzeughaft aussieht. Und hinüber zur anderen Seite des Tals; „dort oben das Hölzle, am Fernsehmast“, sagt M., doch ich bestreite den Standort und meine, das Hölzle, in dem ich als Zwölf- und Dreizehnjähriger einen Teil der Sommerferien tagsüber verbracht hatte, wie viele Kinder und jüngere Jugendliche in den Sechzigern, und noch in den Sommern der gegenwärtigen Jahre bietet diese baumumstandene Bucht oben an jenem Hang eine preiswerte Sommerfrische, sei rechts daneben, eben an der erhöhten bewaldeten kleinen Kuppe zu erkennen. Das sei falsch, behauptet M., schließlich habe er auch dort oben, in Bergerhausen, gewohnt, für einige Zeit. Bergerhausen ist ein Dorf östlich auf der Anhöhe und gehört zur Stadt B.a.d.R.; früher, als ich jeden Morgen in einem Bus gestanden hatte, der Kinder vom Stadtteil Weißes Bild/Gaisental aufgesammelt und hinauf zum Hölzle gefahren und sie abends in ihre Straßen zurückgebracht hatte, (immer war er rappelvoll mit lärmendem Jungvolk gewesen), hatte dieser Ort noch eine eigene Verwaltung gehabt. Das Hölzle ...
... ist eine von Kiefern, Fichten, Lärchen, Tannen, Laubbäumen umkränzte Mulde, und in ihr breiten ebenfalls Baumkronen ihre schattenwerfenden Schirme aus; ein Ort, in dem Kinder für einen moderaten Betrag, den die Eltern zahlen, Spiel, Spaß, Spannung hatten und vermutlich haben. Auf Schnitzeljagden, die einen ganzen Tag währten, durchkämmten wir die Wälder, deren Säume überall standen; schlichen im Hölzle in geheimnisvollen Räuber- und Gendarmspielen durchs Unterholz; vergnügten uns am Eishockeyspiel, das in einem Holzkasten stattfand, in dem die Blechfiguren den schwarzen Puck hin- und herstießen, -schoben, -schleuderten – das war ein Gedribbel, Gefummel und Zielen und Stoßen an den dünnen Metallstangen, mit denen die Blechkameraden bewegt wurden! Dies war auch die einzige sportliche Betätigung, natürlich, die ich dort gern vollbrachte, und ich darf mir schmeicheln, auch darin ein kleiner Meister gewesen zu sein. Tee aus voluminösen Metallbehältern gab’s gegen den Durst, der sich im Hochsommer bald verläßlich bemerkbar machte; die Betreuerinnen füllten die Kübel nach, die von Wespen umschwirrt vor einem Häuschen standen. Am frühen Nachmittag hieß es, die Ruhestunde tunlichst einzuhalten. In einem rechteckigen Zelt waren Reihen von olivgrünen Feldlagerpritschen aufgestellt und auch draußen in der Mulde, zwischen Bäumen und Büschen, lagerten wir, vom Spiel von Sonnenlicht und Schatten umgaukelt. Nach drei Wochen war die gebuchte Zeit abgelaufen, ich blieb den Rest der Ferien zu Hause ...
... M. fährt am Lindelestraßenhaus vorüber und hält für einige Minuten, ich zeige ihm am Original, nicht an einer Fotografie, wo mein Zimmer und das Wohnzimmer gewesen waren. „Die Veranda an der Nordseite stand noch nicht, dort befand sich das Blechdach der Verlängerung der unteren Küche, aus dem Nordfenster unserer Küche machten sie offenkundig eine Tür.“ Wir fahren durch die Gartenstraße zur Birkenharder Straße, an der Nordseite eines der Gebäude der „Brauerei Zum Biber“, in der Weberberggasse, parkt M, nur ein paar Schritt von seiner Wohnung entfernt.
Um 15 Uhr hocke ich hinter einer Tasse Kaffee im „Vienna“ an der großen Kirche und warte auf Matthias D., wir wollen miteinander plaudern. Er war in den Neunzigern einer der Kursteilnehmer in der Literaturwerkstatt, die ich in der Jugendkunstschule ab dem Herbst 1993 am Ort für fünf Jahre betrieb. Er blieb die ganzen fünf Jahre dabei. Nun, als er hereinkommt, ist er ein gut aussehender Achtzehnjähriger mit einer dunkelblonden Rasta-Mähne, er trägt eine schmale Brille im sensiblen Gesicht. Wir mailen uns ab und zu. Auch war er zweimal zu Besuch in Berlin, nächtigte auf der schmalen Iso-Matraze in meiner Ein-Zimmer-Wohnung, beim zweiten Mal, vor einem Jahr, brachte er einen Freund mit, der streckte sich nach dem Stadtbummel auf der Coach aus. Eine Woche lang erkundeten sie Berlin. Er nimmt Platz, bestellt sich ein Getränk. Felix komme auch noch, sagt er. Felix las mit zwölf Jahren T.C. Boyle, das war seine Eintrittskarte in den Jugendlichen-Kurs meiner Literaturwerkstatt. Bis er kommt, reden Matthias und ich über den Deutsch-LK, in der er und Felix sich zur Zeit mit Kafka befassen. Vor wenigen Tagen hat er sich das Taschenbuch mit Materialien zum Werk und zum Leben des Pragers aus der „Insel“-Buchhandlung geholt; ich habe dort vor Tagen angerufen, aus Berlin, und gesagt, M.D. könne auf meine Rechnung dies Büchlein mitnehmen. Felix kommt, wir unterhalten uns übers Lesen und Schreiben. Ich rede von meiner Unlust, die ich gelegentlich habe, wenn ich diesen Text hier täglich schreiben soll und setze hinzu, vielleicht um mich ein wenig aufzuwerten, ein Schriftsteller habe einmal gesagt, oder geschrieben, einem Schriftsteller, der diese Bezeichnung verdiene, falle das Schreiben schwer. Ich rede davon, daß ich fast immer, wenn es ans Schreiben von Deutschaufsätzen ging, der letzte gewesen sei, der mit dem Formulieren begonnen habe. Wir sprechen also zwei Stunden über Literatur, nicht nur von Kafka, auch von Döblin, vom Roman, dessen Figuren um den Alexanderplatz in Berlin herum handeln und Matthias hat ja die Schauplätze des Buches während seiner Aufenthalte in der großen Stadt schon gesehen, ist durch die Straßen gegangen, über die Franz Biberkopf – die Biberacher nennen sich übrigens gern „Biber“ – 1929 schlich. Dann müssen die Jungs gehen, auch ich verlasse das Café, wechsle in ein anderes. Abends besuche ich Thomas G., Ali (Dr. A ...) trifft mit seiner weiblichen Begleitung ein, wir verquatschen den Abend, quasseln über das Biberach in den alten Zeiten (so alt sind wir inzwischen schon ...), womit wir die siebziger und achtziger Jahre meinen, und ich auch über das Berlin von heute. Mit Ali ergibt sich zum Schluß, zu fast mitternächtlicher Stunde, noch ein Dialog über Kosmologie, was ich immer unterhaltsam finde. Auch das ist dann besprochen und Thomas fährt mich nach Warthausen.
- Trüb, regnerisch, herbstlich kühl.
6.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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